Soziologe Stefan Selke fordert eine "armutsfeste Mindestsicherung"
Motivationen zur Selbsthilfe statt eines "Almosensystems" empfiehlt der Soziologe Stefan Selke, Professor an der Hochschule Furtwangen. Er kritisiert damit das System der sogenannten "Tafeln", die sich vor allem mit kostenlosen Mahlzeiten an Arme und Bedürftige wenden. Die notwendige Hilfe bei sozialen Problemen werde hier verkitscht.
Jan-Christoph Kitzler: Das ist keine Erfolgsgeschichte, sondern eher der Beweis dafür, dass es immer mehr Misserfolg gibt in Deutschland. Immer mehr Menschen hierzulande decken sich regelmäßig bei den sogenannten Tafeln mit Lebensmitteln ein. Fast 900 gibt es davon, 1,5 Millionen Bürger waren in den vergangenen zwölf Monaten regelmäßig zu Gast bei einer der fast 900 Tafeln, deutlich mehr als im Vorjahr. Die Tafeln, wo es die Lebensmittel umsonst gibt oder für einen kleinen Obolus, sind längst Teil der Wirklichkeit armer Menschen in Deutschland, sie sind aber auch zu einem Politikum geworden. Das wird man ab heute im thüringischen Suhl sehen beim Treffen des Bundesverbandes Deutsche Tafel. Da wird dann auch wieder darüber gesprochen, warum eigentlich so viele Menschen zu den Tafeln gehen und ob das so sein muss. Darüber spreche ich jetzt mit Professor Selke, er ist Professor für Soziologie an der Hochschule Furtwangen, schönen guten Morgen!
Stefan Selke: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Kitzler: Der Bundesverband Deutsche Tafel sagt, dass so viele Menschen zur Tafel gehen, ist ein Beispiel dafür, dass die Sozialpolitik der vergangenen Jahre weitgehend gescheitert ist. Sehen Sie das auch so?
Selke: Ich würde sagen, das ist einer der Gründe. Der zweite Grund ist der, dass Tafeln es geschafft haben, sich sehr sichtbar zu machen als ein privates Almosensystem. Und da liegt auch gleichzeitig das Problem, dass einerseits die nachhaltige Armutsbekämpfung tatsächlich fehlt der Regierung, da bin ich d’accord mit den Tafeln, aber andererseits die Tafeln auch nicht wirklich helfen. Das ist keine Hilfe mit Weitsicht, weil sie das Gefühl erwecken, dass sie allein schon die Lösung seien, aber das eben nicht wirklich auch Dauer hilft.
Kitzler: Das heißt, für Sie sind die Tafeln keine Lösung des Problems, sondern selber ein Teil des Problems?
Selke: Sie haben ja jetzt zeitgleich den Rio-plus-20-Gipfel und da geht es um das Thema Nachhaltigkeit weltweit. Und Nachhaltigkeit hat ja auch eine soziale Komponente, das heißt, die Frage nach zukunftsverträglicher Entwicklung, nach sozialer Gerechtigkeit. Und wenn man sich die Frage so stellt, dann ist allein die Tatsache, dass es seit fast 20 Jahren Tafeln gibt, eben ein Anzeichen dafür, und zwar ein ganz objektives, dass es keine zukunftsverträgliche Entwicklung gibt, weil sich scheinbar nichts wirklich geändert hat.
Kitzler: Was ist denn das Problem? Dass die Tafeln wirkliche Hilfe für die sozial Schwachen verhindern und dass mit den Tafeln das gute Gewissen irgendwie erhalten bleibt nach dem Motto: "Es muss ja niemand hungern in Deutschland?"
Selke: Ich möchte noch mal die Parallele ganz kurz ziehen zu dem Rio-plus-20-Gipfel: Heute Morgen stand ein Zitat in den Medien, das eins zu eins eigentlich auf die Tafeln zu übertragen ist: Helfen macht abhängig, Zusammenarbeit stärkt. Und das war vom Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel. Und wenn man das jetzt mal auf die Tafel überträgt, was bedeutet das: "Helfen macht abhängig!": Seit Jahren, Sie haben es gesagt, gehen Menschen zu Tafeln und es hat sich nicht wirklich etwas geändert. Und es ist keine wirkliche Zusammenarbeit im Sinne von Empowerment oder Selbstbestimmtheit der Menschen, Autonomie der Menschen, so wie es auch unser Grundgesetz vorsieht. Das heißt, das ist ein System, in dem Abhängigkeiten entstehen und in dem auch Eigenlogiken entstehen. Die Tafeln selbst als System, die 900 Tafeln, die Sie zitiert haben, die sind ein System geworden, ein Teil der Hartz-IV-Ökonomie, und das funktioniert nach kompletten Eigenlogiken. Und das ist eigentlich das Politikum daran, dass man sich auf diese Eigenlogik verlässt, anstatt nachhaltige Politik für Armutsbekämpfung zu machen.
