Soziologen-Kongress

Probleme als Krisen

Ebola-Patienten und Ärzte in einem Ärzte ohne Grenzen-Camp in Kailahun, Sierra Leone
Ebola-Krise? Gibt es nicht, sagt der Soziologe Martin Endreß. Die Krankheit sei vielmehr eine persönliche Katastrophe. © CARL DE SOUZA / AFP
Nana Brink im Gespräch mit Martin Endreß |
Im Job, im Alltag, in der Ukraine, in Afrika: Überall wird von Krisen gesprochen. Doch taugt ein einziger Begriff, um so unterschiedliche Phänomene wie Arbeitslosigkeit und Krieg zu beschreiben? Darüber machen sich rund 2000 Wissenschaftler in Trier Gedanken.
Nana Brink: Können Sie das Wort Krise auch nicht mehr hören? Wahrscheinlich, weil wir es in der letzten Zeit inflationär benutzen. Irgendwie und irgendwo ist ja immer Krise, in Europa, in der Ukraine, im Nahen Osten – wir haben uns an die Umweltkrise gewöhnt, an die Bankenkrise, die Parteienkrise oder – weil immer weniger Kinder geboren werden – an die Familienkrise.
Aber sind das alles wirklich Krisen, und wenn ja, haben wir Antworten auf diese Krisen? Genau das fragen sich auch rund 2.000 Soziologen ab heute in Trier. Die Gesellschaft für Soziologie trifft sich zum Kongress und knöpft sich den Begriff Krise vor. Sprecher für den Kongress ist Martin Endreß, Soziologieprofessor an der Universität Trier. Schönen guten Morgen, Herr Endreß!
Martin Endreß: Schönen guten Morgen!
Brink: Wieso haben die Soziologen die Krise bekommen? Das ist doch genau genommen gar kein soziologischer Begriff?
Endreß: Ich weiß nicht, ob die Soziologen die Krise bekommen haben oder die Soziologie. Auf jeden Fall ist die Soziologie aufmerksam auf die inflationäre Verwendung des Begriffs im Alltag, in Gesellschaft, in den Medien, aber auch in der Wissenschaft, und widmet sich ihm insofern als Beobachtungsinstrument, aber eben auch, um sich den Krisen oder den Konstellationen, die unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen als Krisen bezeichnen, zu widmen.
Brink: Interessant fand ich, dass Sie eben gesagt haben, inflationär – so empfinde ich das nämlich auch. Ist das wirklich so? Benutzen wir diesen Begriff inflationär?
Endreß: Ich würde zunächst einmal die Verwendungsformen unterscheiden wollen. Im Alltag ist dem sicherlich so, ob wir von biografischen Krisen sprechen, ob jemand eine Beziehungskrise hat oder meint, eine solche zu haben, bis hin zur demografischen Krise, von der Politik, Medien oder auch Wissenschaft reden. Der Begriff ist, glaube ich, inzwischen auf nahezu alle Phänomene angewandt, oder wird angewandt, wird verwendet, so dass wir eigentlich gar nicht mehr genau wissen, wann Konstellationen so beschaffen sind, dass wir glauben, mit analytischer Triftigkeit – so würden Soziologen das sagen – also in einer hinreichend durchgearbeiteten Begrifflichkeit von einer Krise sprechen zu können.
In der Ukraine gibt es keine Krise: Dort herrscht Krieg
Nehmen Sie die Ukraine. Es hat sich der Begriff Ukraine-Krise oder Krise in der Ukraine eingebürgert. Auf der anderen Seite wird man doch aber sicherlich sagen müssen, dass wir dort mit kriegerischen Handlungen konfrontiert sind. Hier changiert der Begriff Krise hin zum Begriff des Krieges. In anderen Fällen, denken Sie an Ebola, würden wir vielleicht doch eher von einer humanitären Katastrophe sprechen. Oder denken Sie an die Flüchtlingsströme. Und insofern beobachtet die Soziologie – und das wird sie auch auf dem Kongress tun – die äußerst changierende, vielfältige und auch diffuse Verwendung des Begriffs, und versucht sich so zu einem für die Soziologie tragfähigen Begriff durchzuarbeiten.
Brink: Nun haben sie schon die großen Krisen oder eben auch Nicht-Krisen Ukraine, Ebola angesprochen. Ich möchte es noch mal ein bisschen auf unseren Alltag erst herunterbrechen, was Sie ja auch beschäftigt als Soziologen. Wie prägt denn die Krise unseren Alltag? Oder andersherum gefragt: Können wir da einen richtigen Begriff von Krise definieren, oder Sie definieren?
Endreß: Die Soziologie ist wohlberaten, dem Alltag keine Vorschriften zu machen, und schon gar nicht ...
Brink: Aber wir wollen klüger werden bei Ihnen!
Endreß: Ja, das geht vielleicht auch, aber da können wir einen Beitrag dann leisten, wenn wir uns die Verwendungsformen des Alltags anschauen. Zunächst einmal würde die Soziologie immer unterscheiden wollen zwischen den Situationen, den sozialen Lagen und Phänomenen, auf die alltäglich der Begriff Krise angewandt wird, und dem, was man in der Disziplin dann vielleicht als solche bezeichnen kann. Die Soziologie hat sicherlich einige Vorschläge dazu unterbreitet, und es gibt ältere Theorieentwürfe dazu. Die stammen vor allen Dingen aus den 70er- und 80er-Jahren, in denen die Gesellschaft der Bundesrepublik unter einer Legitimationskrise oder was auch immer litt beziehungsweise diesen Begriff vielfältig verwendet hat. Diese Ansätze sind aber weitgehend liegen geblieben, und es gilt angesichts der gegenwärtigen Weltsituation sicherlich, hier neu anzusetzen.
