Die Schulen brauchen mehr Ressourcen
Der neue Weltbildungsbericht zeigt: Für benachteiligte Kinder, egal ob aus Flüchtlings- oder aus deutschen Familien, sieht die Bildungssituation nicht gut aus. Dreh- und Angelpunkt sei eine bessere Ausstattung der Schulen, sagt Soziologin Claudia Diehl.
Dieter Kassel: Die Unesco veröffentlicht heute ihren Weltbildungsbericht "Migration, Flucht und Bildung – Brücken bauen statt Mauern". Und einige der negativen Ergebnisse dieses Berichts waren leider sehr erwartbar, denn in vielen Flüchtlingslagern, gerade auch am Rande von Krisengebieten, haben Kinder oft monatelang überhaupt keinen Zugang zu Schulen und Lehrern. Was aber die Schulbildung von Flüchtlingskindern in Europa angeht, sind die Ergebnisse dieses Berichts sehr unterschiedlich. Und über das, was Deutschland betrifft, wollen wir deshalb jetzt mit Claudia Diehl reden, sie ist Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Konstanz und Mitglied im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Schönen guten Morgen, Frau Diehl!
Claudia Diehl: Ja, guten Morgen!
Kassel: Der Unesco-Bericht stellt ja eigentlich Deutschland gar kein so schlechtes Zeugnis aus, was vor allen Dingen die Bildungsintegration von jungen geflüchteten Kindern angeht. Was klappt denn da bei uns schon relativ gut?
Diehl: Ja, ich sage mal, das ist natürlich das Schöne an so einer weltweit vergleichenden Betrachtung, dass man einen etwas anderen Blick auf die Dinge bekommt. Ich glaube, was in Deutschland gut läuft, ist, dass das Bildungssystem es immerhin geschafft hat, eine sehr hohe Zahl von Kindern in das Bildungssystem zu integrieren. Das läuft, wie Sie gesagt haben, gerade bei den kleineren Kindern gut, bei den jüngeren Kindern, die natürlich, was den Spracherwerb anbetrifft, enorme Vorteile haben. Und wenn die Klassen besuchen, in denen sie Gelegenheiten haben, Kontakte zu Mehrheitsangehörigen zu bekommen und Deutsch zu lernen, und zwar in einer alltagsintegrierten Form Deutsch zu lernen, dann steht deren Bildungserfolg, sage ich mal, immer noch einiges entgegen, aber nicht so viel andere Dinge entgegen, wie wir sie auch sehen bei Kindern aus bildungsfernen deutschen Familien.
Kassel: Kann man denn aus diesem Unesco-Bericht, den wir alle auch noch nicht ganz komplett kennen, aber auch vielleicht aus Zahlen, die Sie haben, ungefähr sagen, ab welchem Alter das kippt oder zumindest schwieriger wird? Also, wenn wir jetzt sagen, jüngere Kinder, ältere Kinder, das ist ja ein bisschen ungenau.
Diehl: Genau. Das ist bei den Linguisten eine durchaus umstrittene Frage, aber ich glaube, so ganz grob kann man sagen, dass es ab der Pubertät einfach schwieriger wird. Ab dann wird es schwierig, und es ist für sprachbegabte Menschen sicher immer noch möglich, aber es wird auf jeden Fall schwierig, eine Sprache zum Beispiel akzentfrei zu lernen. Wir wissen es, gerade im Bildungssystem ist die Schriftsprache ganz wichtig, und die Schriftsprache korrekt zu lernen, ist für Personen, die nach der Pubertät eingewandert sind, sicher eine große Herausforderung.
Vollintegration oder getrennte Beschulung?
Kassel: Und wie könnte man der begegnen? Wäre es zum Beispiel sinnvoll, bei älteren geflüchteten Kindern länger als vielleicht bisher mit irgendwelchen Willkommensklassen, länger einen getrennten Unterricht von den anderen durchzuführen oder was kann man machen?
Diehl: Ja, das passiert ja teilweise schon. Es gibt ganz unterschiedliche Modelle, die praktisch von der Vollintegration von Kindern in Regelklassen reichen bis hin zu einer langen, getrennten Beschulung. Ich sag' mal, wenn man die Sprache später im Leben lernt, braucht man sicher einen systematischeren Input als dieses Alltagsintegrierte, aber man muss natürlich auch sehen, dass die Kontakte zu deutschen Schülerinnen und Schülern auch aus ganz anderer Perspektive als dem Spracherwerb wichtig sind. Da gibt es Zugang zu Informationen, wie funktioniert das Bildungssystem, da entwickeln sich Freundschaften. Und wir sehen in den Daten, wenn es dann später um den Arbeitsmarkt geht, dass Kontakte zu Deutschen neben deutschen Sprachkenntnissen enorm wichtig sind.
Kassel: Welche Rolle spielen denn da auch Eltern? Es gibt ja zwei Extrem-Elternfälle. Die einen, die sagen: Jetzt bist du in Deutschland, jetzt mach' bitte alles das, was die deutschen Kinder auch machen. Und die, die sagen: Mach' das lieber nicht ganz so, du sollst ja deine Herkunftskultur nicht verlieren. Also, gerade im Zusammenhang mit Bildung, welche Rolle spielt so etwas?
