Rumänien und die Verbrechen des Kommunismus
In Rumänien wurden Menschen im Namen des Kommunismus misshandelt, inhaftiert und getötet. Mit der politischen Wende 1989 kam das Vertuschen und Verschweigen. Erst jetzt beginnt die Aufarbeitung.
Ein Treppenhaus in Bukarest. Hier im Zentrum der rumänischen Hauptstadt liegt die Altbauwohnung von Alexandru Vișinescu. Der 88-Jährige war im stalinistischen Rumänien Gefängniskommandant. Ihn will ich sprechen:
"Guten Tag!"
"Wer ist da?"
"Wir sind vom deutschen Radio..."
Eine aufgebrachte Nachbarin erscheint auf dem Flur. Sie schimpft. Ich soll den Mann in Ruhe lassen. Er ist alt und krank. Ich versuche trotzdem eine Frage zu stellen. "Nein", ruft die Nachbarin mir lautstark entgegen. Ich soll gehen und ihn in Ruhe lassen. Plötzlich öffnet der alte Mann seine Wohnungstür. Er ist klein und verblüffend agil, hat kurze weiße Haare und einen stechenden Blick. Wütend stürmt Alexandru Vișinescu los, schlägt um sich und schreit:
"Raus mit euch! Ihr habt kein Recht, hier aufzutauchen! Raus!"
"Darf ich Ihnen vielleicht..."
"Das interessiert mich nicht! Raus mit euch! Verdammt nochmal!"
Wir gehen. Alexandru Vișinescu schimpft weiter.
Der alte Mann war in den 1950er- und 1960er-Jahren Kommandant mehrerer Gefängnisse, in denen politische Häftlinge unter extrem unmenschlichen Bedingungen eingesperrt waren. Vișinescu ließ sie systematisch hungern und häufig in Dunkelzellen sperren, verweigerte ihnen medizinische Hilfe und Medikamente. Viele ältere Gefangene, darunter prominente Politiker der rumänischen Zwischenkriegszeit, starben unter diesen Bedingungen.
Anzeige wegen Völkermordes
Im August dieses Jahres erfuhr erstmals eine breite rumänische Öffentlichkeit von Vișinescus Biografie. Publik gemacht hatte sie das Bukarester "Institut zur Erforschung der kommunistischen Verbrechen". Der Leiter des Institutes, Andrei Muraru, kündigte an, dass man gegen 35 ehemalige Gefängnisdirektoren Anzeige erstatten werde, wegen inhumaner Behandlung von Gefangenen, Mordes und Völkermordes. Alexandru Vișinescu war der erste auf der Liste. Anfang September nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf. Die Chancen, dass es zur Anklage kommen werde, stünden gut, glaubt Andrei Muraru, dessen Forschungsinstitut die Vorwürfe erhob:
"Ich denke, der Prozess gegen Vișinescu könnte schon nächstes Frühjahr beginnen. Es ist gut möglich, dass er und andere verurteilt werden, denn wir haben handfeste Beweise vorgelegt. Aufgrund ihres hohen Alters werden diese Leute vermutlich nicht mehr ins Gefängnis kommen, aber ihre Schuld wird offiziell anerkannt sein, sie werden auch militärisch degradiert werden und ihre Renten verlieren. Natürlich muss man rechtsstaatliche Grundsätze einhalten, aber auf irgendeine Weise müssen sie bezahlen für ihre Verbrechen, dann wird der Gerechtigkeit Genüge getan."
Der Fall Vișinescu war der Auftakt zu einer so breiten öffentlichen Debatte über den kommunistischen Repressionsapparat in Rumänien, wie es sie nach dem Sturz des Diktators Ceaușescu im Dezember 1989 noch nicht gegeben hat. Doch nicht nur berichten die meisten Medien seit Monaten prominent über die Kampagne des "Institutes zur Erforschung der kommunistischen Verbrechen" – auch dass die Staatsanwaltschaft im Fall Vișinescu ermittelt, ist ein Novum in Rumänien.
