"Die Gemeinschaft der Frauen hat mich beflügelt"
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Die Soziologin Ute Gerhard hatte den ersten Lehrstuhl für Frauen- und Geschlechterforschung in Deutschland inne. Sie fordert eine "Revolution in den Arbeits- und Marktverhältnissen", um die bestehenden Geschlechterrollen aufzubrechen.
Die Theorie ist das eine – die Praxis mitunter etwas völlig anderes. Selbst feministische Vorkämpferinnen können sich plötzlich allein mit drei kleinen Kindern zu Hause wiederfinden, sich um Mittagessen und den Haushalt kümmern, während der Ehemann das Geld nach Hause bringt.
Die Soziologin und Juristin Ute Gerhard blickt bis heute erstaunt zurück, wie sie selbst sich – entgegen all ihrer Überzeugungen – Ende der 60er-Jahre in diese Rolle manövrieren konnte.
In der Frage der Geschlechtergerechtigkeit fordert Gerhard eine "völlige Kehrtwende in der Politik". Die Arbeitsverhältnisse müssten sich grundlegend ändern und berücksichtigen, dass Menschen andere Erholungszeiten brauchen und dass sie Kinder haben, die bei Krankheit versorgt werden müssen.
"Es ist eine ziemliche Revolution in den Arbeits- und Marktverhältnissen notwendig", meint Ute Gerhard.
"Aber Fakt ist, dass der Markt uns vorschreibt, wie unsere Politik zu sein hat. Es ist für die, die an der Macht sind, funktional und das Einfachste, wenn es so bleibt, wie es ist. Aber wir sehen doch, dass wir damit viel Potenzial vergeuden und dass es die Menschen auch nicht glücklich macht. Leistung allein und auch das Geld allein, das kann es ja nicht sein. Dass zum Glück auch noch etwas anderes gehört, das müsste doch endlich mal bedeutsam werden!"
Fürsorgliche Aufgaben gerecht verteilen
Außerdem müssten alle fürsorglichen Aufgaben von der Erziehungsarbeit bis zur Altenpflege von Männern und Frauen in gleicher Weise verantwortlich übernommen werden. Erst dann sei Geschlechtergerechtigkeit hergestellt.
"Es muss hier eine gleiche Verantwortung für den Mann bestehen. Das muss auch in der Politik als selbstverständliche Aufgabe immer gegenwärtig sein, diese Verhältnisse zu verändern. Aber wir haben so festgefahrene Strukturen der Arbeitsteilung und der Sozialversicherung. All unsere Strukturen sind darauf ausgerichtet, dass der Mann das macht und die Frau die Hintergrundarbeit."
Ute Gerhard erinnert daran, dass die Familie als Rollenmodell aus Mutter, Vater und Kinder eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist. Die Wissenschaft habe viel dafür getan, um die Rolle der Frau als Hüterin der Kinder mit der "Natur der Frau" zu begründen.
Strikte Rollentrennung nicht förderlich für Kinder
Inzwischen sei aber erwiesen, dass die Kinderfrage nicht nur eine Frauen-, sondern auch eine Männerfrage ist:
"Der Sinn aller Analysen ist, dass wir gezeigt haben, wie notwendig die männliche Beteiligung an all den Aufgaben in der Familie ist. Die strikte Rollentrennung ist ja auch für Kinder nicht förderlich."
Die wissenschaftliche Neugier von Ute Gerhard erlosch nicht in den Jahren, die sie mit ihren Kindern verbrachte. Entgegen aller Widerstände und Bedenken promovierte sie zum Thema "Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte." Nach ihrer Habilitation hatte die Wissenschaftlerin den ersten Lehrstuhl für Geschlechterforschung in Deutschland inne.
"Geschichte der Frauen ist kein Trauerspiel"
Bis heute verbindet Ute Gerhard in ihrer Forschung ihr juristisches und soziologisches Interesse mit Fragen des Feminismus. Es sei die Solidarität unter Frauen gewesen, die sie in ihrem Leben gestützt und beflügelt habe, sagt die Wissenschaftlerin, die dieses Jahr ihren 80. Geburtstag feiert, im Rückblick:
"Tatsächlich ist die Geschichte der Frauen kein Trauerspiel, sondern ein Fundus bedeutsamer Erfahrungen. Es gibt Einsichten und Fortschritte und es gibt die Möglichkeit, etwas zu verändern."
(ruk)