Späte Aufarbeitung, spätes Gedenken
Mindestens 300.000 Menschen wurden während der NS-Diktatur ermordet, weil sie nach der Rassenideologie der Nazis als "unwertes Leben" galten: Behinderte oder psychisch Kranke. In Berlin entsteht nun in der Nähe der Philharmonie ein Gedenkort für die Opfer.
Es war der erste systematische Massenmord der Nationalsozialisten. Die ihn planten, koordinierten, gaben ihrer Organisation den Decknamen "T4": In der Berliner Tiergartenstraße 4 befand sich ihre Zentrale. Zwischen 1939 und 1941 ermordeten Ärzte und Pflegekräfte der SS mehr als 70.000 Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten im gesamten Deutschen Reich. Dabei beriefen sie sich auf das NS-"Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", das am 14. Juli 1933 als erstes Rassegesetz der Nationalsozialisten erlassen worden war.
Wer auch nur im Verdacht stand, an einer körperlichen oder geistigen Krankheit zu leiden, konnte zwangssterilisiert, in eine Anstalt eingewiesen werden; Denunziationen waren an der Tagesordnung.
In Berlin führten Proteste der Kirchen sowie öffentliche Unruhen 1941 zu einem sogenannten "Euthanasiestopp"; doch wurde das Töten - nun nicht mehr zentral organisiert und daher weniger offensichtlich - im gesamten Deutschen Reich, auch in vielen besetzten Gebieten, fortgesetzt. Die Gesamtzahl der Ermordeten wird auf mindestens 300.000 geschätzt.
Nach dem Krieg mussten die Überlebenden die bittere Erfahrung machen, als Opfer des Nationalsozialismus offiziell nicht anerkannt zu werden: Erst 1988 verurteilte der Bundestag die Zwangssterilisationen als NS-Unrecht und brachte ein Entschädigungsgesetz auf den Weg; erst 2011 wurde auch den Kindern der NS-"Euthanasie"-Opfer das Recht auf Entschädigung zugebilligt.
Seit 1987 gibt es am Ort der ehemaligen Villa Tiergartenstraße 4, unmittelbar vor der Philharmonie, eine Gedenkplakette und eine Erinnerungsskulptur von Richard Serra. Einer Betroffenen, Sigrid Falkenstein, reichte das nicht.
"Ich habe hier vor vielen Jahren, 2006 genau gesagt, diesen Gedenkort für die Opfer der 'Euthanasie' aus einem ganz persönlichen Grund gesucht. Ich habe nämlich kurz davor erfahren, dass meine Tante Opfer der 'Euthanasie' wurde. Das war in der Familie verschwiegen worden. Und als ich dann hier plötzlich vor einer Platte stand, die unscheinbar war, die verschmutzt war, wirkte das auf mich wie ein weiteres Symbol für das Vergessen. Und das hat mich empört, und ich habe dann angefangen, Briefe zu schreiben, Petitionen einzureichen, das man hier an der Tiergartenstraße 4 einen Ort des Gedenkens, aber auch der Information errichtet, der in einer Reihe steht mit den anderen zentralen Gedenkorten.""
Gemeinsam mit Andreas Nachama von der "Stiftung Topographie des Terrors" gründete Sigrid Falkenstein einen "Runden Tisch: Überlegungen zur Umgestaltung des T 4-Gedenkortes"; daraus ging 2011 der Bundestagsbeschluss hervor, einen erheblich erweiterten "Gedenk- und Informationsort" zu bauen.
Den Gestaltungswettbewerb gewann ein Entwurf der Architektin Ursula Wilms, des Konzeptkünstlers Nikolaus Koliusis und des Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann. Gebaut wird: auf einer schiefen Fläche aus anthrazitfarbenen Betonplatten, die den Grundriss der Villa nachzeichnet, eine 31 Meter lange und gut drei Meter hohe Glaswand, hellblau eingefärbt, aber transparent.