"Wir sind Zeugen eines Generationenwechsels"
Bisher wurden in ähnlichen Fällen erst gar keine Ermittlungen aufgenommen, oder aber es hieß, die Straftatbestände seien bereits verjährt. Andrei Muraru erklärt sich den Umschwung so:
"Ich denke, wir sind Zeugen eines Generationenwechsels. Ich selbst bin 31 Jahre alt, die Staatsanwälte mit denen wir sprechen, sind zwischen 30 und 40. Es ist eine Generation, die beginnt, Fragen über die Vergangenheit zu stellen. Zugleich gibt es einen politischen Konsens über diese Initiative. Wir sind nicht mehr im Jahre 1990, als die Machthaber alles dafür taten, solche investigativen Untersuchungen zu verhindern. Dieser Moment eines Konsenses kommt sehr spät, aber besser spät als gar nicht.
Zu Besuch bei Cristinel und Aurora Dumitrescu, zwei Eheleute in den Achtzigern: An diesem Abend haben sie einige Freunde in ihr kleines Bukarester Stadthaus eingeladen. Aurora Dumitrescu zeigt auf eine zehn Jahre jüngere Freundin und scherzt bitterböse:
"Sie ist noch jung und war erst später dran. Aber ich bekam das Beste, was der Kommunismus zu bieten hatte, gleich am Anfang."
Alle in dieser Abendrunde waren in den 1950er- und 60er-Jahren politische Gefangene. Aurora Dumitrescu, geboren in Nordwestsiebenbürgen, wurde 1951 verhaftet, als sie 19 war. Ihr Vergehen: Sie hatte sich drei Jahre zuvor einer antikommunistischen Jugendgruppe angeschlossen. Über vage Pläne zum Freiheitskampf kamen die jungen Leute nie hinaus – doch Aurora Dumitrescu erhielt dafür sechs Jahre Gefängnis. In der Untersuchungshaft wurde sie mehrmals schwer geschlagen. Ein Vernehmer brach ihr die rechte Hand – sie ist bis heute verkrüppelt.
Aurora Dumitrescu: "Sie haben uns nicht wie Menschen behandelt. Es ging darum, uns auszulöschen. Ich habe nur überlebt, weil ich 19 war, viele, die älter waren, starben."
Sadistisches Vergnügen an Beschimpfungen
Im südrumänischen Frauengefängnis Mislea traf Aurora Dumitrescu auf den Kommandanten Alexandru Vișinescu. Er persönlich habe sie nicht geschlagen, erzählt die alte Dame, aber er habe sie wegen Kleinigkeiten ständig in die Dunkelzelle sperren lassen und ein sadistisches Vergnügen an Beschimpfungen gehabt.
Aurora Dumitrescu: "Kurz bevor Vișinescu im Frauengefängnis Mislea Kommandant wurde, im Sommer 1953, durfte ich zum ersten Mal meiner Mutter schreiben und sie um ein Paket mit Lebensmitteln bitten. Sie hatte seit 18 Monaten nichts von mir gehört. In der Hoffnung mich zu sehen, fuhr sie den ganzen langen Weg von Siebenbürgen nach Südrumänien und wollte das Paket persönlich überbringen. An dem Tag, als sie ankam, saß ich wieder einmal in der Dunkelzelle. Vișinescu ließ sie abweisen mitsamt dem Paket, und meine Mutter fuhr verzweifelt weg, in der Überzeugung, ich sei tot. Sehen Sie, so war Vișinescu. Dass ich immer wieder ein, zwei, drei Tage Dunkelarrest hatte, naja, so war das eben. Aber für die Tränen meiner Mutter soll seine Seele in der Hölle schmoren."
Auch Nina Moica sitzt an diesem Abend in der Runde der ehemaligen politischen Gefangenen:
"Wie kann es sein, dass so viele ältere Leute behaupten, sie hätten von nichts gewusst, wenn doch überall Massenverhaftungen stattfanden?"
