"Solidarität ist Arbeit"
Für das solidarische Handeln sei die Digitalisierung "wirklich ein Problem", sagt der Soziologe Stephan Lessenich. Ein Klick in den sozialen Medien schaffe noch kein gemeinsames Handeln gegen einen Missstand.
Liane von Billerbeck: Am heutigen Mittwoch ab neun Uhr, nach unserer Sendung also, ist bei uns der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner zu Gast in unserer Gesprächssendung, dessen großes Thema ja die Solidarität ist, die er auch erfahren hat, als er in der Türkei in Haft war. Anlässlich seines Besuchs, aber auch nach den Solidaritäts-Tweets mit Nicole Diekmann vom ZDF, die getwittert hatte "Nazis raus" und danach mit Morddrohungen überschüttet wurde, wollen wir wissen, was Solidarität heute in Social-Media-Zeiten eigentlich bedeutet, und vor allem, wie sich Solidaritätsbekundungen verändert haben. Professor Stephan Lessenich ist jetzt mein Gesprächspartner. Er ist Soziologe von der Ludwig-Maximilians-Universität in München, mit Lehrstuhl für Politische Soziologie sozialer Ungleichheit. Schönen guten Morgen!
Stephan Lessenich: Einen schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Der Menschenrechtler Peter Steudtner saß mehrere Monate als politischer Gefangener in einem türkischen Gefängnis, und er hat die Solidaritätsbekundungen in Deutschland, die Treffen in der Gethsemanekirche in Berlin, deren Mitglied er ist, als so kraftgebend empfunden, dass sie ihm die Ohnmacht genommen hätten. Herr Lessenich, kann Solidarität Seelen oder gar Leben retten?
"Solidarität ist ja nie eine Praxis der Herrschenden"
Lessenich: Selbstverständlich. Bei Seelen bin ich mir nicht so sicher, aber Leben auf jeden Fall. Wir erleben es ja auch gerade im Mittelmeer, und dort auch die Kriminalisierung von Solidarität. In der Geschichte der Solidarität war es immer so, dass von einer Position der Schwäche aus die Schwächeren untereinander füreinander eingestanden sind. Solidarität ist ja nie eine Praxis der Herrschenden, sondern derjenigen, die irgendeine Notlage empfinden oder wahrnehmen und sich gemeinsam entschließen, füreinander einzustehen.
von Billerbeck: Hat sich denn Solidarität im Laufe der Zeit verändert, oder anders gefragt, haben die Menschen darunter immer dasselbe verstanden, und tun sie das heute immer noch?
Lessenich: Sicher nicht. Wie alles in der Gesellschaftsgeschichte hat sich auch die Solidarität verändert. Klassischerweise verbindet man den Begriff ja mit der Arbeiterbewegung, also 19. Jahrhundert, frühes 20. Jahrhundert, wo die abhängigen Positionen in der Gesellschaft, die Lohnabhängigen sich zusammengeschlossen haben, ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Betroffenheit, auch gemeinsame soziale Probleme erkannt haben und dann füreinander eingestanden sind und gemeinsam füreinander gehandelt haben. Das ist sozusagen der klassische Ort der Solidarität, die Arbeitersolidarität, die übrigens auch damals als eine internationale gedacht war, und die heute selbstverständlich auch noch vorhanden ist, aber sehr schwierig geworden ist.
Wenn man beispielsweise denkt, in großen Konzernen, in Brasilien in einem Automobilunternehmen wird gestreikt, dann ist die Frage, wird in Deutschland in Solidarität gestreikt? Und da sind natürlich viele Hürden davor, eine solche Solidarität auch heute noch zu praktizieren. Aber wir haben ja schon angesprochen, neue Formen der Solidarität, auch der virtuellen Solidarität, also über Hashtags oder sonstige Social-Media-Aktivitäten, die hat es selbstverständlich lange Zeit nicht gegeben. Die sind neu. Früher waren das Solidaritätsadressen, die man aufschrieb und irgendwo an die Wand gehängt hat oder an die Presse gegeben hat.
von Billerbeck: Oder demonstriert hat, indem man solidarisch war.
Lessenich: Oder demonstriert, genau. Auch das haben wir ja in jüngerer Zeit wieder erlebt – "Unteilbar". Demonstrationen sind natürlich auch ein Akt der Solidarität, im Zweifelsfall. Ich würde sagen, Akte der Solidarität sind immer vor allen Dingen solche, die mit physischer Präsenz einhergehen. Das ist bei der Demonstration so, das ist bei Streik so. Wenn man tatsächlich mit seinem Körper sich auch einsetzt für die Belange anderer.
