Cornelia Koppetsch: "Die Gesellschaft des Zorns", erschienen im Transcript Verlag. 280 Seiten kosten 19,99 €.
Wer wählt AfD - und warum?
31:32 Minuten
Die AfD ist kein ostdeutsches Phänomen, wie die Soziologin Cornelia Koppetsch erklärt, auch wenn sie dort die höchsten Stimmenzuwächse verbuchen kann. Ihre Anhänger kommen aus allen Milieus. Sie alle eint das gemeinsame Gefühl, Verlierer zu sein.
Die AfD könnte bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen stärkste Partei werden. Das sagen zumindest einige Umfrageinstitute voraus. Der Rechtspopulismus scheint also auch in Deutschland endgültig in der Mitte der Gesellschaft anzukommen.
Die Soziologin Cornelia Koppetsch hat mit ihrem aktuellen Buch "Die Gesellschaft des Zorns" den Nerv der Zeit getroffen. Es rangiert auf Platz 1 der Sachbuchbestenlisten von "ZEIT", ZDF und Deutschlandfunk Kultur.
Anhänger finden sich im Hauptnarrativ nicht wieder
Im Deutschlandfunk Kultur erklärt sie, dass die Anhängerinnen und Anhänger der AfD aus sehr verschiedenen Milieus stammen, die alle das Gefühl eint, auf die ein oder andere Weise Verlierer zu sein. In diesem Zusammenhang spricht sie von einer "Querfront der Verlierer".
Die Wählerinnen und Wähler der AfD kommen aus allen Schichten und aus allen Parteien, wie Koppetsch erklärt. Sie alle verbindet, dass sie sich mit Entgrenzungen bisher gültiger Kategorien wie der von Mann und Frau, Ernährer, Deutscher etc. genauso wenig zurechtfinden wie mit den Veränderungen der Gesellschaft durch Migration einerseits und mit der Akzeptanz neuer Lebensstile insgesamt andererseits.
Kurz: Sie alle verbindet, dass sie ihre bisherigen Privilegien bedroht sehen und sich im Hauptnarrativ der Gesellschaft nicht mehr wiederfinden.
"Neogemeinschaften" bilden sich heraus
In der Folge kapseln sich die einzelnen Gruppen mehr und mehr in "Neogemeinschaften" ab, wie Koppetsch sagt. Es kommt zur Sprachlosigkeit und Diskursunfähigkeit. In diesem Zusammenhang kommt die Soziologin auch auf das Thema Identitätspolitik zu sprechen. Diese mache nämlich auf der anderen Seite ebenfalls einen Dialog unmöglich, weil auch da nicht mehr in Kategorien der Gesellschaft, sondern in denen der Gemeinschaft gedacht werde. Solidarität erstrecke sich also immer nur auf die eigene Gruppe.
Für diese Entsolidarisierung macht Koppetsch die Neoliberalisierung der Gesellschaft verantwortlich. Nach dieser, die gesamte Gesellschaft durchdringenden Ideologie, ist jeder für sich und seinen wirtschaftlichen wie persönlichen Erfolg selbst verantwortlich.
Aktuelle Probleme mit neuem Vokabular diskutieren
Schließlich kommt es nach Ansicht von Koppetsch darauf an, wieder in einen Dialog treten zu können, als Gesellschaft zu agieren. Doch dazu müssten die Motive der Wählerinnen und Wähler genauer untersucht werden.
Und es müsste letztlich eine Sprache entwickelt werden, mit der man die Phänomene, die momentan mit Kategorien der AfD diskutiert werden, sprachlich neu besetzt, um die Themen Migration und Globalisierung anders zu diskutieren, um den Menschen zu ermöglichen, eine andere Sprache für das zu finden, was die AfD dann am Ende daraus macht – also eben Migrationsfeindlichkeit, Rassismus etc.
(ckr)
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Glaubt man den Umfragen aus dieser Woche, dann könnte die AfD bei den Landtagswahlen am 1. September in Brandenburg und Sachsen stärkste Partei werden. Der Rechtspopulismus scheint auch in Deutschland endgültig in der Mitte der Gesellschaft anzukommen.
Darüber wollen wir heute mit Cornelia Koppetsch sprechen. Sie lehrt Soziologie an der Technischen Universität in Darmstadt. Ihr jüngstes Buch "Die Gesellschaft des Zorns" steht derzeit auf Platz 1 der Sachbuchbestenlisten von "ZEIT", ZDF und Deutschlandfunk Kultur.
Ist denn der Aufstieg der AfD jetzt "nur" ein ostdeutsches Phänomen, sozusagen die Quittung der Unzufriedenen, die ihren Protest zufällig an eine rechtspopulistische Partei hängen?
Cornelia Koppetsch: Ich würde sagen: Nein. Wir haben zwar in Ostdeutschland im Moment das Schwergewicht der Anhängergruppen, aber im Westen gibt es auch einige Unterstützermilieus. Man kann auch sagen, dass wir die Rechtspopulisten nicht nur in Deutschland haben, sondern überall in Europa, speziell in Osteuropa, aber auch in den USA.
Deutschlandfunk Kultur: Diese Sozialstruktur, die Sie eben mit dem Begriff des "Milieus" angesprochen haben, ist ein soziologischer Begriff. Das heißt, damit sind nicht irgendwelche Milieus gemeint, sondern tatsächliche Gruppen von Menschen, die einen gemeinsamen Lebensstil teilen. So könnte man das ungefähr sagen.
