Heinz Bude: Solidarität – die Zukunft einer großen Idee
Hanser Verlag, München 2019
176 Seiten, 19 Euro
Solidarität ist keine Einbahnstraße
07:30 Minuten
Der Neoliberalismus hat wenig Gutes bewirkt - was kommt jetzt? Ein neuer Begriff von Solidarität, sagt der Soziologe Heinz Bude. In seinem neuen Buch führt er aus, wie wir alle davon profitieren können.
Der Kasseler Soziologe Heinz Bude will den Begriff Solidarität wieder in die gesellschaftspolitische Debatte einspeisen und ihm zu neuer Popularität verhelfen. Sein neues Buch heißt deswegen auch "Solidarität – die Zukunft einer großen Idee". Bude sieht mit Sorge, dass sich derzeit vor allem rechtsorientierte politische Gruppierungen das Prinzip der Solidarität zunutze machen - die Linke stehe dem relativ hilflos gegenüber, sagte er im Deutschlandfunk Kultur.
Das Interview im Wortlaut:
Stephan Karkowsky: Der Kasseler Soziologe Heinz Bude regt uns alle paar Jahre zum Nachdenken an über große Ideen: Bildung, Gerechtigkeit, Stimmungen, Angst, Resonanz. All diese Schlagwörter hat er bereits in klugen Büchern analysiert. Sein neues Buch nimmt sich der Solidarität an, es erscheint heute.
Vorwärts und nicht vergessen, beim Hungern und beim Essen, die Solidarität – das dichtete Bertolt Brecht. Wollte der uns damit eigentlich sagen, egal, ob du Geld hast oder nicht, denk bitte auch an die anderen?
Bude: Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Für Brecht war klar, das ist entstanden in der Endphase der Weimarer Republik, er hat noch mal appelliert an eine gemeinsame Erfahrung der Gruppe, von der er glaubte, dass ihr die Zukunft gehörte, das ist die Arbeiterklasse.
Für Brecht war klar, und das ist ein sehr wichtiger Punkt auch für heute, dass die gemeinsame Erfahrung von Ausbeutung und Unterdrückung der Kern der Solidarität ist.
Solidarität für Brecht ist eine Kampfsolidarität, die eine Gruppe zusammenschließt, die die Macht wieder an sich reißen will. Oder, wie wir heute in der Sprache unserer heutigen Zeit sagen würden, das sind die Leute, die das Gefühl haben, wir wollen wieder die Kontrolle über die Gesellschaft zurück gewinnen und wir wollen das in einem Modus des Kampfes tun.
Karkowsky: Nun ist das lange her. Warum heute ein Buch über Solidarität, das ist ja doch ein leicht verstaubt klingendes Konzept.
Bude: Genau. Mir war sehr wichtig, dass wir in allen westlichen Gesellschaften heute eigentlich die Grundstimmung, die Grundauffassung haben, dass wir am Ende einer langen Periode stehen, die möglicherweise mit Margareth Thatcher und Ronald Reagan angefangen hat und mit so Leuten wie Gerhard Schröder und in gewisser Weise auch Angela Merkel aufgehört hat. Und diese Phase kann man als Neoliberalismus kennzeichnen, und die hatte eine Grundüberzeugung, die heißt, dass eine gute Gesellschaft eine Gesellschaft starker Einzelner ist.
Der Einzelne ist der Bezugspunkt, auch von Politik, wir wollen die Möglichkeiten der Einzelnen stärken, etwa durch Bildung, aber auch durch soziale Rechte. Aber es geht immer darum, vom Einzelnen her zu denken.
Ich glaube, wir haben in allen Gesellschaften heute eine Stimmung der Enttäuschung über diese Idee, weil die Leute sagen, was hat uns das eigentlich alles gebracht? Das hat uns mehr Ungleichheit gebracht, es hat uns möglicherweise sogar mehr soziale Spaltung gebracht. Was um Himmels willen war gut daran?
Man sucht jetzt wieder nach Begriffen, nach Orientierung, auch nach einer Politik, die nicht vom Einzelnen, nicht vom Individuum ausgeht, sondern von einem Wir ausgeht, von etwas, ja, einem Raum der Solidarität.
Keine Grundlage für herablassendes Mitleid
Karkowsky: Aber ist Solidarität davon wirklich so weit entfernt, denn auch sie bezieht sich ja selten auf das Gemeinwesen, sondern vermutlich doch eher auf die Ausgegrenzten, die Schwachen, die Verlierer, die Minderheiten, die brauchen unsere Solidarität dringender, als die satten Mehrheiten, oder?