Nina Moica ist siebzig Jahre alt, eine schöne, jung gebliebene Dame, die große Würde ausstrahlt. Sie wurde verhaftet, als sie fünfzehn war, ebenfalls wegen Mitgliedschaft in einer antikommunistischen Jugendgruppe – und bekam zwanzig Jahre Gefängnis dafür. Mit ihr zusammen wurde ihr völlig ahnungsloser Vater verurteilt, zu sechs Jahren.
Bis zur Volljährigkeit in Einzelhaft
Nina Moica verbrachte die Zeit bis zur Volljährigkeit in Einzelhaft, danach musste sie Zwangsarbeit leisten, 1963 kam sie nach fünf Jahren vorzeitig frei. Eigentlich hatte sie studieren wollen. Stattdessen wurde sie Buchhalterin und schlug sich durch:
"Sie haben mir meine Jugend gestohlen und mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Ich habe von einem anderen Leben geträumt. Nun ja, so war das eben. Immerhin wurde ich nicht geschlagen. Aber all die Demütigungen, die Beschimpfungen, die Kälte, der ständige Hunger, das Fehlen irgendwelcher Hygienemöglichkeiten für Frauen und vor allem, dass sie Minderjährige nicht anders behandelten als Erwachsene – all das war sehr schlimm."
"Ich glaube nicht, dass die ehemaligen Gefängniskommandanten und diejenigen, die uns verurteilt haben, bestraft werden. Die meisten von ihnen sind ruhig im Bett gestorben und hatten sehr hohe Renten. Für diejenigen, die noch am Leben sind, wird man einen Weg finden, damit auch sie ein ruhiges Ende genießen dürfen."
So skeptisch wie Nina Moica sind auch die anderen in der Runde. Anders als der optimistische junge Leiter des "Institutes zur Erforschung der kommunistischen Verbrechen" glauben sie nicht daran, dass die ehemaligen Gefängnisdirektoren verurteilt werden. Tatsächlich hat ein vollständiger Generationswechsel in Rumänien bisher nicht stattgefunden. Von den Angehörigen des Staatssicherheits- und Repressionsapparates der 1950er- und frühen 1960er-Jahre leben nur noch wenige – doch viele ihrer Nachfolger sind bis heute im Amt.
Eine undurchdringliche Mauer des Schweigens
Miercurea Ciuc, eine Kreisstadt in den Ostkarpaten: Im ersten Stock des Polizeipräsidiums befindet sich das Büro von Radu Moldovan. Der Kreispolizeichef ist nicht zu sprechen – jedenfalls nicht, wenn man ihn zu seiner Vergangenheit befragen will. Moldovan ist heute 54 – und war von 1985 bis 1991 leitender Vernehmungsbeamter der Miliz – einer gefürchteten Ermittlungseinheit der Polizei. Er soll unter anderem Jugendliche misshandelt haben, die politisch auffielen oder versuchten über die Grenze in das relativ liberale Ungarn zu fliehen.
Schon einmal, im Jahr 2008, erstattete das "Institut zur Erforschung der kommunistischen Verbrechen" deswegen Anzeige gegen Moldovan. Doch dann zogen die meisten Zeugen ihre Aussagen zurück – und die Militärstaatsanwaltschaft nahm keine strafrechtlichen Ermittlungen auf.
Heute stoßen Journalisten auf eine undurchdringliche Mauer des Schweigens und der Angst, wenn sie in der Stadt nach der Biografie des Kreispolizeichefs fragen. Nach langwierigen Recherchen tauchen einige Betroffene auf, die von Moldovan misshandelt wurden, doch sie wollen nicht öffentlich sprechen, nicht einmal anonym, aus Angst, die Details könnten sie identifizieren. Sie befürchten Schikanen oder gar Repressalien, auch gegen ihre Familien.