Kitzler: Das nützt den Leuten nur natürlich wenig, wenn man sich diese Grundsatzfrage stellt. Die Tafeln sind ein Ausdruck davon, dass viele Menschen darauf angewiesen sind, die kann man denen doch nicht einfach wegnehmen!
Selke: Ja, das muss natürlich dann eine vernünftige Arbeitsteilung geben zwischen Helfen direkt und Helfen mit Weitsicht. Und ich glaube, die Tafeln haben sich in diesen 20 Jahren nicht wirklich die Frage gestellt, wo hier die Grenze ist und wo hier ihre Rolle ist, und haben sich sehr stark auf die eine Seite, nämlich dieses Ad-hoc-Helfen und den Ausbau dieses Hilfesystems konzentriert und gleichzeitig auch auf die Verpackung dieser Hilfe. Und das ist die Kernkritik, dass es hier mehr um Verpackung als um Inhalte geht. Man sieht es jetzt zum Beispiel daran, dass solche Aktionen wie die Lebensmittelwette, die ja gerade in Thüringen hier stattfindet, zeigen, dass die soziale Frage verkitscht bearbeitet wird. Also, ich nenne es eine Verkitschung des Sozialen. Das hat mit wirklicher Armutsbekämpfung nichts zu tun und die Ergebnisse der Umfragen, der Studien, die ich gemacht habe, zeigen, dass auch die Menschen, die zu Tafeln gehen, trotz der Not, in der sie sind, ein sehr großes Bedürfnis danach haben, dass tatsächlich etwas sich ändert im Land, und dass es eben nicht nur ein Pflaster gibt, das auf die Wunde geklebt wird.
Kitzler: Die Tafeln, das sollte man noch sagen, diese Lebensmittelwetten, die Sie ansprechen, da werden tonnenweise Lebensmittel eingesammelt, die dann weiter verteilt werden sollen. Ist das, wenn ich Sie richtig verstehe, ein Fehler im System der Tafeln, oder könnte man die Tafeln so aufrüsten, dass sie das leisten, also dass sie Menschen, die dort hingehen, stärken zur Selbstverantwortung?
Selke: Also, ich glaube, das wäre genau der falsche Weg, die Tafeln aufzurüsten. Die Lösung liegt eher darin, die Tafeln darin zu fördern, dass sie sich selbst beschränken. Also, wenn man sich das mal in der Verteilung anschaut in Deutschland, dann existieren Tafeln eben nicht da, wo die Armut am größten ist, sondern sie existieren da, wo die Bedingungen zur Gründung von Tafeln am besten sind. Das kann man sehr schön zeigen. Das heißt, die regionalen Disparitäten, die es da gibt, beweisen, dass es niemals ein flächendeckendes System der Armutsversorgung sein kann, dass es eben auch falsch wäre, sie aufzurüsten und sich darauf zu verlassen. Der zweite Punkt ist, dass die Tafeln selbst und die Helfer an eine Grenze gekommen sind ihres Engagements. Es ist ein Raum, in dem sehr viel persönliches Engagement eine Rolle spielt, aber nach fast 20 Jahren werden auch die Helfer müde und verändern sich auch die Warenströme. Das heißt, es kann gar nicht sein, dass so viele Menschen auf Dauer versorgt werden oder noch mehr. Das Angebot der Tafeln wird natürlich angenommen, das ist einer der Gründe, warum so viele Menschen zu Tafeln gehen. Aber ich finde, man muss den Blick auch noch mal ein bisschen wenden und sagen: "Warum gehen so viele Menschen nicht zur Tafel?" Es gehen ungefähr zehn mal mehr Menschen nicht zur Tafel, obwohl sie das dürften. Das heißt, die Armutsbevölkerung in Deutschland ist sehr viel umfangreicher als der Teil, der zu den Tafeln geht. Und in der öffentlichen Diskussion auch hier gerade wird immer nur geblickt auf die 1,5 Millionen Menschen, die zu Tafeln gehen. Diese Zahl ist übrigens niemals wirklich überprüft worden, das ist eine selbst gemachte Hochrechnung des Bundesverbandes der Tafeln, die sehr medienwirksam ist. Also, noch mal die Frage, warum gehen so viele Menschen nicht zu den Tafeln?: Das ist sozusagen eine Antwort auf die Frage, was wirklich der Fehler im System ist, dass wir nämlich hier massenhaft Menschen beschämen in unserem Land mit einem Almosensystem, anstatt wirklich nachhaltig zu helfen über eine armutsfeste Mindestsicherung, mit der sich dann Menschen selbst versorgen könnten. Noch mal die Parallele zur Entwicklungspolitik: Dort hat man das gelernt, Brunnen bauen ist nachhaltiger als einfach nur Lebensmittelpakete zu verteilen.