Wie sieht diese Sozialstruktur denn genau für die AfD aus? Trennt sich das in oben und unten oder wie kann man sich das vorstellen?
Anhängergruppen quer durch alle Schichten
Koppetsch: Das Interessante an den Anhängergruppen ist, dass man entgegen mancher Analysen feststellt, dass es sich bei Ihnen eben nicht um ökonomische Verlierer allein handelt. Es sind also nicht einfach die unterprivilegierten Klassen, wie man zunächst dachte.
Wir finden Anhängergruppen quer durch alle Schichten. Wir finden sie in der Oberschicht. Wir finden sie im guten Mittelstand. Wir finden sie auch in den unterprivilegierten Milieus, aber jetzt auch nicht überproportional, so dass man sagen kann:
Die übliche Klasseneinteilung, die man im Hinblick auch auf politische Mobilisierung und unterprivilegierte Milieus bis dato für gültig gehalten hatte, greift nicht mehr. Wir haben eine Art "Querfront der Verlierer".
Deutschlandfunk Kultur: Was heißt "Querfront der Verlierer"?
Koppetsch: Das heißt, dass sich ganz verschiedene Gruppen plötzlich als zurückgesetzt empfinden. Die Globalisierung hat zu tiefgreifenden Veränderungen geführt: einerseits zu Grenzöffnungen und zu einer ökonomischen Transnationalisierung und andererseits zu einer inneren Öffnung, also zu einer Veränderung in den kulturellen tiefen Schichten der Gesellschaft.
So dass sich ganz verschiedene Gruppen über diese Fragen plötzlich als zurückgesetzt empfinden. Gruppen, die früher etabliert waren und die durchaus auch teilweise der Oberschicht angehören.
Es geht auch um Habitus und Werte
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, es geht also nicht nur um ökonomische Verteilungsfragen. Das war ja lange Zeit die Sicht auf die AfD, bis dann die ersten Analysen kamen, die gesagt haben: "Naja, die haben in der Mittelschicht doch schon deutliche Anhängerschaften."
Koppetsch: Genau. Viele, gerade sozialwissenschaftlich Linke, die oft auch den Linken zugeneigt sind, glauben, dass Klassenkampf im Portemonnaie entschieden wird, dass es sich also immer darum handelt, dass Leute feststellen: "Okay, jetzt haben wir Einkommenseinbußen oder sind arbeitslos geworden und deshalb wählen wir jetzt die AfD."
So funktioniert das aber nicht. Das würde einfach unterschlagen, dass sich die Protestbewegung, die sich hier herauskristallisiert, sehr viel stärker auch um Fragen von Habitus, Persönlichkeit, gesellschaftlicher Ordnung und Werten dreht.
Das heißt, es geht nicht um einen plumpen Machtkampf und auch nicht um Fragen der Verteilung, sondern um die Frage: Wie soll die Gesellschaft, in der wir leben, eigentlich aussehen? Und welche Werte sind eigentlich hegemonial? Welche sind also vorherrschend? Und warum wollen bestimmte Gruppen das jetzt ändern? Also die Tatsache, dass beispielsweise kosmopolitische Milieus dermaßen an gesellschaftlichem Einfluss gewonnen haben.
Deutschlandfunk Kultur: Diese kosmopolitischen Milieus nehmen wir gleich noch in den Blick. Ich habe aber erst nochmal eine Frage:
Wenn Sie so eine Querfront diagnostizieren, muss man schon sagen, dass die Anhängerschaft der AfD sich in unterschiedliche Milieus teilt, also eben auch in die klassischen Mittelschichtsbereiche, ob obere oder untere.
Wenn 65 Prozent der AfD-Wähler eher in die eine Richtung neigen, dann bleiben noch 35 Prozent, die in den Milieus sind, in denen auch die Grünen, die Linken, die CDU, die SPD und die Liberalen unterwegs sind.
"Nicht einfach alle Milieus über einen Kamm scheren"
Koppetsch: Genau. Das ist vielleicht das Interessante daran, dass man nicht einfach alle Milieus über einen Kamm scheren kann, weil sich eben hier zum Teil Gruppen finden, die man eben nicht einfach typisch als Unterklasse betrachten kann.
Stattdessen handelt es sich beispielsweise durchaus um bürgerliche Gruppen. In Ostdeutschland sind es zum Beispiel die Bürger Dresdens, die sich hier unter dem Label der AfD versammeln.
Wir haben enttäuschte Familienernährer, die eben auch nicht alle aus den Unterschichten kommen und die sich in ihren Leitbildern des Familienernährers und den selbstverständlichen Erwartungen an die Privilegien, die daraus erwachsen, enttäuscht sehen: entweder, weil sie keine Alleinverdiener mehr sind, oder weil Frauen mittlerweile auch ganz gut alleine zurechtkommen und diese Funktion des Familienernährers entwertet wird.
Und wir haben auch individuell Enttäuschte, die in ihren Karrieren aufgrund von Kapitalausstattungen entwertet worden sind: also zum Beispiel humanistisch Gelehrte, die im Zuge der Bologna-Reform nicht mehr zum Zuge kommen, deren Kapitalausstattung, deren Qualifikation und Kompetenzen entwertet worden sind, so dass die sich jetzt auch als Verlierer betrachten.