Diehl: Ja, viele Migrantenfamilien legen Wert darauf, dass die Kinder ihre Sprache und ihre Kultur behalten. Und ich sag mal, prinzipiell spricht da auch überhaupt nichts dagegen. Aber was wir, wie gesagt, auch sehen, ist, dass wenn es dann tatsächlich um die Arbeitsmarktintegration geht, um die Bildungsintegration, sind deutsche Sprachkenntnisse wichtig und es sind Kontakte zu Deutschen nötig. Und diese zu schaffen, das ist eine große Herausforderung für das Bildungssystem, weil wir schon sehen, da gibt es erste Studien, dass zum Beispiel diese VKL-Klassen gerade an solchen Schulen häufig eingerichtet werden, die ohnehin mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sind.
Zum Beispiel, weil da ein hoher Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund hingeht. Wobei man sagen kann, dass Kinder mit Migrationshintergrund sich in bestimmten Schulen konzentrieren, ist nicht die eigentliche Herausforderung, sondern dass sich benachteiligte Kinder in bestimmten Schulen konzentrieren. Und da ist es natürlich ganz wichtig, gegenzusteuern, indem man diesen Schulen besondere Ressourcen zur Verfügung stellt, und auch, indem man eben sicherstellt, dass die Kinder auch da beschult werden, wo sie tatsächlich auch Gelegenheiten haben, diese Kontakte zu Mehrheitsangehörigen aufzunehmen.
Wo kommen die Deutschlehrer her?
Kassel: Wobei man natürlich da und anderswo ausreichend Lehrerinnen und Lehrer bräuchte. Der Unesco-Bericht sagt auch, dass allein Deutschland 42.000 zusätzliche Lehrer in den nächsten Jahren benötigen werde. Da müssen wir natürlich sagen, ja, das auch nicht nur wegen der Flüchtlinge, aber nein, das ist ja schlicht nicht zu machen, wo sollen die herkommen?
Diehl: Genau. Ich würde sagen, auch in der Hinsicht hat die Zuwanderung vieler geflüchteter Kinder bereits bestehende Probleme einfach noch mal ein Stück weit verschärft. Das gilt sicher zum einen für die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer, aber natürlich auch für Weiterbildungsmöglichkeiten. Die, die versuchen, diesen Kindern Deutsch beizubringen, die brauchen natürlich Fortbildungen im Bereich Deutsch als Zweitsprache.
Kassel: Gibt es eigentlich noch einen anderen Unterschied? Mir ist das, als wir anfingen, Frau Diehl, mit diesem Thema "Jüngere und ältere Flüchtlingskinder und die Unterschiede bei den Bildungserfolgen", durch den Kopf gegangen. Es ist ja relativ wahrscheinlich, dass ein Jugendlicher, der 13, 14, 15 Jahre ist, schon Erfahrungen gemacht hat mit dem Bildungssystem im Herkunftsland, was für jüngere Kinder eventuell nicht gilt, wenn sie hierherkommen. Macht das einen Unterschied? Worauf ich hinaus will, ist, gibt es so etwas wie unterschiedliche Bildungs- und Schulkulturen, die da vielleicht einwirken können?
Diehl: Ja, ich glaube, dass es das gibt, aber ich sage mal, forschungsmäßig stehen wir da noch ziemlich am Anfang. Was wir schon sehen, ist, wenn wir zum Beispiel geflüchtete Jugendliche testen, dass sie sich häufig in diesen Tests relativ schwertun. Das hat mit Sicherheit etwas damit zu tun, dass ... ich sag' mal, deutsche Kinder fangen schon im Kindergarten an, bestimmte Aufgaben zu machen. Ja, schauen Sie sich die Rätselblocks an, die Sie in jeder Bahnhofsbuchhandlung kaufen können, das sind natürlich Lernkulturen, die vermutlich auch eine Rolle dabei spielen, in der Schule dann mit bestimmten Aufgabenstellungen klarzukommen. Und ich sage mal, Kinder sind lernfähig, und was viele Lehrerinnen und Lehrer berichten, ist, dass gerade die geflüchteten Kinder enorm motiviert sind, das gilt sicher auch für die Älteren, aber natürlich ist Integration ab einem bestimmten Alter schwierig.
Ein Mehrgenerationenprojekt
Und was wir vielleicht in Deutschland noch besser verstehen müssen, ist, dass Integration, gerade bei den Älteren, die selber eingewandert sind, einfach der Beginn eines Mehrgenerationenprojektes ist. Die erste Generation, die ins Land kommt, die hat häufig ihr Leben lang mit bestimmten Herausforderungen zu kämpfen. Wichtig ist dann, dass die Kinder, die in diesen Familien aufwachsen, dass die bessere Chancen haben. Und da ist natürlich das Bildungssystem gefordert, da sind auch die Eltern gefordert, aber das Bildungssystem kann natürlich einiges tun, um Benachteiligung im Elternhaus auszugleichen. Und das gilt wie gesagt für deutsche Kinder aus benachteiligten Elternhäusern genauso wie für die, die einen Fluchthintergrund oder Migrationshintergrund haben.
Kassel: Claudia Diehl, Professorin für Mikrosoziologie und Mitglied im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, über die Bildungschancen von Flüchtlingskindern in Deutschland. Über die weltweite Situation informiert der neue Bildungsbericht der Unesco, der heute veröffentlicht wird. Frau Diehl, herzlichen Dank für das Gespräch!
Diehl: Sehr gerne!
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