Soziologe Neckel: Finanzkrise beruht nicht auf schlechtem Charakter Einzelner

Sighard Neckel im Gespräch mit André Hatting |
Es seien nicht gierige Banker oder gierige Anleger als Individuen, die die Finanzkrise verursacht hätten, glaubt der Soziologe Sighard Neckel vom Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse an der Uni Frankfurt am Main. Vielmehr beruhe das gesamte moderne Finanzwesen auf der endlosen Steigerung von Renditen als Selbstzweck.
André Hatting: "Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles." Das Goethe-Zitat passt hier doppelt, denn erstens, weil ich gleich über Gold beziehungsweise Geld sprechen möchte, und zweitens, weil mein Gesprächspartner Professor in Frankfurt am Main ist, also der Geburtsstadt Goethes. Und die nach ihm benannte Universität kennt in der aktuellen Ausgabe ihres Wissenschaftsmagazins "Forschung Frankfurt" nur ein Thema: das Geld. Einer der Autoren darin ist der Soziologe Sighard Neckel. Guten Morgen, Herr Neckel!

Sighard Neckel: Guten Morgen, Herr Hatting.

Hatting: Das Thema passt natürlich auch wunderbar in die Wirtschaftskrise, die ja schon seit einigen Jahren anhält, und da glauben ja viele, dass Schuld daran vor allem die Geldgier der Anleger habe. Sie glauben das nicht. Warum?

Neckel: Ja. Es ist so, dass es zwei Meinungen gibt zur Finanzkrise seit 2008. Die eine Meinung ist die, es liegt an der Gier der Banker und an der Gier der Anleger, und die andere Meinung, das habe mit der Gier überhaupt nichts zu tun. Und beide Antworten haben mich eigentlich wenig befriedigt. Ich glaube in der Tat, dass es mit der Gier insofern nichts zu tun hat, als wir die Finanzkrise nicht zurückführen können auf die schlechten Charaktereigenschaften einzelner Individuen. Und auf der anderen Seite wird mit dem häufigen Verweis auf Gier etwas angesprochen, was sich tatsächlich im Geschäftsmodell heutiger Banken wiederfindet, nämlich die endlose Steigerung von Renditen als Selbstzweck, und das ist etwas, was an die Gefühlsstruktur der Gier appelliert und erinnert, und deshalb macht es Sinn, sich mit der Analyse der Gier dem modernen Finanzwesen zu nähern.

Hatting: Wenn ich Sie richtig verstehe, ist diese Gier aber eben nicht eine Charaktereigenschaft, die sozusagen im Menschen immanent wäre, sondern sie ist strukturell bedingt, und zwar in der Struktur des Finanzmarktkapitalismus?

Neckel: Das ist richtig. Das ist meine These und das habe ich versucht, nachzuweisen. Das hat einfach damit was zu tun: Banken sind ja sehr nützliche wirtschaftliche Einrichtungen, die vor allen Dingen auch darin ihren Sinn haben, dass sie Investitionen ermöglichen sollen. Das heißt, dass wirtschaftliche Ziele über den Einsatz von Kapital eben realisiert werden sollen. Dieses Prinzip der Kreditfinanzierung, der Unternehmensfinanzierung, das Prinzip der Ermöglichung von Investitionen, ist durch die Dominanz des Investmentbankings abgelöst worden, hin zu einem Geschäftsmodell der Wette, wo man am besten mit Finanzprodukten handelt, die man gar nicht besitzt und auch gar nicht geliehen hat und wo es nur darum geht, die Steigerungsraten von gestern am heutigen Tag und morgen wieder zu überbieten. Das ist der Grund, warum auch die Habgier, warum die Erwerbsgier, wenn man so will, warum der Antrieb nach mehr kein Objekt mehr findet, wo tatsächlich durch eine bestimmte Realisierung eines wirtschaftlichen Zieles sich diese Erwerbsgier auch befriedigen kann.

Hatting: Sie forschen ja schon länger über das Thema Geldgier und Geldadel. Sie stellen zum Beispiel die Frage, ob Gier die Basis unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zerstört. Wie lautet Ihre Antwort?

Neckel: Sicher. Es gehört gewissermaßen zum normativen Versprechen unserer Wirtschaftsordnung, dass am wirtschaftlichen Vorteil einzelner, der für sich gesehen völlig gerechtfertigt ist und legitim ist, dass am wirtschaftlichen Vorteil einzelner auch die Allgemeinheit partizipiert, auch die Allgemeinheit davon einen Vorteil hat. Wir sehen aber heute im Finanzwesen, dass wirtschaftliche Vorteile mitunter direkt durch die Nachteile der Allgemeinheit entstehen, wenn etwa Unternehmen verkauft, aufgekauft, verteilt werden, nur damit aus solchen Transaktionen wiederum Renditen entstehen, oder wenn es so ist, dass für den wirtschaftlichen Vorteil und auch für das Scheitern des wirtschaftlichen Vorteils einzelner dann die Gemeinschaft der Steuerzahler in die Haftung genommen wird. Dann ist es so, dass diese Geschäftsmodelle heute schädlich für den gesellschaftlichen Zusammenhang und schädlich auch für die Ökonomie sind.

Hatting: Demnach würde auch die konservative Kritik an dem Gierbegriff, der ja immer mit dem Verweis auf eine Neiddebatte geführt wird, diese Kritik würde Ihrer Meinung nach auch ins Leere gehen?

Neckel: Ja, mit der Neiddebatte verhält es sich ähnlich, wie ich das mit der Gier gekennzeichnet habe. Auch hier wird versucht, einen sozialen Sachverhalt, nämlich Einkommensunterschiede und Ungleichheitsrelationen auf die schlechten Charaktereigenschaften einzelner Menschen zu beziehen. Das führt uns nicht weiter, das führt in der Regel dazu, dass über die Neiddebatte sich Bessergestellte von Ansprüchen sozusagen befreien wollen. Das ist aber nicht die Perspektive, die man politisch einnehmen sollte und wissenschaftlich schon gar nicht.

Hatting: Der Frankfurter Soziologe Sighard Neckel über Gier und Kapitalismus als einander bedingende Faktoren. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Neckel.

Neckel: Gerne.

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