Und einige von ihnen, also unter bestimmten Voraussetzungen, nicht alle, wenden sich jetzt eben einer rechten Protestpartei zu.
Deutschlandfunk Kultur: Wie kann denn das sein, dass diese Protestpartei ihre Gruppen zum Beispiel auch im Schulterschluss mit den Rechtsextremisten mobilisiert? Wir haben ja spätestens auf der Demo in Chemnitz gesehen, dass da AfD-Politiker mit Rechtsextremen quasi gemeinsam laufen.
Normalerweise würde man doch sagen, diese ganz normalen Leute, die Sie angesprochen haben, würden doch zurück zucken vor dem Rechtsextremismus, von dem wir spätestens seit letzter Woche, seit dem Verfassungsschutzbericht wissen, dass dieser Bereich auch noch wächst.
Rechtsextreme schrecken bürgerliche AfD-Anhänger ab
Koppetsch: Ja, das tun sie auch. In der Partei selber weiß man das auch, dass man eben ganz normale Bürger und Mittelschichtsfraktionen vertritt. Deshalb unternimmt man immer wieder Anstrengungen, sich vom rechten Rand zu distanzieren.
Man möchte auch nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden, weil damit auch die Legitimität dieser Partei und ihr Anspruch, die Mitte der Gesellschaft zu vertreten, delegitimiert würde.
Gleichwohl ist es so, dass Rechtsextreme und Rechtspopulisten ein gemeinsames Thema haben. Das ist die Abwehr von Migranten und von Migration, speziell aus dem globalen Süden. Dies geschieht über den Antiislamismus, so dass man sagen kann:
Hier gibt es tatsächlich so eine Art Schulterschluss über das Hauptfeindbild in dieser Gesellschaft, das eben in der Migration und dem Islam gesehen wird. Beides bildet so eine Art Überfunktion für alle möglichen Probleme, die aus der Globalisierung entstanden sind.
Rechtspopulismus als Reaktion auf Zeitenwende
Deutschlandfunk Kultur: Nun sind die Folgen der Globalisierung älter als die sogenannte Flüchtlingskrise oder die Migrationsfrage, die eigentlich erst seit 2015 so richtig ins Laufen gekommen ist.
Sie sind ja der Auffassung, dass der Rechtspopulismus nicht ein kurzfristiges Aufwallen von Empörung über die Flüchtlinge oder die Migrationsbewegungen ist, sondern längerfristige Ursachen, eine strukturelle Veränderung anzeigt.
Sie schreiben: "Rechtspopulismus ist eine Reaktion auf eine Zeitenwende." – Wie kriegen wir das in Einklang?
Koppetsch: Genau. Das ist eine Reaktion auf eine Zeitenwende. In Einklang kann man das insofern bringen, als in der Figur des Migranten sich die inneren und äußeren Veränderungen von Gesellschaften in Reaktion auf die Globalisierung kristallisieren.
Der Migrant steht also sowohl für äußere Grenzöffnungen, also für Menschen und Kulturen, die in das Innere unserer Gesellschaft eindringen, als auch für eine innere Vielfalt. Also für das, was die Kosmopoliten "Diversity" nennen.
Diese besteht darin, dass es jetzt eben nicht mehr eine Leitkultur; nicht mehr ein Lebensmodell und nicht mehr ein Leitbild gibt, sondern sehr viele verschiedene Kulturen unter einem Dach zusammenkommen.
Kosmopolitische Lebensformen
Dabei bilden sich verschiedene Parallelkulturen heraus - könnte man fast sagen-, die für die Kosmopoliten kein Problem sind, wohl aber für andere gesellschaftliche Gruppen, die sich in ihrer einstigen kulturellen Hegemonie zurück gesetzt fühlen.
Deutschlandfunk Kultur: Also wenn man Globalisierung als transnationale Vernetzung und Entgrenzung versteht, wo sich erstens nicht nur Machtverhältnisse von Nationalstaaten ablösen, sondern eben auch Lebensformen ändern - wir haben das eben mit Kosmopolitismus angesprochen -, was kennzeichnet dann genau diese Lebensformen des Kosmopolitischen?
Koppetsch: Zunächst muss man sagen, wir haben das nur kurz angerissen. Die Veränderungen, von denen wir sprechen, liegen wirklich schon mindestens drei Jahrzehnte, wenn nicht sogar länger, zurück.
Sie haben einerseits mit der Transnationalisierung des Wirtschaftssystems und der neuen Macht der Konzerne gegenüber den Nationalstaaten, also gegenüber den nationalen Regierungen, zu tun.
Entmachtung nationaler Demokratien
Sie haben andererseits mit der Supranationalisierung des Politischen zu tun, also damit, dass sich eine EU beispielsweise zwar zunehmend von den nationalen Regierungen abkoppelt, aber sehr stark mittels Gesetzen in diese nationalen Gesellschaften eingreift.
Diese werden dann im nationalen Rahmen umgesetzt, obwohl sie nicht mehr parlamentarisch ausgehandelt worden sind. Es findet also eine Entmachtung der nationalen Demokratien statt.
