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"Tagtäglich werden manche Leben gerettet und andere nicht"
05:07 Minuten
Schutz des Lebens als oberste Richtschnur allen Handelns? So absolut gilt das nicht, sagt die Soziologin Sabine Hark. Es gebe einen Unterschied zwischen moralischem Gebot und konkretem Handeln. Kritik übt sie an dem Grünen-Politiker Boris Palmer.
Für seine umstrittenen Äußerungen in der Debatte um den Schutz des Lebens in der Corona-Pandemie hat Boris Palmer sich mittlerweile entschuldigt. Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen hatte im Sat1-Frühstücksfernsehen gesagt: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Dagegen würden nach Einschätzung der Vereinten Nationen die Zerstörungen der Weltwirtschaft in diesem Jahr zusätzlich eine Million Kinder das Leben kosten.
Die Soziologin Sabine Hark widerspricht dem Argument des Grünen-Politikers. Man könne dessen Aussage generalisieren - wir alle sterben, unabhängig von Vorerkrankungen: "Heißt das, der Staat oder die Gesellschaft sollte sich nicht mehr darum sorgen, dass alle möglichst geschützt sind, dass Risiken gemindert werden, dass wir uns um Kranke und Versehrte kümmern? Das kann ja nicht die Konsequenz sein."
Ein Tempolimit könnte auch Tausende Leben retten
Allerdings weist Hark darauf hin, dass es schon immer einerseits eine "abstrakte Wertschätzung des Lebens" gebe, andererseits aber eine konkret unterschiedliche Behandlung "der" Leben:
"Jetzt scheint es so zu sein, als wäre die oberste Richtschnur allen Handelns, dass Leben auf jeden Fall zu schützen ist. Das ist natürlich nicht richtig. Wenn das so wäre, dann müssten wir beispielsweise längst ein Tempolimit auf Straßen haben. Wir wissen, dadurch könnten mehrere Tausend Tote verhindert werden. Wir müssten viel drastischere Maßnahmen zur Klimarettung betreiben, weil wir auch da wissen, dass Menschen sterben, weil wir hier Dinge unterlassen."
Im Moment werde alles dafür getan, dass Menschen nicht an Covid-19 erkranken oder gerettet werden, so Hark weiter. Umgekehrt ließen wir es zu, dass Menschen in den "Elendslagern an den europäischen Außengrenzen" gegebenenfalls sterben: "Auch wenn wir das nicht wollen oder vielleicht auch nicht wahrhaben wollen, werden tagtäglich genau diese Entscheidungen getroffen, dass manche Leben gerettet werden und andere nicht."
In die Debatte um Restriktionen in der Pandemie hatte sich auch Ex-Volksbühnen-Intendant Frank Castorf eingeschaltet. Für seine Äußerung, er lasse sich von der Bundeskanzlerin nicht vorschreiben, wann er sich die Hände zu waschen habe, hat Hark nur einen Kommentar: "Das kann man als spätpubertär abtun."
(bth)