Daneben werden, auf einer schräg gestellten Betonwand aus 13 Elementen und Medienstationen, Informationen zur "Aktion T 4" gegeben, werden beispielhafte Opferbiografien erzählt und gezeigt – damit die Aufarbeitung - nicht nur der NS-"Euthanasie"-Morde - vorankommt.
Sigrid Falkenstein: "Ich kann für mich und meine Familie sagen: Wir sind vielleicht ein Beispiel, da hat Aufarbeitung stattgefunden. Ich kenne aber viele andere Familien, da hat die Aufarbeitung überhaupt noch nicht stattgefunden, da wird immer noch schamhaft geschwiegen, da gibt's immer noch den Makel der 'Erbminderwertigkeit', der möglicherweise auch gesellschaftlich nach wie vor zumindest in einigen Bereichen Nahrung findet. Es ist immer heute noch sicherlich schwieriger zu sagen: 'Ich habe einen Bruder, der ist schizophren', als beispielsweise 'Ich habe Diabetes'. Wo wir wirklich stehen ... ja, wir sind auf einem Weg ... mit Sicherheit."
Bernburg, Hadamar, Grafeneck, Pirna-Sonnenstein – es gibt in Deutschland schon einige Gedenkstätten für die Opfer der NS-"Euthanasie". Ausgerechnet in Berlin gibt es Vergleichbares noch nicht. Ulrich Baumann, stellvertretender Direktor der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas":
"Es ist ... ich glaube, schon seit 10,15 Jahren an vielen Stellen, dort wo die Morde eigentlich passierten, dort fing man ja auch an, das aufzudecken. Das Denkmal in Berlin kommt für meine Begriffe spät, viel zu spät sowieso, aber es kommt eben auch im Prozess der Aufarbeitung spät. Aber so ist die deutsche Gedenkkultur, es ist oft gewesen, dass es dezentral erst begonnen hat, die Aufarbeitung."
Die "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" war schon am "Runden Tisch" beteiligt, sie begleitete den Wettbewerb – und wird den "Gedenk- und Informationsort" auch weiterhin betreuen, finanziell unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Einen Katalog, eine Website wird es geben. Das Land Berlin stellt das Grundstück zur Verfügung, der Bund gibt 500.000 Euro für die Baukosten. Im Herbst 2014 soll er eröffnet werden – endlich.
Wer auch nur im Verdacht stand, an einer körperlichen oder geistigen Krankheit zu leiden, konnte zwangssterilisiert, in eine Anstalt eingewiesen werden; Denunziationen waren an der Tagesordnung.
In Berlin führten Proteste der Kirchen sowie öffentliche Unruhen 1941 zu einem sogenannten "Euthanasiestopp"; doch wurde das Töten - nun nicht mehr zentral organisiert und daher weniger offensichtlich - im gesamten Deutschen Reich, auch in vielen besetzten Gebieten, fortgesetzt. Die Gesamtzahl der Ermordeten wird auf mindestens 300.000 geschätzt.
Nach dem Krieg mussten die Überlebenden die bittere Erfahrung machen, als Opfer des Nationalsozialismus offiziell nicht anerkannt zu werden: Erst 1988 verurteilte der Bundestag die Zwangssterilisationen als NS-Unrecht und brachte ein Entschädigungsgesetz auf den Weg; erst 2011 wurde auch den Kindern der NS-"Euthanasie"-Opfer das Recht auf Entschädigung zugebilligt.
Seit 1987 gibt es am Ort der ehemaligen Villa Tiergartenstraße 4, unmittelbar vor der Philharmonie, eine Gedenkplakette und eine Erinnerungsskulptur von Richard Serra. Einer Betroffenen, Sigrid Falkenstein, reichte das nicht.