Bude: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich möchte gerne einen Solidaritätsbegriff begründen in diesem Buch, der nicht ein Einbahnstraßen-Solidaritätsbegriff ist und auch vor allen Dingen keine Grundlage für herablassendes Mitleid ist. Es geht mir nicht darum, zu sagen, oh Gott, wir müssen jetzt an die armen Ausgegrenzten denken.
Ganz wichtig für den Begriff der Solidarität – übrigens auch bei Brecht – war die Idee des Teilens, der Gemeinsamkeit. Die Idee ist, was schulden wir einander, und nicht nur, was schulden wir anderen. Das ist sehr, sehr wichtig, weil das überhaupt erst den Raum dafür schafft, ein Gefühl zu haben, dass wir zusammen aus einer Welt herauskommen können, von der viele glauben, dass sie uns eher Unglück und Ungleichheit und Ungerechtigkeit gebracht hat.
Die Mitte zurückgewinnen
Karkowsky: Aber könnte diese Idee dieses "Was schulden wir einander und nicht den anderen" nicht auch missbraucht werden von Nationalisten zum Beispiel?
Bude: Genau das ist der Punkt. Das hat mich vor allem interessiert, dass der Begriff der Solidarität, das Empfinden von Solidarität eigentlich in allen Gesellschaften im Augenblick unserer Art von eher rechtsorientierten politischen Gruppierungen abgegriffen wird. Und die Linke, wenn ich das mal so sagen darf, dem relativ hilflos gegenübersteht und mehr oder weniger eher nur einen Liberalismus des schlechten Gewissens repräsentieren kann. Und das ist das Problem.
Ich bin der Überzeugung, dass eine Politikidee, die auch die Mitte wieder gewinnt, die die Gesellschaft insgesamt in den Blick nimmt, von einer anspruchsvolleren Idee der Solidarität ausgehen sollte. Und um auch diesen rechten Zugriffen, etwas affektiv und emotional Herausforderndes entgegensetzen kann. Also, im Grunde bin ich für eine Neubesetzung einer Auseinandersetzung auch in der Gesellschaft mit einem Begriff, der eigentlich alle umgreifen kann.
Da bleibt eine Lücke
Karkowsky: Sie fragen im Buch ja auch, welche Akteure überhaupt solidarisch sein sollten, und schreiben dann sinngemäß, der Staat muss in erster Linie für Gerechtigkeit sorgen, die Zivilgesellschaft aber darf solidarisch sein. Wie ist das gemeint?
Bude: Natürlich ist klar, dass der Wohlfahrtsstaat von Gerechtigkeitsprinzipien ausgehen muss. Das heißt, es muss Überlegungen darüber geben, was bestimmten Leuten, was einem zusteht. Und Gerechtigkeit sagt, ich gebe dir das, der Wohlfahrtsstaat sorgt dafür, das, was dir zusteht, aber auch nicht für mehr. Und da bleibt eine Lücke, das ist ganz, ganz wichtig für den Begriff der Solidarität.
Wenn Sie solidarisch zu jemandem sind, fragen Sie nicht, was steht dir zu, sondern was brauchst du? Sie fragen nicht, wozu bin ich verpflichtet, etwas zu geben, sondern was können wir miteinander teilen.
Ich frage auch nicht, wie können wir dich wieder ins Boot holen, sondern: Wie können wir gemeinsam das Boot voranbringen? Und das ist sehr wichtig. Ich glaube, dass auch eine moderne Gesellschaft, die von einem durchgearbeiteten Wohlfahrtsstaat ausgehen kann, auf diese Dimension der Solidarität nicht verzichten kann, im Gegenteil, ich glaube, sie wird noch wichtiger in der Zukunft werden, weil natürlich auch die Vergabe sozialer Rechte eine Kostenseite hat.
Atmosphäre des Trittbrettfahrertums
Die Leute müssen auch solidarisch bereit sein, etwa in der Form von Steuern oder Abgaben, für die Kosten der Vergabe sozialer Rechte im Wohlfahrtsstaat aufkommen, und wenn wir sehen, dass Solidarität schwindet, und das hatten wir lange Zeit, dann gibt es so eine Atmosphäre des Trittbrettfahrertums. Und dann sagt man, das ist aufgezwungen, und es gibt nicht die Bereitschaft, diesen Wohlfahrtsstaat auch zu finanzieren, in Solidarität, der auf Gerechtigkeitsprinzipien beruht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.