Schließlich über die sogenannte innere Vielfalt, also dadurch, dass Migranten, aber auch kulturelle Ideen, in die westlichen Gesellschaften Einlass finden und dort Gesellschaften verändern.
Kosmopolitismus ist ein Lebensstil und ein Lebensmodell, in dem diese Vielfalt nicht als Problem gesehen wird, sondern als Aufforderung zur kulturellen Vervielfältigung auch der Identität, der Grenzüberschreitung und vor allen Dingen auch der kulturkapitalistischen Verwertung unterschiedlicher Kulturen durch Übersetzungen, Ideen und Innovation, so dass man sagen kann…
Deutschlandfunk Kultur: Kreativität kommt noch dazu.
Die kosmopolitische Klasse ist das neue Bürgertum
Koppetsch: Kreativität, also Kulturkosmopolitismus schreibt sich Kreativität auf die Fahnen und entspricht damit dem postindustrialisierten Gesellschaftsmodell wie Schlüssel und Schloss.
Das heißt, der Kulturkosmopolitismus wird von zwei Seiten unterstützt: Einmal dadurch, dass wir in den westlichen Ländern ein Modell der Wertschöpfung haben, das nicht mehr auf Arbeitnehmertugenden basiert, sondern auf Kreativität, Flexibilität, Innovation und vor allem Wissen - Wissen wird zur Nummer eins in der Wertschöpfungskette.
Und zweitens von Seiten der Globalisierung, die zur Öffnung geführt hat und dazu, dass Kulturen sich vermischen und hybridisieren. Das bedeutet, dass wir also nicht mehr sagen können, wir haben Männer und Frauen, Deutsche und Osteuropäer, sondern dass sich die Kategorien zunehmend überlappen.
Deutschlandfunk Kultur: Und dann haben wir einen Lebensstil, wie wir ihn in den westlichen Großstädten allenthalben vorfinden, der ja eigentlich auch ganz schön ist. Aber dieser hat auch seine Schattenseiten bzw. seine dunklen Flecken, nämlich auf der einen Seite ein Legitimationsproblem.
Wir haben es eben schon angesprochen. Eine Transnationalisierung findet zwar statt, aber eine Weltgesellschaft ist noch nicht in Sicht, geschweige denn ein Weltparlament. Schon in der EU, wie Sie sagen, klappt das nicht.
Das heißt also, so ganz fundiert im Sinne von: "Wir können das teilen und verstehen" ist dieser Lebensstil nicht. Der ist nicht selbstverständlich.
Zweifaches Legitimationsdefizit des Kosmopolitismus
Koppetsch: Genau. Er hat ein zweifaches Legitimationsdefizit. Zum einen ist er ein Lebensstil, der nicht politisch legitimiert werden kann. Das heißt, wir haben hier eine soziale Klasse, nämlich die kosmopolitische Klasse, die ein neues Bürgertum darstellt.
Diese Klasse entfernt sich zunehmend auch aus den Infrastrukturen des Nationalstaates, also aus den solidarischen Institutionen, eben weil sie selbst eine urbane Infrastruktur bildet, die nicht mehr von allen geteilt wird und die hauptsächlich über Konsum und Privatisierung auch von Ressourcen funktioniert.
Wir haben hier einen hohen Anteil von Menschen, die also auf die öffentlichen Infrastrukturen gar nicht mehr angewiesen sind, die sich privat versichern können, die private Schulen besuchen, die Wissen und Kultur konsumieren.
Und das kostet Geld. Da sind auch nicht mehr alle drin. Und nicht zuletzt basiert die Weltbürgerschaft im Wesentlichen auch auf Tourismus, das heißt, auf dem Konsum der kosmopolitischen Hotspots.
Deutschlandfunk Kultur: Was folgt daraus für den Rechtspopulismus, der offenbar riecht, dass die obere Mittelschicht – so nenne ich das jetzt mal – auch eine eigene Rolle bei dieser Herausbildung von Ungleichheiten spielt?
Die einen haben Zugang zu diesen Ressourcen wie Bildung oder verschaffen sie sich dadurch, dass sie für Privatschulen bezahlen. Gerade das kulturelle Kapital Bildung ist ja zentral für diese obere Mittelschicht. Damit verfestigen sie aber auch die Situation für die, die nicht Zutritt dazu haben.
Klassen werden durch Lebensstile sichtbar
Koppetsch: Genau. Die Rechtspopulisten machen jetzt nicht den ökonomischen Verteilungskonflikt auf, sondern sie spüren instinktiv, dass die Kosmopoliten ihre Klassenfeinde sind. Das ist, wenn man dem Soziologen Pierre Bourdieu folgt, nur plausibel, weil wir Klassen zuallererst durch Lebensstile im öffentlichen Raum sichtbar machen können.
Deutschlandfunk Kultur: Soziale Räume im Internet…
Koppetsch: … im sozialen Raum sichtbar machen können. Und was die Kosmopoliten eben auszeichnet, ist dieser Lebensstil, der vegan ist, der moralisch korrekt ist, der auf universalistische Werte und Menschenrechte pocht, in dem es eben um Klimapolitik geht und in dem Fahrverbote für nötig gehalten werden.
