Soziologin zur Wohnungspolitik

Die Lage ist mittlerweile "demokratiegefährdend"

Protest in Berlin-Friedrichshain
Protest gegen Spekulanten in Berlin-Friedrichshain. © picture alliance/dpa/Foto: Wolfram Steinberg
Christine Hannemann im Gespräch mit Stephan Karkowsky |
Die staatliche Wohnungspolitik sei über Jahrzehnte vernachlässigt worden, sagt Christine Hannemann. Beim Wohnen gehe es aber um die Existenz, so die Soziologin. Die Menschen hätten das Gefühl, dass ihre grundlegenden Lebenszusammenhänge nicht gestaltet werden.
Politik, Wirtschaft und Wissenschaft haben das Thema Wohnen seit den 90er-Jahren sträflich vernachlässigt. Das sagt Christine Hannemann, die derzeit an der Universität Stuttgart die einzige deutsche Professur in Architektur- und Wohnsoziologie innehat.
Bereis vor zwei Jahrzenten - in den 90er-Jahren - sei die Entscheidung gefallen, den kommunalen Wohnungsbestand zu privatisieren. Seitdem gebe es "keine staatliche Wohnungspolitik mehr in Deutschland beziehungsweise eine Wohnungspolitik, die viel zu gering ist", so Hannemann.

Bett, Dach überm Kopf, Heizung

Diese Entwicklung sei mittlerweile "demokratiegefährdend", denn beim Wohnen gehe es nun mal um die Existenz. Wenn die Menschen mit dem Gefühl lebten, dass ihre grundlegenden Lebenszusammenhänge nicht gestaltet würden, dann fehle es an einer Legitimation für gesellschaftliche Verfahren und Prozesse:
"Wenn ich meine Existenzsicherung nicht habe und das ist nun mal mit dem Wohnen verbunden – dass ich ein Bett habe, dass ich ein Dach überm Kopf habe, dass ich eine Heizung habe, dann habe ich so große Sorgen, dass ich mich um gesellschaftliche Zusammenhänge nicht kümmern kann. Und dann habe ich das Empfinden, dass die Politik mich alleine lässt, dann gehe ich nicht zu den Kommunalwahlen und dann interessiere ich mich vielleicht für Positionen, die auch nicht demokratiegestaltend sind."

"Wohnungsmisere", nicht "Wohnungsnot"

Abseits der Metropolen – auf dem flachen Land – gebe es ebenfalls "eklatante Wohnmängel". Probleme seien hier eine schlechte Verkehrsanbindung, schlechter Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und das Fehlen von Kultureinrichtungen.
Allerdings, das betonte Hannemann, wolle sie nicht von "Wohnungsnot", sondern von einer "Wohnungsmisere" sprechen. Die aktuelle Lage am Wohnungsmarkt sei nicht mit der Situation infolge der Industrialisierung und Urbanisierung im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu vergleichen.

Zum Hausbau keine Lust

Hinsichtlich der Verantwortung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, für den eigenen Wohnraum selbst zu sorgen und Wohneigentum zu erwerben, meinte Hannemann, dass ihre Anfang-20-jährigen Studierenden daran kein Interesse hätten:
"Das ist genau so wie mit dem Besitz eines Privat-Pkw. Das sind alles Dinge, die belasten."
Hausbau bedeutet Verschuldung, es müsse Zeit aufgebracht werden – "dazu haben zunehmend die jüngeren Leute keine Lust mehr", sagte die Soziologin.
(huc)

Für diesen Freitag haben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bauminister Horst Seehofer (CSU) zu einem Wohngipfel ins Kanzleramt geladen. Die Bundesregierung will bis 2021 für den Bau von 1,5 Millionen neue Wohnungen sorgen. Dazu will sie fünf Milliarden Euro in den sozialen Wohnungsbau investieren.


Das Interview im Wortlaut:

Stephan Karkowsky: Sozialverbände, Mieterbund und Gewerkschaften organisierten gestern lieber ihren eigenen alternativen Wohngipfel, da hat man offenbar nur wenig Vertrauen in die Bundesregierung zur Lösung der Wohnungsnot in den Großstädten. Zumal Bauminister Seehofer gerade den zuständigen Spitzenbeamten in den einstweiligen Ruhestand versetzt hat, Baustaatssekretär Gunther Adler, der den offiziellen Wohngipfel heute im Kanzleramt vorbereitet hat.
Fragen wir die Stuttgarter Wohnsoziologin Christine Hannemann, Frau Hannemann, teilen Sie beim Thema Wohnen das Misstrauen von Mieterbund und Sozialverbänden in die Innovationskraft der Bundesregierung?
Christine Hannemann: Dazu muss ich sagen, dass ich da auch sehr skeptisch bin, da ich ja diese Wohnungspolitik seit ungefähr 30 Jahren, 40 Jahren verfolge und konstatieren muss, dass gerade in den letzten Jahrzehnten viel zu wenig passiert ist.
Karkowsky: Ja, wir hatten gestern, hier in der Sendung im "Studio 9" ein Positivbeispiel aus Wien, wo mit staatlicher Wohnpolitik bislang die Mieten niedrig gehalten werden konnten. Was ist denn in Deutschland eigentlich schiefgelaufen, dass sich die Situation in den Großstädten so dermaßen verschärft hat?

