Spaenle: Kultur des Hinsehens ist nötig

Ludwig Spaenle im Gespräch mit Marietta Schwarz |
Der Präsident der Kultusministerkonferenz und bayerische Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) spricht sich für die Schaffung externer Anlaufstellen für junge Menschen, die an Schulen Opfer von Missbrauch geworden sind, aus.
Marietta Schwarz: Seit Ende Januar das Berliner Canisius-Kolleg durch Missbrauchsfälle in die Schlagzeilen geraten ist, werden fast täglich neue Fälle an Schulen, Internaten und Kinderheimen überall in Deutschland bekannt. Es sind bislang überwiegend kirchliche Einrichtungen, doch wie die Odenwaldschule im hessischen Heppenheim jetzt beweist, ist sexueller Missbrauch auch jenseits von Klostermauern verbreitet. Eine Erkenntnis, die naheliegend ist, jetzt aber eben auch jene in die Pflicht nimmt, die mit dem täglichen Schulgeschäft zu tun haben: Lehrer, Erzieher, Pädagogen, Kultusminister, die Politik. Wie immer in solchen Situationen werden schnell Forderungen nach Maßnahmen laut, und welche Maßnahmen das sein könnten, darüber spreche ich mit dem bayerischen Kultusminister und Präsidenten der Kultusministerkonferenz, Ludwig Spaenle. Guten Morgen!

Ludwig Spaenle: Guten Morgen!

Schwarz: Herr Spaenle, Sie fordern ein Null-Toleranz-Prinzip für Tat und Täter. Das klingt erst mal markig, aber was verbirgt sich denn hinter diesen Worten konkret?

Spaenle: Konkret bedeutet es, dass niemand, der eine solche Tat zu verantworten hat, darauf rechnen können darf, dass er nicht gemeldet wird, dass er nicht gegenüber auch den Behörden gemeldet wird und letztlich auch natürlich dann mit einer entsprechenden Konsequenz zu rechnen hat, weil die ganz besondere Verantwortung, die jemandem obliegt, der mit Kindern und Jugendlichen umgeht, muss auch mit einer entsprechend klaren Strategie beantwortet werden, wenn er hier fehlt.

Schwarz: Wir sehen jetzt, dass von Schüler- und Elternseite ja sehr wohl Hinweise an die Schulen herangetragen worden sind, die dann aber häufig im Sande verliefen. Was läuft denn da falsch an den Schulen?

Spaenle: Ich möchte zunächst einmal sagen, es läuft nichts falsch an "den Schulen", sondern man muss wirklich in jedem Einzelfall den Dingen nachgehen, eben auch darauf hinwirken, dass eine Kultur des Hinsehens entwickelt wird, wo sie vielleicht noch nicht in dem Maße vorhanden ist, dass auf die Rücksichtnahme gegenüber der jeweiligen Schule oder Institution ein Stück weit verzichtet wird, wenn Kindeswohl, wenn das Wohl von Jugendlichen im Mittelpunkt steht. Darauf muss hingewirkt werden.

Schwarz: Wer muss denn da genau hinsehen, die Eltern, die Lehrer, die Schulleitung, die Kultusminister?

Spaenle: Zunächst ist es sicher so, dass insbesondere darauf geachtet werden muss, welche Ansprechpartner Kinder und Jugendliche haben. Auch da gilt wieder nicht eine pauschale Verurteilung aller Einrichtungen, aber es ist notwendig, die Personen, die etwa von den Kindern und Jugendlichen, von den Schülern selbst etwa als Verbindungslehrer ausgewählt wurden, die zu begleiten, hier vielleicht auch die Sensibilität noch zu verstärken. Das Zweite ist die Stärkung auch der Persönlichkeit der jungen Menschen. Es gibt da über die Bundesländer hinweg eine Fülle von Möglichkeiten und Programmen, das zu tun, auch einmal nein sagen zu können. Und das Dritte ist, zu überlegen – ich möchte das für Bayern tun, wo ich politisch Verantwortung trage -, wie man mit allen Betroffenen auch die Blickrichtung nach vorne, das Moment der Prävention stärken kann, wenn Sie wollen der Runde Tisch ist im Moment ein beliebtes Wort, aber eine entsprechende Übereinkunft zu erzielen, hier Möglichkeiten zu überprüfen. Und ich möchte ein Viertes, das kann ich nur anregen, nämlich die Möglichkeit zu prüfen, auch eine Anlaufstelle zu schaffen, die über eine Institution oder Schule hinausgeht, wenn man sieht, dass sich manche Jugendliche, manche Schülerin und Schüler nicht in der Lage sah, mit jemandem in einer Schule oder um das schulische Umfeld herum über diese Dinge zu sprechen.