Und dagegen wenden sich die Rechtspopulisten, indem sie vehement gegen diesen kosmopolitischen Lebensstil ankämpfen, indem sie sich etwa über Gendertoiletten lustig machen und indem sie eben sagen:
"Wir möchten uns ganz normal ernähren und nicht veggie sein und unsere Kinder auf ganz normale Schulen schicken." Damit wenden sie sich gegen die kulturelle Vorherrschaft und gegen den Lifestyle der Kosmopoliten.
Deutschlandfunk Kultur: Frau Koppetsch, dieses Abwehren eines kosmopolitischen Lebensstils greift aber auch auf das Parteiensystem über, weil es genau von diesem Lebensstil getragen wird. Damit werden Ausgeschlossene produziert, also Leute, die sich nicht repräsentiert fühlen, die auch ihre Anliegen nicht mehr in der Politik wiederfinden.
Kulturelle und politische Repräsentationslücke
Koppetsch: Genau. Also, wir haben nicht nur eine kulturelle Repräsentationslücke, sondern auch eine politische. Diese rührt daher, dass sich die Parteien - also die etablierten Parteien, vor allen Dingen natürlich die Grünen, aber auch die CDU und die SPD - in den letzten Jahrzehnten immer stärker dem linksliberalen Lebensstil angenähert haben und diese Wählergruppen befriedigen, während andere Wählergruppen gar nicht mehr repräsentiert werden.
Und die Sozialdemokraten haben lange Zeit gemeint, sie müssten wieder stärker die Arbeiter ansprechen. Doch damit ist es eigentlich nicht getan, weil die Arbeiter in dem Sinne, wie sie charakteristisch für die Industriemoderne waren, so gar nicht mehr existieren.
Wir haben mittlerweile Arbeiter in allen sozialen Klassen. Wir haben die Opel-Arbeiter im Dreischichtsystem, die 5.000 Euro brutto verdienen. Wir haben die normalen Facharbeiter, die aber eigentlich auch zur Mittelschicht gehören.
Und wir haben die prekären Arbeiter, die gar nicht mehr durch irgendwen vertreten werden, die im Prinzip über Zeit-, Ernte- und Saisonarbeit oder über Wachschutzdienste funktionieren.
Und wir haben andererseits Milieus, die sich über die traditionellen Parteien wie die CDU zum Beispiel nicht mehr vertreten sehen, weil sie sich als konservativ empfinden und den liberalen Lebensstil oder den liberalen Politikstil von Angela Merkel nicht mehr für anschlussfähig empfinden.
Das sind also verschiedene Gruppen, die sich jetzt über die AfD zu einer politischen Opposition bündeln lassen.
Deutschlandfunk Kultur: Man erlebt das dann auch auf der staatlichen Ebene. Diese Bürger nehmen dann den Staat, wie Sie schreiben, "nur noch wie einen unter einer Käseglocke verschanzten Staat wahr", also sozusagen kalt. Und dann treten Gegennarrative auf.
Womit punktet die AfD - oder die Rechtspopulisten insgesamt - bei der Wählerschaft? Natürlich mit der Nation, natürlich mit dem Volk. Worum geht es da?
"Schaffung eines oppositionellen Narrativs"
Koppetsch: Zum einen geht es darum, das Ressentiment gegen die Eliten zu kultivieren, indem man sagt: "Hier läuft etwas ganz grundsätzlich schief im System und wir schaffen euch erstmal ein oppositionelles Narrativ."
Und es geht darum, all die Ideologeme herauszuarbeiten, die sich eigentlich gegen die Globalisierung richten. Das sind nicht immer dieselben. Die einen betonen zum Beispiel:
"Wir haben ein Problem mit Europa und dem zunehmenden Einfluss von Brüssel." Die anderen sagen: "Wir haben ein Problem mit der kulturellen Entgrenzung, mit Diversity." Wiederum andere sagen:
"Wir haben ein Problem mit der Vorherrschaft der Konzerne und wir wünschen uns eine Wirtschaft, die einheimische Arbeitnehmer stärker berücksichtigt und möglicherweise auch die Nation schließt."
Das ist hierzulande nicht so ausgeprägt, weil Deutschland zu den absoluten Globalisierungsgewinnern gehört. Aber wir sehen diese Tendenz bei Trump in den USA. Hier geht es eben ganz klar auch um die ökonomische Schließung des Nationalstaates.
Deutschlandfunk Kultur: Oder in Großbritannien: "Take back control."
Koppetsch: Genau. Der Brexit ist sicherlich auch ein gutes Beispiel für den ökonomischen Nationalismus, der von rechts getragen wird. Wir haben natürlich auch die Wiederherstellung alter Hierarchien, der Weißen in den USA beispielsweise, die enttäuscht sind oder der Männer, die sich eben auch entwertet sehen durch den Aufstieg von Frauen.
Also die Fraktion der etablierten Vorrechte, die nun sagt: "Wir sind hier eigentlich zu Unrecht entmündigt, ‚entwichtigt‘, entwertet worden und wir wollen jetzt unseren früheren Einfluss zurückgewinnen. Und wir wollen, dass man von einem Lohn leben kann, dass also Frauen nicht arbeiten müssen." Das ist zum Beispiel auch eine Forderung vieler Gruppen der AfD.
Erosion der Gesellschaft, Entstehung von Neogemeinschaften
Deutschlandfunk Kultur: Wir erleben also eine Vielfalt von Konfliktlinien. Man könnte sagen: Wenn es so eine Vielfalt von Konfliktlinien gibt, dann erodiert eine Gesellschaft. Was tritt dann an die Stelle von dem, was man Gesellschaft nannte?