Kommunalen Wohnraum privatisieren war ein Fehler

Hannemann: Ja, das haben Sie eigentlich schon in Ihrer Fragestellung formuliert. Es gibt keine staatliche Wohnungspolitik mehr in Deutschland – beziehungsweise eine Wohnungspolitik, die viel zu gering ist. Noch eine kleine Bemerkung zu Wien, das betrifft leider, also das betrifft nur die Stadt Wien, das ist kommunale Wohnungspolitik, das betrifft nicht Österreich, dann wäre es staatlich.
DDR-Plattenbaugebiet Grünau in Leipzig (Sachsen) mit dem Schild "Unitas Wohnungsgenossenschaft".
Wohnungsgenossenschaft© dpa / picture-alliance / Jan Woitas
Und in Deutschland ist in allen Bezügen, was den bezahlbaren Wohnraum anbelangt, gerade in den 90er-Jahren, als die Entscheidungen gefallen sind, sozialen Wohnungsbestand, kommunalen Wohnungsbestand zu privatisieren, das Wohnen dem freien Spiel der Marktkräfte zu überlassen, sind da wohl grundlegende Fehlentscheidungen getroffen worden.
Karkowsky: Nämlich welche?
Hannemann: Ja, dass man eben diesen Wohnungsbestand, der da war, dass man den privatisiert hat.

Wohnraum-Diskussion bewegt Menschen mehr als Flüchtlingsdebatte

Karkowsky: Sie haben an anderer Stelle schon kritisiert, dass in den vergangenen Jahren auch viel zu wenig öffentlich diskutiert wurde über Wohnen und Mieten. Glauben Sie denn, das Thema bewegt die Menschen ebenso wie die Diskussion um Flüchtlinge, die ja immer an erster Stelle steht zurzeit?
Hannemann: Das ist auch ein sehr wichtiger Aspekt, weil ich frage mich manchmal, wie die Diskussionen gesteuert werden, was an erster Stelle steht. Und ich meine, dass die Flüchtlingsdebatte nicht so zentral ist, wie sie in den Medien dargestellt wird. Wenn ich unterwegs bin oder wenn ich mit Menschen rede, dann merke ich, oder wenn auf irgendwelchen Veranstaltungen die Menschen zusammenstehen und jünger sind, dann geht es immer ganz schnell ums Wohnen. Und dann sind da nicht so sehr andere Themen wie zum Beispiel die Flüchtlingspolitik im Vordergrund.
Also ich finde, oder es ist meine Einschätzung, dass die Medien hier sehr stark auch in die Richtung treiben.
Karkowsky: Ich las von Ihnen, dass Sie die Lage auf dem Wohnungsmarkt sogar demokratiegefährdend finden. Warum denn das?
Hannemann: Ja, das ist ein starkes Wort, ich weiß, aber es macht mir doch schon Sorgen in der Gestalt, dass, wenn ich meine Existenzsicherung nicht habe – und das ist nun mal mit dem Wohnen verbunden, also dass ich ein Bett habe, dass ich ein Dach über dem Kopf habe, dass ich eine Heizung habe – und dass das so viele Menschen so bewegt, dann habe ich keine Zeit und auch keinen Nerv und keine Geduld, dann habe ich so große Sorgen, dass ich mich um gesellschaftliche Zusammenhänge nicht kümmern kann.
Und dann habe ich das Empfinden, dass die Politik mich alleine lässt, dann gehe ich nicht zu den Kommunalwahlen und dann interessiere ich mich vielleicht für Positionen, die auch nicht demokratiegestaltend sind. Also ich sehe da eine ganze Kette von Zusammenhängen, die mit dieser Existenzgrundlage des Wohnens verbunden sind.
Teilnehmer einer Demonstration gegen Mietenwahnsinn und Verdrängung am 14.04.2018 in Berlin tragen ein Transparent mit der Aufschrift "Uns gehört die Stadt!". 
Demonstration gegen Mietenwahnsinn und Verdrängung am 14.04.2018 in Berlin© picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Und deshalb bin ich zu diesem starken Wort gekommen, demokratiegefährdend, also ich meine, dass mit der Wohnsituation ganz stark auch die Legitimation von gesellschaftlichen Verfahren und Prozessen verbunden ist. Und das sehe ich einfach schwinden, weil die Menschen das Empfinden haben, und das nicht zu Unrecht, dass ihre grundlegenden Lebenszusammenhänge nicht gestaltet werden.
Karkowsky: Betrifft das denn wirklich die gesamte Gesellschaft oder nur die Menschen in den Großstädten? Ich meine, auf dem flachen Land, da haben die Menschen doch eher das Problem, das von Oma geerbte Häuschen zu verkaufen, da gibt es eher zu viel Wohnraum oder?