Kitzler: Das heißt, die Antwort auf die Tafeln, auf das, was die Tafeln zu lösen vorgeben, wäre das Grundeinkommen?
Selke: Also, wir haben jetzt ein Aktionsbündnis 20 Tafeln gegründet mit dem Slogan "Armut bekämpfen statt Armut lindern" und treten ein für das Ziel einer armutsfesten Mindestsicherung, manche sagen, eine armutsbefreiende Mindestsicherung. Was das jetzt ist, darüber braucht es einen gesellschaftlichen Diskurs. Manche sagen, das ist ein Grundeinkommen, manche sagen, das ist eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze, andere sagen, Hartz IV muss komplett abgeschafft werden. Ich finde, das ist jetzt erst mal nachgelagert, ich bin sehr froh, dass wir überhaupt anfangen, darüber zu diskutieren: Was macht Tafeln wirklich überflüssig. Anstatt diese Diskussionen, diese Rhetorik der Überflüssigkeit seit 20 Jahren immer wieder vor sich herzutragen, aber de facto Strukturen zu schaffen, die eben die Tafeln nicht überflüssig machen. Also durch Baumaßnahmen, durch immer mehr Personen und immer mehr Angebote und so weiter. Das ist die Eigenlogik und die Markenlogik, von der ich gesprochen habe. Und wenn Sie sich solche Treffen anschauen und anschauen, welche Firmennamen, welche Fahnen dort wehen, dann sieht man eben, dass die Tafeln sich perfekt eingepasst haben in eine Markenwelt und selbst zu einer Marke geworden sind. Und es ist die Logik einer Marke, die Angebote immer weiter auszudifferenzieren und auf dem Markt auch dominant zu sein. Und was dabei verschwindet – und das ist einer der Kernkritikpunkte – sind die Bedürfnisse der Menschen, die tatsächlich Hilfe brauchen.
Kitzler: Sehr grundsätzliche Kritik an den Tafeln in Deutschland. Das war Stefan Selke, Professor für Soziologie an der Hochschule Furtwangen. Vielen Dank für das Gespräch!
Selke: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Links auf dradio.de:
Was kommt nach der Wachstumsgesellschaft? - Auf der Suche nach zukunftsfähigen Alternativen
Solidarität statt Almosen? - "TafelGesellschaft"
Mindestlohn: Gerecht oder schädlich?
Stefan Selke: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Kitzler: Der Bundesverband Deutsche Tafel sagt, dass so viele Menschen zur Tafel gehen, ist ein Beispiel dafür, dass die Sozialpolitik der vergangenen Jahre weitgehend gescheitert ist. Sehen Sie das auch so?
Selke: Ich würde sagen, das ist einer der Gründe. Der zweite Grund ist der, dass Tafeln es geschafft haben, sich sehr sichtbar zu machen als ein privates Almosensystem. Und da liegt auch gleichzeitig das Problem, dass einerseits die nachhaltige Armutsbekämpfung tatsächlich fehlt der Regierung, da bin ich d’accord mit den Tafeln, aber andererseits die Tafeln auch nicht wirklich helfen. Das ist keine Hilfe mit Weitsicht, weil sie das Gefühl erwecken, dass sie allein schon die Lösung seien, aber das eben nicht wirklich auch Dauer hilft.
Kitzler: Das heißt, für Sie sind die Tafeln keine Lösung des Problems, sondern selber ein Teil des Problems?
Selke: Sie haben ja jetzt zeitgleich den Rio-plus-20-Gipfel und da geht es um das Thema Nachhaltigkeit weltweit. Und Nachhaltigkeit hat ja auch eine soziale Komponente, das heißt, die Frage nach zukunftsverträglicher Entwicklung, nach sozialer Gerechtigkeit. Und wenn man sich die Frage so stellt, dann ist allein die Tatsache, dass es seit fast 20 Jahren Tafeln gibt, eben ein Anzeichen dafür, und zwar ein ganz objektives, dass es keine zukunftsverträgliche Entwicklung gibt, weil sich scheinbar nichts wirklich geändert hat.