Koppetsch: Wir haben einen Zerfall des großen Narrativs, wenn man so möchte, also des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dieser hat bisher konsensuell dazu geführt, dass Menschen sich dieser Gesellschaft zugehörig fühlen, sich an Regeln halten und sich dieser Gesellschaft normativ auch verpflichten und sagen:
"Okay, ich bin bereit, für diese Gesellschaft etwas zu leisten und zu arbeiten und etwas auf mich zu nehmen und mich an die Regeln zu halten." Dafür braucht es einen Konsens. Das ist nicht selbstverständlich.
Wenn Menschen nun das Gefühl haben, sie kommen hier nicht mehr vor, oder die Narrative, Identitäten und Lebensstile, die ihnen vorgelebt werden, stimmen nicht mehr mit ihren eigenen Realitätswahrnehmungen überein, dann kapseln sich Gruppen ab.
Was sich dabei herausbildet, nennt man für gewöhnlich "Identitätspolitik". Das besagt im Prinzip nichts anderes, als sich aus dem Gesellschaftsvertrag zurückzuziehen und zu sagen:
"Wir machen jetzt wieder unser eigenes Ding. Wir sind partikular interessiert an den Belangen unserer Gruppe" - also an den Belangen der Weißen, der Männer oder der Region Ostdeutschland beispielsweise.
Sie sagen dann: "Wir wollen unsere Heimat wieder schützen und wir sehen eigentlich nur noch unsere Interessen und versuchen, diese gegen andere Gruppen der Gesellschaft durchzusetzen."
Deutschlandfunk Kultur: "Neogemeinschaft" nennen Sie das in Ihrem Buch. Was zeichnet diese Neogemeinschaften aus?
Koppetsch: Die Neogemeinschaften zeichnet zum einen ein Schwarz-Weiß-Denken, also ein "Wir-gegen-sie-Narrativ", und zum anderen die Rückkehr zu Essenzialismen aus.
Deutschlandfunk Kultur: Was heißt das?
Solidarisierung nur noch mit der eigenen Gruppe
Koppetsch: Das heißt, dass man eine eigentliche Identität des Volkes proklamiert. Oft wird ja gesagt: "Wir wollen wieder, dass Deutschland so ist, wie es einmal war." Und natürlich stellt sich dann sofort die Frage:
Was ist denn überhaupt Deutschland? Und dann stellt man fest, so einfach ist das gar nicht zu definieren. Aber erstmal wird ein Kern deutscher Leitkultur postuliert. Das ist essenzialistisch, weil damit letztlich eine fixe Idee transportiert wird, was Deutschland eigentlich sein soll und wie Deutschland eigentlich einmal war, was man so eigentlich gar nicht definieren kann.
Das Gleiche gilt zum Beispiel für Fragen von Männlichkeit und Weiblichkeit. "Wir wollen wieder echte Männer und echte Frauen sein" bedeutet ja, dass man ganz klare Vorstellungen davon zu haben scheint, was das eigentlich sein soll.
Und wenn sich die Leute innerhalb der Partei darüber unterhalten, stellen sie auch sehr schnell fest, dass das so leicht nicht ist und dass es sehr, sehr unterschiedliche Vorstellungen von dem gibt, was es heißt, ein ganzer Mann zu sein.
Aber im Prinzip ist das erstmal die Idee; dass man also sagt: "Okay, wir haben eine essenzielle Identität und die wollen wir jetzt gegen das Hauptnarrativ der Gesellschaft verteidigen."
Deutschlandfunk Kultur: Wenn also die Gemeinschaften mittels Identitätspolitik wichtiger werden als die Gesellschaft, was passiert dann genau mit dem, was man in jeder politischen Sonntagsrede hört, nämlich mit der Solidarität?
Solidarität findet ja auch in Gemeinschaften statt, aber eben nur partikular, also nur für die, die zur Gemeinschaft gehören.
Identitätspolitik als Reaktion auf Entsolidarisierung
Koppetsch: Ganz genau, das ist das wesentliche Element. Aus meiner Sicht ist die Identitätspolitik wie auch der Rechtspopulismus, der ja auch eine Identitätspolitik im Hinblick auf das Volk oder eben Deutschland postuliert, auch eine Reaktion auf die Entsolidarisierung in der Gesellschaft.
Man hat sich jahrelang gefragt, welche Auswirkungen die Neoliberalisierung auf die Gesellschaft haben wird, wonach du selbst für dein Schicksal verantwortlich bist. Thatcher sagte mal: "There's no such thing as society." Wir haben eigentlich…
Deutschlandfunk Kultur: …sondern nur Familien und ihre Angehörigen.
Koppetsch: Genau. Wir haben nur noch Individuen, eine Ansammlung von Individuen. Es gibt keinen Verband mehr. Das ist natürlich kompletter Unsinn: erstens, auch soziologisch gesehen, weil wir in einer Gesellschaft eigentlich alle aufeinander angewiesen sind.
Wir haben Interdependenzbeziehungen, Verflechtungen, Vernetzungen und wir können nicht alleine leben. Das ist nun mal das Prinzip Gesellschaft, dass man aufeinander angewiesen ist.