"Schnell versendet, und es kostet nichts"
von Billerbeck: Physische Anwesenheit, die ist ja jetzt in digitalen Zeiten kaum noch nötig. Facebook, Twitter und Co. Jüngstes Beispiel für eine Form der Anteilnahme sind ja die Tweets, mit denen Medien und Politiker in dieser Woche der ZDF-Journalistin Nicole Diekmann beigesprungen sind, nachdem die getweetet hatte "Nazis raus". Sie war angefeindet worden, hatte Hassbotschaften erhalten, und die, die daraufhin sie unterstützen wollten, die twitterten dann ebenfalls "Nazis raus". Ist das für Sie jetzt ein Vorgang, auch ein Zeichen von Solidarität?
Lessenich: Ich weiß nicht – Solidarität ist schon, jedenfalls klassischerweise ein, wie soll man sagen, ein Hochwertbegriff. Also, es gehört einiges zu Solidarität, und Solidarität ist auch Arbeit auf eine Weise. Darauf wollte ich auch ansprechen mit dieser physischen Präsenz, die dann im Zweifelsfall auch erforderlich ist.
Und diese Unterstützer-Tweets und -interventionen sind natürlich schon irgendwie aus so einer Solidaritätsperspektive eine zweischneidige Sache. Einerseits wird auch da es so gewesen sein, dass die als Unterstützung empfunden werden. Aber die sind natürlich auch schnell abgesetzt. Man hat genauso schnell einen Tweet abgesetzt, "Nazis raus" oder "Unterstützung für XY" wie für "Ausländer raus" oder für andere eher unsolidarische Verhaltensweisen oder in Solidarität von den geschundenen Deutschen, deswegen Hashtag "AusländerRaus".
Sowas ist schnell verfasst, schnell versendet, und es kostet im Grunde genommen nichts. Die Frage ist, wie wirksam ist das, und die Frage ist natürlich auch, ob solche virtuelle Solidarität dann eine physische ersetzt und ob man sich dann damit begnügt, sich irgendwie in den Medien, in den Social Media zu artikulieren, zu äußern und einen Klick zu tun, und dann meint, damit sei die Sache der Solidarität erledigt.
von Billerbeck: Was sagen eigentlich diese verschiedenen Formen der Solidarität über den Zustand unserer Gesellschaft aus? Wenn es uns genügt, dass wir entweder eine Münze in den Becher des Bettlers werfen, oder dass wir mit einem Mausklick Solidarität üben und eben nicht mehr auf die Straße gehen?
"Solidarität ist eine Praxis auch des Gemeinsamen"
Lessenich: Man könnte sagen, das ist jetzt in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen so, dass Digitalisierung überhaupt neue Technologien, das Leben verändert haben. Man geht nicht mehr an den Bankschalter, sondern macht Onlinebanking. Für die Solidarität ist es natürlich wirklich ein Problem, weil das eine ist, etwas für andere zu tun, beispielsweise sich für andere verbal einzusetzen. Das ist Hilfe, ja, Unterstützung. Aber Solidarität ist eine Praxis auch des Gemeinsamen.
Also gemeinsam erkennt man einen Notstand, einen Missstand und setzt sich in gemeinsamem Handeln dann auch für seine Abschaffung oder für seine Abschwächung oder wie auch immer ein. Und das geht letztlich schwierig über Social Media oder über virtuelle Umwelten. Da muss man sich zusammensetzen, ganz klassisch analog. Da muss man sich austauschen, da muss man einen gemeinsamen Nenner finden, da muss man gemeinsame Aktivitäten, Aktionsformen entwickeln. Da muss man wirklich auf die Straße oder in die Öffentlichkeit gehen und dann auch Gesicht und Präsenz zeigen.
Insofern könnte man sagen, wir erleben hier eine Schrumpfform der Solidarität, die man jetzt auch nicht abwerten sollte, weil sie natürlich Effekte hat, auch positive Effekte. Aber für die klassische Solidarität – und das soll jetzt irgendwie nicht altväterlich oder traditionalistisch klingen –, aber für die klassische Solidarität, die auch heute oder vielleicht auch gerade heute wieder gefordert ist, braucht es schon mehr.
von Billerbeck: Betroffenheit per Mausklick. Solidarität im Zeichen von Social Media. Der Münchener Soziologe Peter Lessenich war das. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Lessenich: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.