Kitzler: Was ist denn das Problem? Dass die Tafeln wirkliche Hilfe für die sozial Schwachen verhindern und dass mit den Tafeln das gute Gewissen irgendwie erhalten bleibt nach dem Motto: "Es muss ja niemand hungern in Deutschland?"
Selke: Ich möchte noch mal die Parallele ganz kurz ziehen zu dem Rio-plus-20-Gipfel: Heute Morgen stand ein Zitat in den Medien, das eins zu eins eigentlich auf die Tafeln zu übertragen ist: Helfen macht abhängig, Zusammenarbeit stärkt. Und das war vom Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel. Und wenn man das jetzt mal auf die Tafel überträgt, was bedeutet das: "Helfen macht abhängig!": Seit Jahren, Sie haben es gesagt, gehen Menschen zu Tafeln und es hat sich nicht wirklich etwas geändert. Und es ist keine wirkliche Zusammenarbeit im Sinne von Empowerment oder Selbstbestimmtheit der Menschen, Autonomie der Menschen, so wie es auch unser Grundgesetz vorsieht. Das heißt, das ist ein System, in dem Abhängigkeiten entstehen und in dem auch Eigenlogiken entstehen. Die Tafeln selbst als System, die 900 Tafeln, die Sie zitiert haben, die sind ein System geworden, ein Teil der Hartz-IV-Ökonomie, und das funktioniert nach kompletten Eigenlogiken. Und das ist eigentlich das Politikum daran, dass man sich auf diese Eigenlogik verlässt, anstatt nachhaltige Politik für Armutsbekämpfung zu machen.
Kitzler: Das nützt den Leuten nur natürlich wenig, wenn man sich diese Grundsatzfrage stellt. Die Tafeln sind ein Ausdruck davon, dass viele Menschen darauf angewiesen sind, die kann man denen doch nicht einfach wegnehmen!
Selke: Ja, das muss natürlich dann eine vernünftige Arbeitsteilung geben zwischen Helfen direkt und Helfen mit Weitsicht. Und ich glaube, die Tafeln haben sich in diesen 20 Jahren nicht wirklich die Frage gestellt, wo hier die Grenze ist und wo hier ihre Rolle ist, und haben sich sehr stark auf die eine Seite, nämlich dieses Ad-hoc-Helfen und den Ausbau dieses Hilfesystems konzentriert und gleichzeitig auch auf die Verpackung dieser Hilfe. Und das ist die Kernkritik, dass es hier mehr um Verpackung als um Inhalte geht. Man sieht es jetzt zum Beispiel daran, dass solche Aktionen wie die Lebensmittelwette, die ja gerade in Thüringen hier stattfindet, zeigen, dass die soziale Frage verkitscht bearbeitet wird. Also, ich nenne es eine Verkitschung des Sozialen. Das hat mit wirklicher Armutsbekämpfung nichts zu tun und die Ergebnisse der Umfragen, der Studien, die ich gemacht habe, zeigen, dass auch die Menschen, die zu Tafeln gehen, trotz der Not, in der sie sind, ein sehr großes Bedürfnis danach haben, dass tatsächlich etwas sich ändert im Land, und dass es eben nicht nur ein Pflaster gibt, das auf die Wunde geklebt wird.
Kitzler: Die Tafeln, das sollte man noch sagen, diese Lebensmittelwetten, die Sie ansprechen, da werden tonnenweise Lebensmittel eingesammelt, die dann weiter verteilt werden sollen. Ist das, wenn ich Sie richtig verstehe, ein Fehler im System der Tafeln, oder könnte man die Tafeln so aufrüsten, dass sie das leisten, also dass sie Menschen, die dort hingehen, stärken zur Selbstverantwortung?