Und zweitens muss man sich natürlich nicht darüber wundern, dass die Entsolidarisierung bestimmte Folgen zeitigt, die wir jetzt eben sehen, dass Leute also sagen:
"Okay, wir sind eben nicht mehr bereit, alle Schuld nur bei uns zu sehen und für das Scheitern und Versagen, das Verlieren, selber verantwortlich gemacht zu werden. Nicht wir sind schuld, das System ist schuld und wir bilden jetzt ein neues Kollektiv. Wir sind praktisch eine Gemeinschaft und wir sind solidarisch. Wir halten zusammen und wir wollen die Solidarität im Prinzip auch für die Gesellschaft im Ganzen."
Wer gehört dazu, wer nicht?
Zumindest der Rechtspopulismus sagt das ja auch: "Wir wollen zurück zu einem neuen Gemeinwesen." Und diese Art von Solidarisierung ist aber deshalb so problematisch, weil sie andere ausschließt. Sie definiert also bestimmte Grenzen des Gemeinwesens und sagt eben auch ganz genau, wer nicht dazu gehört.
Im Fall des Rechtspopulismus - Narrativ des Volkes - sind es die Migranten, und bei anderen, vor allem Anhängern der Identitätspolitik beispielsweise im Hinblick auf die Weißen oder auf die Männer, wird ganz klar eine Hierarchie postuliert, die natürlich für die Ausgeschlossenen komplett indiskutabel ist.
Deutschlandfunk Kultur: Was folgt daraus für die Konflikte, vor denen wir jetzt stehen oder die wir auch schon erleben? Man hat ja immer das Gefühl, sie werden irgendwie rauer, sie werden härter, politisch härter, aber auch bis in die Familien hinein härter.
Welche Rolle spielt da dieses ganze Gefüge von Affekt, Ressentiment und Zorn, also kurz, spielen da die Emotionen?
Koppetsch: Man merkt seit einigen Jahren, dass die Emotionen extrem hoch kochen, egal wo; dass also die ganze rationale Architektur des Neoliberalismus punktuell kollabiert, weil immer wieder Affekte hochkochen, die man so gar nicht erwartet hatte.
Die Heftigkeit, mit der jetzt politische Auseinandersetzungen auf beiden Seiten geführt werden, oder auch die irrationale Verehrung von neuen Heiligen, wie beispielsweise Greta Thunberg oder Kapitänin Carola Rackete…
Irrationale Verehrung von neuen Heiligen
Deutschlandfunk Kultur: Die ist aber auch freigelassen worden.
Koppetsch: Die ist freigelassen worden. Aber diese Personen werden verehrt wie Heilige, auch die Grünen im Prinzip mit Habeck. Das spielt ins Irrationale, weil man plötzlich spürt: Wir haben hier ganz, ganz viele Probleme in der Gesellschaft.
Wir können diese mit dem bisherigen Gesellschaftsmodell nicht mehr lösen. Und wir suchen jetzt herausgehobene Figuren, also Heldenfiguren, die uns jetzt erlösen, die uns retten.
Und da kommen dann ganz irrationale Momente ins Spiel wie bei Greta Thunberg, wo man also praktisch ein Kind zum Helden erklärt. Figuren, die plötzlich über etwas reden, die auch etwas aussprechen, was andere Leute sich nicht zu sagen trauen, nämlich, dass diese Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht ist.
Deutschlandfunk Kultur: Vielleicht sagt sie es ja auch nur, weil sie so ist. Was können wir eigentlich genau tun, um diese Konflikte weder zu befriedigen noch zu unterdrücken?
Also einen gesellschaftlichen Konsens sehe ich da nicht auf uns zukommen, gerade wenn sich auch noch die politische Tektonik in Deutschland nach den Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen verschiebt.
Koppetsch: Was wir jetzt politisch tun können oder gesellschaftlich?
Wie den gesellschaftlichen Kitt wiederherstellen?
Deutschlandfunk Kultur: Beides. Politisch heißt ja, bestimmte Auseinandersetzungen zu führen. Und gesellschaftlich heißt: Wie kann man Ligaturen, so hat es Ralph Dahrendorf genannt, also sozusagen den gesellschaftlichen Kitt wiederherstellen?
Koppetsch: Man kann es, glaube ich, nicht, indem man, so wie das in den letzten Jahren passiert ist, mit dem Finger auf die jeweils andere Gruppe zeigt und in moralische, schrille Töne verfällt.
Und man kann es auch nicht, indem man sagt, dass die AfD-Anhänger alle Nazis sind. Was damit eben unterschlagen wird, ist, dass es Motive gibt, dass es also gute Gründe gibt, warum sich Personen solchen Protestbewegungen anschließen.
Aus meiner Sicht muss man die jeweiligen Hintergründe erforschen, um den Menschen zu ermöglichen, eine andere Sprache für das zu finden, was die AfD dann am Ende daraus macht – also eben Migrationsfeindlichkeit, Rassismus etc.
Das heißt, wir brauchen eine Aufarbeitung der DDR-Geschichte beispielsweise, weil wir große Gruppen von AfD-Anhängern gerade im Osten haben.
Und aus meiner Sicht hat diese Tatsache sehr viel damit zu tun, dass West-Eliten dort eben eingedrungen sind und die Gesellschaft beherrschen.
