Soziologe Reckwitz zu den US-Midterms
Rund um die US-amerikanischen Zwischenwahlen kommen Amerikas Schattenseiten in den Blick: Unterkunft eines Obdachlosen im wohlhabenden Stadtteil Venice von Los Angeles. © imago images / ZUMA Wire / Brian Cahn
Wie Amerika die Zukunft abhandenkommt
07:55 Minuten
Verlustängste prägen die Stimmung vor den Zwischenwahlen in den USA, beobachtet der Soziologe Andreas Reckwitz. In beiden großen politischen Lagern schwinde der Zukunftsoptimismus, zudem sei das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie brüchig.
Im Umfeld der Zwischenwahlen in den USA nimmt der Soziologe Andreas Reckwitz "eine sehr unbehagliche und unsichere Stimmung" wahr. Reckwitz, Professor an der Humboldt-Universität Berlin und derzeit Fellow im Thomas-Mann-Haus in Los Angeles, beobachtet, dass das Vertrauen der Bevölkerung in demokratische Institutionen bröckelt.
Viele seiner amerikanischen Kolleginnen und Kollegen befürchteten, dass das Land nach der kommenden Präsidentschaftswahl in zwei Jahren in eine "veritable Verfassungskrise" geraten könnte, so Reckwitz.
Joe Bidens dramatischer Appell
Hat Präsident Joe Biden also nicht übertrieben, als er das Wahlvolk im Vorfeld der Midterms dazu aufrief, durch Stimmen für die Demokratische Partei die Demokratie in den USA insgesamt zu retten?
Bidens Appell wirke dramatisch, sagt Reckwitz, aber die Sorge, die darin zum Ausdruck komme, sei durchaus ernst zu nehmen. Es stehe infrage, ob die Republikaner sich im Zweifelsfall an geltende Regeln halten: "Man muss die Befürchtung haben, dass sie es nicht tun: Wenn sie verlieren, bezweifeln sie das Wahlergebnis, wenn sie gewinnen, dann nutzen sie das dafür, um Regeln einzusetzen, die das Wahlsystem unfairer machen." Egal, wie es ausgeht, das Ergebnis könnte das demokratische System als solches verunsichern, meint Reckwitz.
Verlorener Optimismus
Im Wahlkampf für die Midterms sah Reckwitz kaum mehr eine Spur von dem Zukunfts- und Fortschrittsoptimismus, den Barack Obama noch auf die Formel brachte: "The Best Is Yet to Come". Statt positiver Ausblicke beherrschten Verlustängste den öffentlichen Diskurs, sagt Reckwitz, und zwar über das gesamte politische Spektrum hinweg.
Im rechten Lager trauere man dem "guten alten Amerika" der 1950er- und 60er-Jahre nach. Auf der Linken habe zum Beispiel das Urteil des Supreme Courts zum Abtreibungsrecht zu der Sorge geführt, dass lange Zeit für selbstverständlich gehaltene Bürgerrechtsstandards bald der Vergangenheit angehören könnten.
Große Lücken im sozialen Netz
Auch die Themen des Wahlkampfs spiegelten diese "Erosion der positiven Zukunftserwartungen" wider, so Reckwitz: Obdachlosigkeit sei dabei für viele Menschen das Thema Nummer eins. Das Problem betreffe große Städte im ganzen Land. Selbst in den wohlhabenden Vierteln von Los Angeles sei es allgegenwärtig und führe die Schwächen des sozialen Netzes nur allzu deutlich vor Augen.
"Das führt auch dazu, dass der öffentliche Raum in vieler Hinsicht unwirtlicher wird und die Menschen sich noch mehr in ihre Häuser und Autos zurückziehen", sagt Reckwitz. Für manche Arme falle das in eins: "Es gibt auch versteckte Obdachlosigkeit, also Menschen, die in ihren Autos wohnen."