Späte Trauerarbeit

Von Christian Gampert |
Ein langsamer, trauriger und politischer Marthaler-Abend: Bei den Wiener Festwochen siegt in "Letzte Tage" die Musik toter jüdischer Komponisten nachträglich über die rassistische Politik der Nazis und ihrer österreichischen Kumpane.
Leise Klavierakkorde wehen herein, und das dauert ziemlich lange. Eine musikalische Erinnerung, aber an was? Nichts passiert. Dann kommt eine Gruppe Putzfrauen, die das Gestühl abstauben und geziert ihre Beine zeigen – haben sie Laufmaschen, Krampfadern oder doch eher blaue Flecken? Danach erscheinen, in Anzug, aber mit clownesken Hütchen auf dem Kopf, einige Politiker, die gleich Reden halten werden. Frauen und Männer, ein bisschen skurril, ein bisschen lebensunfähig: Die Schauspieler der Marthaler-Familie laufen sich mit ein paar Körperübungen für den Abend warm. Aber sie werden sich gleich in politische Monster verwandeln, die mit großer Lässigkeit die übelsten Ressentiments von sich geben ...

Wir befinden uns im österreichischen Parlament, einem hohen, klassizistischen Gebäude, das die Menschen klein macht: Der Sitzungssaal ist ein beeindruckend weiter Raum mit altmodischen Sitzen; goldene Mosaiken an den Decken, seitlich Karyatiden aus der Mythologie, steinerne Frauenfiguren, die zum Teil mit Plastikbahnen abgedeckt sind. Hier inszeniert der Regisseur Christoph Marthaler fast drei Stunden lang Parlamentarier-Ticks, Geschäftigkeit, Politik-Rituale, Ängste und Vorurteile – und grundiert das musikalisch mit Stücken jener jüdischen Komponisten, die vor dem Ersten Weltkrieg zumeist in Wien geboren wurden, im heutigen Tschechien, in Polen, und von denen nicht wenige dann im KZ "starben", wie es oft beschönigend heißt; also: Sie wurden umgebracht.

Diese Lieder, Walzer und Orchesterstücke stehen vor allem in der Tradition des osteuropäischen Judentums, aber vielfach scheint auch schon die neue Musik eines Schostakowitsch oder Prokofjef durch. Marthaler will Trauer- und Gedächtnisarbeit leisten, indem er diese Stücke in der politischen Entscheidungszentrale aufführt. Zunächst war der – von den damaligen Zeitgenossen – als apokalyptisch empfundene Vorabend des Ersten Weltkriegs als politischer Bezugspunkt gedacht, deshalb heißt der Abend auch "Letzte Tage" – und spielt auf Karl Kraus’ "Letzte Tage der Menschheit" an. Jetzt aber überlagern sich verschiedene Zeitebenen, sogenannte "europäische Geschichts-Schleifen".

Antisemitismus in scheinheiliger Sanftheit
Man hört antisemitische Reden vom Ende des 19.Jahrhunderts ebenso wie aktuelle Rassismen der Globalisierung. Der psychologische Brennpunkt des Abends ist erreicht, wenn der Schauspieler Josef Ostendorf mit inbrünstiger, scheinheiliger Sanftheit eine fanatische antisemitische Parlaments-Tirade aus dem Jahr 1894 vorträgt (stammt sie wirklich von dem langjährigen Wiener Bürgermeister Karl Lueger?): Überall sieht er nur Juden, im Stadtpark, auf dem Ring, in den Zeitungen, an der Universität …

Die Inszenierung collagiert Gesten, Haltungen, Ticks, Rhetoriken von Abgeordneten zu einem grotesken Zerrbild der Demokratie – bis hin zu einer Rede des amtierenden ungarischen Regierungs-Chefs Viktor Orbán. Der Schauspieler Ueli Jaeggi, der das vorturnt, kommt nur mit vielen Slapstick-artigen Verrenkungen wieder von seiner Tribüne herunter. Die Texte sind teils dokumentarisch, teils fingiert, aber immer nah auch an der heutigen politischen Realität. Zwischendrin eine Invasion asiatischer Touristen, die das Parlament fotografieren – hier wird also aus einer fernen globalisierten Zukunft auf das alte Europa zurückgeblickt. Und es ist bei Marthaler immer klar, dass Parlamente schon lange nichts mehr zu sagen haben.

Dann aber ergreift die Musik gebieterisch das Zepter. Immer neu setzt die famose "Wiener Gruppe" an, ein kleines Instrumental-Ensemble mit Violine, Viola, Klarinette, Akkordeon, Klavier und Kontrabass. Uli Fussenegger hat die meist melancholischen jüdischen Stücke für diese Minimalbesetzung arrangiert: Es sind Lieder, Elegien, Tänze, manchmal formieren sich die Sänger-Schauspieler für Chorstücke oder liturgische Formen. Vieles davon wurde im KZ ersonnen, vor allem in Theresienstadt – und der Komponist Viktor Ullmann bestand darauf, dass man auch unter solchen Bedingungen arbeiten, die strenge Form durchsetzen könne.

Die meisten dieser Tonsetzer sind unbekannt geblieben, Viktor Ullmann, Erwin Schulhoff, Józef Koffler, Pavel Haas – eben weil sie im KZ oder anderswo einen schrecklichen Tod starben. Christoph Marthaler will ihnen nun Reverenz erweisen: die Mezzosopranistin Tora Augestad singt betörende Elegien, die Pianistin Hsin-Huei Huang spielt schräge neutönende Cluster. In diesem letzten Teil der Aufführung wird der Abend zu einem großen Trauergottesdienst: Die Musik der jüdischen Komponisten siegt – nachträglich – über die Politik; das ist sicherlich ein Höhepunkt der diesjährigen Wiener Festwochen. Und doch: am Ende der Aufführung verschwinden die Menschen, ganz leise, mit einem Chor von Mendelssohn-Bartholdy. Aber aus den Gängen hallt ihre Musik noch lange nach …

Informationen der Wiener Festwochen zu "Letzte Tage"
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