Brink: Also haben wir ein neues Krisenbewusstsein? Weil Sie sagen, die sind liegen geblieben, dann hat uns das ja in der Vergangenheit nicht so interessiert.
Wenn Politiker vor Problemen stehen, verstehen sie das als Krise
Endreß: Nun, ich würde sagen, Begriffe unterliegen Konjunkturen, ganz ähnlich, wie das sozusagen die Veränderung der Alltagssprache sowieso uns immer erneut signalisiert. Und es hat sich inzwischen eingebürgert, für alle Probleme, vor denen Menschen im Alltag, Menschen in ihren beruflichen Situationen, aber auch politische Akteure, ob nun im nationalen oder im internationalen Maßstab immer dann, wenn sie vor Problemen stehen, verstehen sie diese als Krisen. Das ist sicherlich zunächst einmal aufmerksamkeitserheischend – schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, nach diesem Modus. Und die Soziologie sollte hier ein wenig Abstand von diesem inflationären Gebrauch nehmen und zu einer möglichst tragfähigen Definition durchdringen.
Brink: Nun kommen wir auch zu diesen größeren Bildern. Wir haben über den Alltag gesprochen, und Sie haben auch schon angedeutet in unserem Gespräch, dass wir ja auch bei internationalen Krisen, also Stichwort Ukraine und Ebola, von Krisen sprechen. Also auch da gibt es zu wenig Trennschärfe?
Endreß: Mit Sicherheit. Man kann das – erlauben Sie einfach, wenn ich noch mal auf die Ebola-Epidemie zu sprechen komme, da sehen Sie schon einen nächsten Begriff, der changiert zum Krisen-Begriff hin. Für diejenigen, die von dieser Krankheit betroffen sind, weitet sich oder entwickelt sich eine persönliche Katastrophe. Dort greift also auf der Ebene des individuellen Lebens also der Krisen-Begriff sicher schon nicht einmal.
Für die betroffenen Regionen dürfte man sicherlich auch kaum einfach nur von einer Krise sprechen, weil ganze Infrastrukturen zusammenbrechen, eine medizinische Versorgung überhaupt nicht mehr in der Lage ist, hier mit einer Krankheit, die vielleicht nur mit klassisch der Pest in Europa im Moment noch vergleichbar ist, zurechtzukommen. Ein derart entdramatisierender Gebrauch des Krisen-Begriffs, glaube ich, sollte sich die Wissenschaft nicht selbst auch auf ihre Fahnen schreiben. Ebenen unterscheiden, Kontexte differenzieren, das ist hier die Aufgabe sicherlich.
Brink: Nun ist Ebola vielleicht ein schlechtes Beispiel, um meine nächste Frage zu stellen, trotzdem treibt sie mich aber um: Kann man denn letztendlich auch etwas Positives aus Krisen gewinnen?
Die Krise ist temporär, und sie impliziert immer eine Zukunftsperspektive
Endreß: Mit Sicherheit. Einen Hinweis gibt hier schon die Unterscheidung des Krisen-Begriffs vom Begriff der Katastrophe. Wenn Akteure, wo auch immer, eine soziale Situation als Krise beschreiben, dann signalisieren sie ja zweierlei, also bleibt dieser Begriff ambivalent. Sie signalisieren auf der einen Seite irgendetwas, was in der Vergangenheit in ruhigen Bahnen ganz selbstverständlich in gewohnten Formen lief, klappt nicht mehr und funktioniert nicht mehr.
Auf der anderen Seite aber haben wir ein Potenzial, also Ressourcen, die uns in irgendeiner Weise den Weg in die Zukunft weisen werden. So dass also Krise etwas Temporäres ist, ein vorübergehendes Szenario, also eine Zukunftsperspektive impliziert. Das sieht beim Begriff der Katastrophe offenkundig wohl anders aus. Hier bricht etwas vollständig zusammen. Und diesen Bogen, den der Krisen-Begriff häufig meint, diesen, ja immer auch latenten Optimismus, sie bewältigen zu können, das ist sicherlich ein zentrales Charakteristikum der Verwendung des Krisen-Begriffs.
Brink: Heute treffen sich ja die Soziologen in Trier – und da werden Sie wohl hoffentlich nicht die Krise kriegen.
Endreß: Nein. Ich freue mich zunächst einmal, dass Trier Austragungsort des Kongresses ist. Wir haben herausragende Anmeldungszahlen. Wir werden in der Tat 2.000 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, aber auch etwas von der breiten Öffentlichkeit und Studierende vor allen Dingen auch begrüßen können hier in Trier. Das sind Schaufenster für Disziplinen, und ich will nicht verhehlen, dass die Vorbereitung anstrengend ist, gewesen ist und dass wir auch am Freitagabend dann einigermaßen froh sein werden, diese Woche hoffentlich heil überstanden zu haben. Aber es ist eine Herausforderung, und in einem hervorragenden Team kann man auch die stemmen.
Brink: Martin Endreß, Soziologieprofessor an der Universität Trier. Und dort, wie gesagt, trifft sich der Kongress der Soziologen. Schönen Dank, Herr Endreß, dass Sie mit uns gesprochen haben!
Endreß: Der Dank ist ganz meinerseits.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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