Ein einziger Betroffener ist bereit, Zeugnis abzulegen – wohl auch, weil er weit entfernt lebt: Mihály András, heute wohnhaft in Dallas im US-Bundesstaat Texas. Er erzählt mir seine Geschichte via Internet:
"Es war an einem Abend im Februar 1988, da war es wie üblich eisig kalt, aber ich wollte nur schnell Zigaretten kaufen und zog deshalb eine dünne Jacke an. Auf dem Rückweg traf ich einen guten Freund, wir waren damals Nachbarn und gingen zusammen nach Hause. Als wir gerade die Straße am großen Platz im Zentrum überqueren wollten, hielt plötzlich ein blauer Geländewagen der Miliz vor uns an. Vier Soldaten mit Gewehren sprangen heraus, angeführt von Moldovan.
"Sie haben uns mit Gewehrkolben verprügelt"
Mihály András, geboren 1963, war als Jugendlicher frech, vorlaut, rebellisch und – er hasste die Ceaușescu-Diktatur. Schon als Schüler schmierte er Toiletten mit dem Wort "Freiheit!" voll und sang auf der Straße verbotene Lieder:
"Sie fingen an, auf uns einzuschlagen. Sie haben uns mit Gewehrkolben und Stiefeln verprügelt, bis wir am Boden lagen. Dann haben sie uns ins Auto getragen und rasten davon. Wir fuhren vielleicht zwanzig Minuten. Dann hielten sie an, zerrten uns heraus und warfen uns in den Schnee, mitten im Wald. Es war bestimmt minus 28, 30 Grad. Wohl durch die Kälte kamen wir irgendwann wieder zu uns. Überall an uns klebte gefrorenes Blut.
Warum dieser Überfall? Der Mann überlegt. Nach dem Abitur hat Mihály András als Schlosser gearbeitet. Eines Nachts klebte er an ein Kaufhausfenster ein Ceaușescu-Bild mit den Worten "Nieder mit der Diktatur". Das war 1983. Er kam für zehn Tage in Untersuchungshaft. Doch man konnte ihm nichts nachweisen. Zwei Jahre später, 1985, wurde Radu Moldovan Ermittler der Polizei. Damals versuchte er mehrmals, Mihály András als Informanten zu gewinnen – doch der lehnte ab. Womöglich war das der Grund für den Überfall.
Mihály András: "Unser Glück war, dass sie uns nicht zu weit vom Auto weggeschleift hatten. In jener Nacht schien der Mond, und wir fanden die Spuren des Geländewagens. Wir folgten ihnen und kamen an eine Straße, dort hielten wir dann einen Wagen an, der uns in die Stadt brachte. Zwei Monate später bin ich aus Rumänien nach Ungarn abgehauen. Ich dachte, wenn ich bleibe, bringen sie mich um."
Karriere nach dem Sturz der Diktatur fortgesetzt
Der Kreispolizeichef Moldovan konnte seine Karriere nach dem Sturz der Diktatur fortsetzen und darf sich auf eine auskömmliche Rente freuen. Abgesehen von der erfolglosen Strafanzeige gegen ihn im Jahre 2008 hat das "Institut zur Erforschung der kommunistischen Verbrechen" bisher keine Kampagne gegen noch aktive Beamte des früheren Repressionsapparates unternommen – nur Gefängnisdirektoren der 1950er-Jahre wurden angezeigt. Aber das sei nur der Anfang, ist sich Institutsleiter Andrei Muraru sicher:
"Es war klar, dass wir mit den 1950er-Jahren beginnen mussten. Diese Gefängnisdirektoren sind sehr alt, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie sterben, ist relativ hoch, viel höher als bei den Securitate-Offizieren der 1970er- und 80er-Jahre, aber wir kommen auch noch zu denen, da können Sie sicher sein. Außerdem mussten wir mit Leuten anfangen, die schreckliche sichtbare Verbrechen begangen haben, wo es konkrete Opfer gibt. Die Diskussion wäre niemals so groß gewesen, wenn wir Securitate-Offiziere angezeigt hätten, die nur Papiere unterzeichneten. Aber wir werden ganz sicher auch zu diesen Verbrechen kommen, zu den Verbrechen beim Sturz Ceaușescus oder, wie wir es für nächstes Jahr planen, zu den Fällen der Leute, die bei der Flucht aus Rumänien an der Grenze erschossen wurden."