Selke: Also, ich glaube, das wäre genau der falsche Weg, die Tafeln aufzurüsten. Die Lösung liegt eher darin, die Tafeln darin zu fördern, dass sie sich selbst beschränken. Also, wenn man sich das mal in der Verteilung anschaut in Deutschland, dann existieren Tafeln eben nicht da, wo die Armut am größten ist, sondern sie existieren da, wo die Bedingungen zur Gründung von Tafeln am besten sind. Das kann man sehr schön zeigen. Das heißt, die regionalen Disparitäten, die es da gibt, beweisen, dass es niemals ein flächendeckendes System der Armutsversorgung sein kann, dass es eben auch falsch wäre, sie aufzurüsten und sich darauf zu verlassen. Der zweite Punkt ist, dass die Tafeln selbst und die Helfer an eine Grenze gekommen sind ihres Engagements. Es ist ein Raum, in dem sehr viel persönliches Engagement eine Rolle spielt, aber nach fast 20 Jahren werden auch die Helfer müde und verändern sich auch die Warenströme. Das heißt, es kann gar nicht sein, dass so viele Menschen auf Dauer versorgt werden oder noch mehr. Das Angebot der Tafeln wird natürlich angenommen, das ist einer der Gründe, warum so viele Menschen zu Tafeln gehen. Aber ich finde, man muss den Blick auch noch mal ein bisschen wenden und sagen: "Warum gehen so viele Menschen nicht zur Tafel?" Es gehen ungefähr zehn mal mehr Menschen nicht zur Tafel, obwohl sie das dürften. Das heißt, die Armutsbevölkerung in Deutschland ist sehr viel umfangreicher als der Teil, der zu den Tafeln geht. Und in der öffentlichen Diskussion auch hier gerade wird immer nur geblickt auf die 1,5 Millionen Menschen, die zu Tafeln gehen. Diese Zahl ist übrigens niemals wirklich überprüft worden, das ist eine selbst gemachte Hochrechnung des Bundesverbandes der Tafeln, die sehr medienwirksam ist. Also, noch mal die Frage, warum gehen so viele Menschen nicht zu den Tafeln?: Das ist sozusagen eine Antwort auf die Frage, was wirklich der Fehler im System ist, dass wir nämlich hier massenhaft Menschen beschämen in unserem Land mit einem Almosensystem, anstatt wirklich nachhaltig zu helfen über eine armutsfeste Mindestsicherung, mit der sich dann Menschen selbst versorgen könnten. Noch mal die Parallele zur Entwicklungspolitik: Dort hat man das gelernt, Brunnen bauen ist nachhaltiger als einfach nur Lebensmittelpakete zu verteilen.
Kitzler: Das heißt, die Antwort auf die Tafeln, auf das, was die Tafeln zu lösen vorgeben, wäre das Grundeinkommen?
Selke: Also, wir haben jetzt ein Aktionsbündnis 20 Tafeln gegründet mit dem Slogan "Armut bekämpfen statt Armut lindern" und treten ein für das Ziel einer armutsfesten Mindestsicherung, manche sagen, eine armutsbefreiende Mindestsicherung. Was das jetzt ist, darüber braucht es einen gesellschaftlichen Diskurs. Manche sagen, das ist ein Grundeinkommen, manche sagen, das ist eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze, andere sagen, Hartz IV muss komplett abgeschafft werden. Ich finde, das ist jetzt erst mal nachgelagert, ich bin sehr froh, dass wir überhaupt anfangen, darüber zu diskutieren: Was macht Tafeln wirklich überflüssig. Anstatt diese Diskussionen, diese Rhetorik der Überflüssigkeit seit 20 Jahren immer wieder vor sich herzutragen, aber de facto Strukturen zu schaffen, die eben die Tafeln nicht überflüssig machen. Also durch Baumaßnahmen, durch immer mehr Personen und immer mehr Angebote und so weiter. Das ist die Eigenlogik und die Markenlogik, von der ich gesprochen habe. Und wenn Sie sich solche Treffen anschauen und anschauen, welche Firmennamen, welche Fahnen dort wehen, dann sieht man eben, dass die Tafeln sich perfekt eingepasst haben in eine Markenwelt und selbst zu einer Marke geworden sind. Und es ist die Logik einer Marke, die Angebote immer weiter auszudifferenzieren und auf dem Markt auch dominant zu sein. Und was dabei verschwindet – und das ist einer der Kernkritikpunkte – sind die Bedürfnisse der Menschen, die tatsächlich Hilfe brauchen.
Kitzler: Sehr grundsätzliche Kritik an den Tafeln in Deutschland. Das war Stefan Selke, Professor für Soziologie an der Hochschule Furtwangen. Vielen Dank für das Gespräch!
Selke: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Links auf dradio.de:
Was kommt nach der Wachstumsgesellschaft? - Auf der Suche nach zukunftsfähigen Alternativen
Solidarität statt Almosen? - "TafelGesellschaft"
Mindestlohn: Gerecht oder schädlich?