Und dass die Treuhandanstalten auch sehr viel Mist gebaut haben und dass man eigentlich mal aufarbeiten muss, was mit dieser Gesellschaft geschehen ist. Wie ich ja am Anfang sagte, geht es um Ereignisse und strukturelle Veränderungen, die schon sehr viel länger zurück liegen.
Für eine sozialere EU
Das Gleiche gilt natürlich für andere Gruppen, die durch die Veränderungen an den Rand gedrängt worden sind. Man muss sich darüber verständigen: Will man so etwas wie die Neoliberalisierung aller Lebensbereiche?
Ist es wirklich nötig, dass man Universitäten die ganze Zeit über Wettbewerbe organisiert? Wer hat denn eigentlich was davon? Eigentlich niemand, aber trotzdem machen alle mit. Und man könnte ja versuchen, sich mal darüber zu verständigen, ob es Alternativen gibt.
Außerdem ist es zum Beispiel nicht zu verstehen, dass wir in einer EU leben, die zwar alles dafür tut, Märkte zu liberalisieren und sehr, sehr viel Binnenmarkt und Freihandelszonen und dergleichen geschaffen hat, aber nichts, aber auch fast gar nichts dafür getan hat, einen Sozialplan, eine Solidargesellschaft auf EU-Ebene zu schaffen, also Sozialgesetzgebungen zu erneuern.
Und das ist meines Erachtens unabdingbar, wenn man wirklich eine Gesellschaft auf die transnationale Ebene – und daran führt ja kein Weg vorbei – heben will.
Das heißt, wir brauchen eine Vorstellung, wie eine EU jenseits eines Marktmodells funktionieren soll. Was ist das…
Deutschlandfunk Kultur: Also Ihr Ansatz des Proklamierens der sogenannten europäischen Werte, von denen ich immer noch nicht ganz begriffen habe, was Sie genau meinen.
Koppetsch: Genau. Diese Werte kann es nämlich gar nicht geben, weil wir eine Ansammlung von Gesellschaften haben, die jeweils eigene Leitbilder haben, die eigene Sprachen und Kulturen haben. Die kann man nicht einfach so aus dem Boden stampfen, irgendwelche Werte proklamieren. Darum geht’s auch meines Erachtens gar nicht.
Europäische Integration auf Ebene der sozialen Gerechtigkeit
Es geht darum, dass die Wertegemeinschaft viel zu idealistisch oder zu hoch aufgehängt ist. In Wirklichkeit geht es erstmal darum, so etwas wie eine europäische Integration auf der Ebene der sozialen Gerechtigkeit zu schaffen.
So war zum Beispiel schon länger die Finanztransaktionssteuer im Spiel. Wir brauchen ja auch Steuereinnahmen, wenn wir einen Sozialstaat auf europäischer Ebene modellieren wollen. Und dafür gab es verschiedene Ideen, die aber aus verschiedenen Gründen bislang noch nicht umgesetzt worden sind.
Ebenso hat man es noch nicht geschafft, mit Steuerflüchtlingen umzugehen. Es gibt also nach wie vor sehr viele Steuerschlupflöcher. Das müsste man erstmal regulieren, um überhaupt ein Modell zu schaffen, in dem ein Sozialausgleich möglich wird.
Deutschlandfunk Kultur: Und vielleicht müsste man sogar den eigenen kosmopolitischen Lebensstil auf normativ bessere Füße stellen, um dann tatsächlich auch so einen Raum zu schaffen, in dem Diversity möglich ist, in dem Menschenrechte doch wieder universal gedacht werden können.
Koppetsch: Auf jeden Fall. Man muss sich natürlich schon fragen, warum man auf die Idee kommt, Diesel-Fahrzeuge aus Umweltgründen abschaffen zu wollen, während man auf der anderen Seite um die Welt jettet.
Ethno-Konsum der Kosmopoliten
Was ist das also für eine Schlagseite, die sich da auftut? Ebenso ist es sehr, sehr merkwürdig, dass Kosmopoliten glauben, sie seien divers und würden die Vielfalt der Kulturen wertschätzen, wenn es eigentlich nur darum geht, eine Art von Ethno-Konsum zu betreiben, also letztlich das Ganze auf der Ebene der Folklore abzuhandeln und eine ökonomische Harmonisierung herzustellen.
Mit Geld lässt sich das immer leicht lösen. Aber Kulturen lassen sich nicht einfach nur als Folklore, die divers nebeneinander friedlich koexistieren, auffassen, weil Kultur immer ein konstitutives Element einer Gesellschaft ist, das eben Spielregeln definiert und legitimiert.
Wenn Kulturen aufeinandertreffen, gibt es oftmals Konflikte, die sich darum drehen, wer in einer bestimmten Straße, in einem bestimmten Stadtviertel eigentlich das Sagen hat.
Hier sehen sich Leute, die tatsächlich mit Migranten auf dieser Ebene leben, ganz anderen Konflikten ausgesetzt als Kosmopoliten, die mit Migranten eigentlich nur als Dienstleister zu tun haben.
Deutschlandfunk Kultur: Wohl und Wehe des Kosmopolitismus. Zu Gast in Tacheles war heute die Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch. Ihr jüngstes Buch trägt den Titel "Die Gesellschaft des Zorns". Erschienen ist es im Transcript Verlag. 280 Seiten kosten 19,99 €.