"Zum Wohnen gehört auch eine bestimmte Infrastruktur"

Hannemann: Ja, was heißt zu viel Wohnraum? Wenn ich auf dem flachen Land lebe, habe ich wieder andere Wohnsorgen. Ich habe gerade Wohnen als Dach über dem Kopf skizziert, aber zum Wohnen gehört natürlich auch eine bestimmte Infrastruktur. Und wenn ich auf dem flachen Land lebe, jetzt natürlich plakativ zusammengefasst, dann habe ich eine schlechte Verkehrsanbindung, dann habe ich schlechten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, dann habe ich keine Kultureinrichtungen und so weiter. Und dann ist das wieder eine Frage der Infrastruktur.
Also natürlich auf der einen Seite habe ich diesen Drang, in der Stadt zu wohnen, gerade in den großen Metropolen in Deutschland, aber überall gibt es, auf dem flachen Land oder in der Stadt gibt es eklatante Wohnmängel.
Karkowsky: Würden Sie so weit gehen, zu sagen, dass die Wohnungsnot eine Existenzbedrohung darstellt für die Mittelschicht?
Hannemann: Also, Wohnungsnot würde ich nicht sagen, weil ich das natürlich auch immer historisch vergleiche – und das ist nicht zu vergleichen mit den Folgen der Industrialisierung und Urbanisierung im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Ich würde von einer Wohnungsmisere sprechen und insofern würde ich das schon etwas relativieren.
Karkowsky: Wie ist es, die Mittelschicht hätte ja nun in der weiter anhaltenden Niedrigzinsphase in den letzten Jahren schon die Chancen gehabt, Eigentum zu erwerben. Ist da immer nur die staatliche Politik dran schuld oder muss man da zum Teil dann auch die Menschen selbst für verantwortlich machen?

Eigentumsbildung keine Alternative für Jüngere

Hannemann: Natürlich ist in einer demokratisch verfassten Gesellschaft erst mal jeder selber zuständig für die Gestaltung seines Lebens. Aber das mit dem Eigentum erwerben, also da kann ich Ihnen berichten, in meiner Vorlesung, da habe ich Drittsemester, die sind ungefähr so 21, 23 Jahre alt, und die wollen überwiegend, obwohl ich ja in Schwaben eine Professur habe an der Uni in Stuttgart, die wollen kein Wohneigentum bilden. Das ist genau wie mit dem Besitz eines Privat-Pkws. Das sind alles Dinge, die belasten und für jüngere Generationen gar nicht das Ziel sind.
Und insofern ist dieses Wohnen aufs Eigentum zu reduzieren, finde ich dann auch eine Kurzführung der ganzen Debatte, weil natürlich eine hohe Mobilität und Flexibilität in der Lebensgestaltung erwartet wird und auch gewünscht wird. Und da ist eine Eigentumsbildung, die muss nicht unbedingt ins Lebensprogramm passen, abgesehen davon, dass natürlich jeder weiß, was so ein Hausbau bedeutet, die Verschuldung, die Zeit, die dafür aufgebracht werden muss – dazu haben zunehmend die jüngeren Leute keine Lust mehr.
Symbolbild Wohneigentum und  Eigenheimzulage mit einem Taschenrechner auf Bauplänen.
Hausbau: Für viele junge Menschen keine Alternative zum Mieten.© picture alliance / Bildagentur online
Karkowsky: Wenn Sie einen Ratschlag Bundesbauminister Seehofer und den anderen 100 Experten auf dem dreistündigen Wohngipfel heute im Kanzleramt mitgeben würden, wie würde der lauten?
Hannemann: Herrn Seehofer? Ich sehe ihn nicht als Bundesbauminister, da habe ich keinen Ratschlag für ihn.
Karkowsky: Nur ist er das ja offiziell, aber wenn Sie konstruktiv mal drüber nachdenken?
Hannemann: Wenn ich konstruktiv darüber nachdenke über Herrn Seehofer… Also, wie gesagt, ich sehe keinen Ansatz, ich finde die Entscheidung, das Baukindergeld in der Form aufzulegen, finde ich falsch. Da würde ich entscheidend umsteuern.
Karkowsky: Das sagt die Stuttgarter Wohnsoziologie-Professorin Christine Hannemann vor dem Wohngipfel im Kanzleramt heute. Frau Hannemann, Ihnen herzlichen Dank!
Hannemann: Vielen Dank Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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