Schwarz: Wie könnte eine solche Anlaufstelle aussehen? Der Lehrerverband hat ja gefordert, in allen Bundesländern Sonderbeauftragte zur Aufklärung solcher Übergriffe einzusetzen. Gehen Sie da d'accord?

Spaenle: Die Äußerungen gingen ja auch noch dahin, das für jede Schule zu tun. Wir haben ja Verbindungslehrer, oder Vertrauenslehrer. Das sind ja Persönlichkeiten aus den Kollegien, die von den Schülern benannt wurden, eben nicht sagen wir durch die Schuladministration mit dieser Aufgabe betraut sind. Das könnten solche möglichen Ansprechpartner an jeder Schule sein. Aber die Tatsache, dass doch Menschen auch oft Jahrzehnte erst später reden können, dass sie weder in ihrer Familie, noch in der Institution oder im Umfeld einer solchen Schule oder Einrichtung jemandem sich anvertrauen konnten, lässt mich zu dem Schluss kommen, dass man so eine Möglichkeit prüfen muss. Mehr kann ich nicht anregen, weil das natürlich etwas ist, das letztlich politisch dann auf der Ebene entschieden werden muss, wo solche Dinge hingehören.

Schwarz: Aber das Ziel müsste doch sein, dass die Schüler sich nicht erst Jahrzehnte später, sondern sofort melden, im Voraus am besten schon.

Spaenle: Ja. Das ist ja für mich der Anlass zu sagen, man muss eine solche Möglichkeit, eine über die Schule oder Einrichtung hinausgehende Anlaufstelle zu schaffen, eine solche Möglichkeit prüfen, natürlich unter dem präventiven Charakter. Der Eindruck, warum ich diesen Vorschlag mache, entsteht eben unter der Situation oder aus der Situation heraus, dass sich mancher erst sehr spät dazu persönlich in der Lage sieht. Deshalb, glaube ich, sollte man eine solche Möglichkeit ernsthaft prüfen.

Schwarz: Jetzt schauen wir doch noch mal näher auf die Schulen. Da kennen wir ja die Zustände. Sie haben von den Vertrauenslehrern gesprochen. Aber man muss ja auch sehen, das Pensum steigt, die Klassen werden nicht kleiner, der Druck bei allen Beteiligten ist hoch. Also brauchen wir da nicht auch mehr Manpower, sprich Psychologen, Betreuer, die in solchen, aber auch in anderen Fällen echte Ansprechpartner sind, und zwar an jeder Schule?

Spaenle: Also zunächst einmal ist natürlich die Personalversorgung an Schulen, nehme ich an, in ganz Deutschland an allen 45.000 Schulen immer verbesserungsfähig. Ich möchte jetzt die Frage von Klassengrößen und Lehrerversorgung wirklich nicht in einen ursächlichen Zusammenhang zu Missbrauchstatbeständen gestellt sehen.

Schwarz: Ich auch nicht!

Spaenle: Aber selbstverständlich ist ein Szenario, dass Ansprechpartner, die zur Verfügung stehen auch für Fälle, in denen sich junge Menschen Anfechtungen ausgesetzt sehen oder in Krisen befinden, ein wichtiges Ziel.

Schwarz: Sie haben den Runden Tisch angesprochen. Die Kultusministerkonferenz wird sich demnächst mit Bundesbildungsministerin Schavan zu dem Thema beraten. Aber was kann die Ministerin denn da eigentlich dazu beitragen? Bildung ist doch Ländersache.

Spaenle: Also zunächst einmal ist natürlich ein solcher Anstoß aufzunehmen, und wir wollen das auch tun. Wir werden ein entsprechendes Gespräch mit der Bundesministerin führen. Zunächst ist ja auch der Fokus darauf gelenkt worden, dass hier entsprechende auch pädagogische Konsequenzen zu ziehen sind. Aber es ist völlig richtig: Die Konsequenzen können nur in der politischen Verantwortung gezogen werden, wo sie verortet ist. Deswegen mache ich ja diesen Vorschlag auch nur als Vorschlag und werde entsprechend politisch handeln, wo ich unmittelbar zuständig bin, nämlich im Freistaat Bayern.

Schwarz: Der bayerische Kultusminister und Präsident der Kultusministerkonferenz, Ludwig Spaenle. Herzlichen Dank Ihnen für das Gespräch.

Spaenle: Vielen Dank! Auf Wiederschauen!
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