Schmerzpunkte im israelischen und deutschen Bewusstsein erforschen
Moshe Zuckermann hat seinen kritischen Verstand von Jugend an trainiert. Schon als Gymnasiast in Frankfurt am Main entdeckte der in Tel Aviv geborene Soziologe und Historiker "seinen Adorno". Bis heute wird er nicht müde, alles in Frage zu stellen.
"Ich bin in einem Slum aufgewachsen" sagt der Historiker und Soziologe Moshe Zuckermann. Ein Jahr nach der Staatsgründung Israels wurde er als Sohn polnischer Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz in Tel Aviv geboren. Und solange seine Eltern keine Wiedergutmachung bekamen, war die Familie bitterarm. Die Familiensprache war Jiddisch und bis heute ist Moshe Zuckermann dankbar, dass der Holocaust in seiner Familie nicht verschwiegen wurde. "Bei uns zu Hause, im Gegensatz zu sehr, sehr vielen anderen Familien in dieser Zeit wurde gesprochen, wofür ich meinen Eltern bis zum heutigen Tag dankbar bin, weil es befreiend war".
Als er zehn Jahre alt war, zogen seine Eltern mit ihm und seiner Schwester nach Frankfurt am Main. Seine Eltern waren alles andere als glücklich darüber, aber die wirtschaftliche Situation ließ ihnen keine Wahl. Dass Holocaust-Überlebende in dieser Zeit nach Deutschland zurück gingen, war sehr ungewöhnlich. "Für meine Eltern und auch für meine Generation war immer klar, dass man auf den Koffern sitzt und dass Deutschland nicht das Zukunftsland sein kann."
Schmerzpunkte im israelischen Bewusstsein
Moshe Zuckermann besuchte in Frankfurt ein humanistisches Gymnasium und beschäftigte sich intensiv mit Musik und Malerei. "Meine große Lebensleidenschaft war die Kunst. Ich glaube das ist das, was ich am besten kann". Er interessierte sich immer auch für die Geisteswissenschaften, beschäftigte sich mit Musiktheorie, las begeistert unter anderem Texte von Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer. Vom Zionismus bewegt, kehrte er schließlich mit 20 Jahren nach Tel Aviv zurück. Er kam mit großen Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung Israels. "Die Zionisten war humanistisch ausgerichtet. Ich bin im Gegensatz zu vielen Juden nicht religiös ausgerichtet. Ich habe mich immer am Menschen orientiert. Darum auch später die Soziologie, die Psychologie, die Philosophie." Nach seinem Studium ging er als Soziologe ausgerechnet zur Luftwaffe, wo er die Kommunikation der Mitarbeiter untereinander beobachten sollte, bevor er schließlich an die Universität wechselte.
Der heute fast 70-jährige Intellektuelle erforscht immer aufs Neue Schmerzpunkte im israelischen und deutschen kollektiven Bewusstsein. Er organisierte die erste internationale wissenschaftliche Konferenz zu Richard Wagner in Israel, veröffentlichte unter dem Titel "Wider den Zeitgeist" Aufsätze und Gespräche über Juden, Deutsche, den Nahostkonflikt und Antisemitismus und identifizierte den Antisemitismus-Vorwurf als Herrschaftsinstrument.
Sohn Holocaust-Überlebender ein Antisemit?
Jetzt ist sein Buch "Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit" erschienen, für das er derzeit hart angegriffen wird. Das geht so weit, dass dem Sohn von Holocaust-Überlebenden Antisemitismus vorgeworfen wird; unter anderem, weil er einerseits die Politik seines Landes schonungslos kritisiert, aber auch den Umgang der Deutschen mit dem Antisemitismus sehr kritisch ins Visier nimmt. Dabei betont er, dass der Antisemitismus "soweit es ihn in Deutschland als Bodensatz gibt, natürlich bekämpft gehört, genauso wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie". Es gehe ihm vielmehr um die "manipulative Verwendung des Vorwurfs des Antisemitismus an Menschen die nicht antisemitisch sind, die aber als solche ausgegrenzt werden zu fremden Zwecken, die gar nichts mit dem Holocaust zu tun haben - und das hat sich in Deutschland in einer Art und Weise etabliert." Das mache ihm große Sorgen, "nicht nur aus der persönlichen Erfahrung, sondern weil ich meine, dass mit diesem Phänomen im Grunde alles unterwandert ist, was eine Gedenkkultur zu sein hätte".
Sein Hauptanliegen sei es zu differenzieren. So seien Juden, Israel und Zionismus drei Paar Schuhe und Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik ebenfalls. "Und das aus einem ganz einfachen Grund, weil nicht alle Juden Zionisten sind. Nicht alle Zionisten Israelis sind und nicht alle Israelis Juden sind."
"Mittlerweile ist die AFD israelfreundlich und judenfreundlich"
Auf der Suche nach Orten für seine Lesungen seien 80 "Raumverbote" gegen ihn ausgesprochen worden, erzählt der Sohn von Holocaust-Überlebenden. Das treffe ihn sehr, sagt Zuckermann - und ergänzt: "Dass mittlerweile Raumverbote ausgesprochen werden, sollte den Deutschen was zu denken geben wie sie sich mit der Vergangenheit auseinander setzen".
Auf die Frage, ob er als scharfer Kritiker seines Landes nicht fürchte, "Beifall von der falschen Seite zu bekommen", sagte er "Im Gespräch": "Es gibt keine falsche Seite mehr, denn mittlerweile ist die AfD israelfreundlich und judenfreundlich geworden. Und wenn ich von dieser Seite nicht mehr kriege, was ich früher von der NPD noch bekommen habe, dann haben sich die Koordinaten von Grund auf verschoben."
Sein Zorn, der sich nicht nur in seinen Büchern Bahn bricht, gründet in seiner tiefen Enttäuschung über das Scheitern seiner Idee vom Zionismus. Doch ganz und gar ist seine Hoffnung auf einen friedlichen Staat Israel noch nicht gestorben: "Für mich wäre die Kohabitation zwischen Juden und Arabern wie es sie in Haifa gibt, die Möglichkeit zu denken, dass sich alles nochmals zum Besseren wendet."