Klassenkampf oder Tanz in den 1. Mai?
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Trotz der wachsenden sozialen Spaltung ist kaum von einer Klassengesellschaft die Rede. Dabei gebe es auch heute noch eine arbeitende Klasse, sagt Soziologe Ulf Kadritzke. Doch die richte sich oft gegen vermeintliche Konkurrenten – und nicht gegen die Elite.
Trotz der wachsenden sozialen Spaltung ist kaum von einer Klassengesellschaft die Rede. Der 1. Mai als Tag der Arbeit ist der perfekte Zeitpunkt, sich dem Thema zu widmen und zu fragen: Wo bleibt das Klassenbewusstsein?
Der Soziologe Ulf Kadritzke erklärt im Deutschlandfunk Kultur, niemand spreche mehr von Klassen, stattdessen werde von Schichten, Kulturen, Milieus und Mentalitäten gesprochen. So werde auch die Jugend gar nicht mehr nach sozialen Kriterien aufgeschlüsselt, es heiße stattdessen einfach nur noch: die Jugend. "Und die Klasse ist einfach vergessen."
Dabei sei eine Klasse "eine Ansammlung von Menschen, die nach bestimmten, vor allem ökonomischen und sozialen Merkmalen zumindest ein gemeinsames Interesse entwickeln kann." Soziale Sicherheit, faire Entlohnung und gute Arbeitsbedingungen seien solche potentiell gemeinsamen Interessen, sagt Kadritzke.
Der deutsche Sozialstaat ist nur durch Kämpfe entstanden
Zur Klasse gehörten auch "die, die die Erfahrung gemacht haben, dass man sich das erkämpfen muss. Der deutsche Sozialstaat ist nur durch harte Klassenauseinandersetzungen und Kämpfe entstanden, das wird oft vergessen."
Man müsse auch heute noch von den arbeitenden Klassen reden. Diese seien aber in sich sehr stark differenziert, was aber auch eine Folge des modernen Kapitalismus sei, so Kadritzke. "Woher kommen denn die Scheinselbständigen? Woher kommen denn die Subcontracting-Konstruktionen, wo eine Baufirma in zweiter und dritter Linie neue Firmen einstellt, die keinen Mindestlohn bezahlen? Das sind alles Möglichkeiten, die in unseren Gesellschaften dem Kapital überlassen werden."
Die große Vermögensungleichheit schweißt zusammen
Das verkompliziere aber zugleich die Klassenfrage, weil dadurch das Entdecken gemeinsamer Interessen so schwer geworden und der Ort der gemeinsamen Arbeitserfahrungen heute nicht mehr der Großbetrieb sei. Stattdessen gebe es unglaublich vielfältige Dienstleistungs- und Arbeitsverhältnisse. "Das zersplittert die tatsächliche Klassensituation und macht es schwer, gemeinsame Interessen zu entdecken und in eine gemeinsame Interessensituation zu überführen."
Zwar gebe es keine Mechanik, wie Klassenbewusstsein über Nacht entstehe, wenn man sich aber die letzten zwanzig Jahre ansehe - auch Konservative gäben dies zu – erkenne man, dass die Formen sozialer Ungleichheit zugenommen hätten. Dass eine kleine Elite von Reichen über so unfassbar viel Vermögen verfüge, diese Erfahrung schweiße doch potentiell, also der Möglichkeit nach, die Leute zusammen, erklärt der Soziologe Ulf Kadritzke.
"Es ist nicht so, dass es heute kein gemeinsames Klasseninteresse mehr gäbe. Allerdings ist es schwer, in den konkreten Arbeitssituationen das zu sehen und herzustellen." Und Arbeiter seien nicht automatisch gegen Klassenvorurteile gefeit, sie richteten sich oft auch gegen die vermeintlichen Konkurrenten und nicht gegen die Elite.
(can)