"Ich habe hier vor vielen Jahren, 2006 genau gesagt, diesen Gedenkort für die Opfer der 'Euthanasie' aus einem ganz persönlichen Grund gesucht. Ich habe nämlich kurz davor erfahren, dass meine Tante Opfer der 'Euthanasie' wurde. Das war in der Familie verschwiegen worden. Und als ich dann hier plötzlich vor einer Platte stand, die unscheinbar war, die verschmutzt war, wirkte das auf mich wie ein weiteres Symbol für das Vergessen. Und das hat mich empört, und ich habe dann angefangen, Briefe zu schreiben, Petitionen einzureichen, das man hier an der Tiergartenstraße 4 einen Ort des Gedenkens, aber auch der Information errichtet, der in einer Reihe steht mit den anderen zentralen Gedenkorten.""
Gemeinsam mit Andreas Nachama von der "Stiftung Topographie des Terrors" gründete Sigrid Falkenstein einen "Runden Tisch: Überlegungen zur Umgestaltung des T 4-Gedenkortes"; daraus ging 2011 der Bundestagsbeschluss hervor, einen erheblich erweiterten "Gedenk- und Informationsort" zu bauen.
Den Gestaltungswettbewerb gewann ein Entwurf der Architektin Ursula Wilms, des Konzeptkünstlers Nikolaus Koliusis und des Landschaftsarchitekten Heinz W. Hallmann. Gebaut wird: auf einer schiefen Fläche aus anthrazitfarbenen Betonplatten, die den Grundriss der Villa nachzeichnet, eine 31 Meter lange und gut drei Meter hohe Glaswand, hellblau eingefärbt, aber transparent.
Daneben werden, auf einer schräg gestellten Betonwand aus 13 Elementen und Medienstationen, Informationen zur "Aktion T 4" gegeben, werden beispielhafte Opferbiografien erzählt und gezeigt – damit die Aufarbeitung - nicht nur der NS-"Euthanasie"-Morde - vorankommt.
Sigrid Falkenstein: "Ich kann für mich und meine Familie sagen: Wir sind vielleicht ein Beispiel, da hat Aufarbeitung stattgefunden. Ich kenne aber viele andere Familien, da hat die Aufarbeitung überhaupt noch nicht stattgefunden, da wird immer noch schamhaft geschwiegen, da gibt's immer noch den Makel der 'Erbminderwertigkeit', der möglicherweise auch gesellschaftlich nach wie vor zumindest in einigen Bereichen Nahrung findet. Es ist immer heute noch sicherlich schwieriger zu sagen: 'Ich habe einen Bruder, der ist schizophren', als beispielsweise 'Ich habe Diabetes'. Wo wir wirklich stehen ... ja, wir sind auf einem Weg ... mit Sicherheit."
Bernburg, Hadamar, Grafeneck, Pirna-Sonnenstein – es gibt in Deutschland schon einige Gedenkstätten für die Opfer der NS-"Euthanasie". Ausgerechnet in Berlin gibt es Vergleichbares noch nicht. Ulrich Baumann, stellvertretender Direktor der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas":
"Es ist ... ich glaube, schon seit 10,15 Jahren an vielen Stellen, dort wo die Morde eigentlich passierten, dort fing man ja auch an, das aufzudecken. Das Denkmal in Berlin kommt für meine Begriffe spät, viel zu spät sowieso, aber es kommt eben auch im Prozess der Aufarbeitung spät. Aber so ist die deutsche Gedenkkultur, es ist oft gewesen, dass es dezentral erst begonnen hat, die Aufarbeitung."
Die "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" war schon am "Runden Tisch" beteiligt, sie begleitete den Wettbewerb – und wird den "Gedenk- und Informationsort" auch weiterhin betreuen, finanziell unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft: Einen Katalog, eine Website wird es geben. Das Land Berlin stellt das Grundstück zur Verfügung, der Bund gibt 500.000 Euro für die Baukosten. Im Herbst 2014 soll er eröffnet werden – endlich.