Die fantastische Seite der Anita Rée
Streng und neusachlich-distanziert, so kennt man die Selbstbildnisse von Anita Rée. Die Hamburger Kunsthalle zeigt nun unbekannte, fantastische Facetten ihres Werks - und stellt die von den Nazis verfemte Malerin in das Licht, das ihr schon immer gebührte.
Die Hand am Kinn, die dunklen Haare streng zurückgekämmt, die schwarzen Augen ins Nichts gerichtet - so nachdenklich malte sich Anita Rée in ihren Selbstporträts oft. Diese Bilder vor allem verbindet man mit ihrem Werk.
Und nun dies: Frühe kubistische Porträts schmaler, blasser Kinder. Bis zu Karikaturen zugespitzte neusachliche Porträts der Hamburger High Society. Karge, menschenfeindliche süditalienische Landschaften, die jegliche Idealisierung des Sehnsuchtslandes verweigern. Sinnlich-freche Postkartencollagen, sowie noch nie ausgestellte, mit fantastischen Fabelwesen bemalte Schränke und Kommoden.
Kuratorin Karin Schick:
"Die Künstlerin hat mich schon immer interessiert, weil ich glaube, dass ihr Werk von hoher Qualität ist und sie auch bedeutsam ist für die 20er Jahre und für die Kunst der Klassischen Moderne."
Bisher wurde, was von ihrem Werk erhalten blieb, meist biografisch interpretiert: Weil sich die Künstlerin 1933 das Leben nahm und die Faschisten ihr Werk als "entartet" diffamierten, galten zum Beispiel die nachdenklichen Selbstporträts als Vorboten ihres Selbstmordes, verstand man die Malerin vor allem als Opfer.
"Ein Gedanke, der mich von Anfang an getragen hat, war: Ich möchte sie als aktive Persönlichkeit sehen. Ich möchte sie nicht sehen als Opfer. Ich möchte sie nicht sehen, als jemand, der so gefangen war in allen Bedingungen."
Dank ihrer Forschungen in in- und ausländischen Archiven stießen Karin Schick und ihre Kollegen auf bisher unbekannte Korrespondenzen, Namen von Privatsammlers, auf Ankaufslisten. So konnten sie für die Ausstellung insgesamt 200 Arbeiten von 91 internationalen Leihgebern zusammentragen, die nun erstmals den Blick auf die künstlerische Leistung Anita Rées richtet, und auf die selbstbewusste Zielstrebigkeit der Malerin:
Keine regionale, zurückhaltende Maus
Die protestantisch erzogene Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie wurde 1884 geboren. Weil Mädchen nicht studieren durften, erhielt sie Privatunterricht, ließ sich in Paris von der Avantgarde inspirieren und entwickelte Anfang der 20er Jahre in Italien eine neusachlich-distanzierte Malerei, die die Kritiker begeisterte.
"Sie hat in den 20er Jahren in skandinavischen Ländern ihre Werke gezeigt, überall in Deutschland, sie hatte 1930 auch ein Werk in Cambridge, das haben wir jetzt rausgefunden. Sie war keineswegs so eine regionale, schüchterne, zurückhaltende Maus."
Erkenntnisreiches Herzstück der Ausstellung bildet die Zeit in Italien: Von 1922 bis 1925 lebte Anita Rée in einem Dorf in Süditalien, reiste zu den Werken Giottos und Pierro de la Francescas - und veränderte ihre Malerei radikal: In ihren Porträts begann sie, zu typisieren: Frauen verlieh sie meist ovale Gesichter mit in sich gekehrten Blicken und präsentierte sie vor dem leuchtend roten Hintergrund der Maler der Frührenaissance. Verbunden mit einem feinen, neusachlichen Strich würdigte sie so Bäuerinnen und Mägde in modernen Renaissanceporträts.
"Das heißt: Diese neue Malerei ist zum Teil sehr modern, also ihrer Zeit und der Zeitgenossenschaft entsprechend. Und zum Teil auch rückwärts gewandt, mit Blick eben auf die alten Meister und was man daraus lernen kann. Und das war - in ganz anderer Form, aber dem Denken nach - bei Otto Dix nicht anders."
Diffamierung durch die Nazis und Selbstmord mit 47 Jahren
Zurück in Hamburg riss man sich um ihre Bilder. Die Recherchen zur Ausstellung ergaben: Schon Anfang der 20er Jahre hatte sich Anita Rée ein Netzwerk aus kunstsinnigen Kaufmannsfamilien aufgebaut, aus Sammlern, Mäzenen, Galeristen, mit deren Gattinnen sie oftmals befreundet war.
"Ich war so froh, dass wir auch im eigenen Archiv und in anderen ihre Aktivität nachweisen konnten! Wir haben gesehen im Vergleich mit anderen Künstlern und deren Preisen auf dem Kunstmarkt, dass sie ein hohes Selbstwertgefühl hatte und ganz sicher war, dass ihre Kunstwerke mindestens so viel wert sind oder mehr!"
1932 begann die nationalsozialistische Presse sie als "jüdische Malerin" zu diffamieren. Rée flüchtete sich nach Sylt. Wenig später wurde sie als "artfremdes Mitglied" aus der Hamburger Künstlerschaft ausgeschlossen. In dieser Zeit entstanden Zeichnungen albtraumhafter, karger Dünenlandschaften und verlassen im Nebel stehender Schafe, mit denen die Ausstellung schließt. Ende 1933, Anita Rée war 48 Jahre alt, nahm sie sich das Leben - und wurde vergessen. Sie über Hamburg hinaus endlich wieder ins Bewusstsein zu rücken, ist denn auch das drängendste Anliegen der Kuratorin.
"Wir hatten zum Beispiel jetzt schon in den letzten Wochen Anfragen vom jüdischen Museum in New York, das sich für die Künstlerin interessiert und sie wahrnimmt. - Sie sichtbar machen, in ihrer Vielfalt, das wollen wir!"