Übermüdet im Klassenzimmer

Welche Vorteile hat ein späterer Schulbeginn?

06:45 Minuten
Ein Schuljunge schläft mit dem Kopf auf dem Schreibtisch zwischen zwei am Unterricht aktiv teilnehmenden Schülerinnen.
„Kinder sind überwiegend Frühtypen", erklärt der Arzt Alfred Wiater. "Mit der Pubertät kommt es dann zu einer Verschiebung in Richtung Spättypen.“ © Getty Images / fStop / Malte Mueller
Von Mirjam Stöckel · 12.09.2022
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Jugendliche in der Pubertät sind für die erste Schulstunde kaum rechtzeitig wachzukriegen. Das liegt an ihrem veränderten Biorhythmus. Aber warum ändert sich für sie trotz langjähriger Forderungen von Forschenden nichts an dem frühen Schulbeginn?
6.30 Uhr – und der Durchschnittsteenie kommt kaum aus dem Bett. Erklären lässt sich das mit der genetisch festgelegten, inneren Uhr jedes Menschen und damit, dass die in einem bestimmten Alter oft ihren Takt ändert, gewissermaßen.
Alfred Wiater, Kinder- und Jugendarzt und Vorstandsreferent der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin erklärt: „Kinder sind überwiegend Frühtypen, die sind ja schon oft sehr früh munter. Mit der Pubertät kommt es dann zu einer Verschiebung in Richtung Spättypen.“

Spättypen mit hohem Schlafbedarf

Spättypen sind – im Gegensatz zu den Früh- und den Normaltypen – vor allem nachmittags und abends leistungsfähig und werden erst tief in der Nacht zum Einschlafen müde. Sprich: Viele Teenager müssten morgens ziemlich lang schlafen dürfen. Sie brauchen nämlich acht bis zehn Stunden pro Nacht.
Blöd, wenn der Wecker einen dann um 6 Uhr 30 zur ersten Stunde aus dem Tiefschlaf reißt. Wer unausgeschlafen im Unterricht sitze, könne sich schlechter konzentrieren, mache mehr Fehler und sei weniger leistungsfähig, sagt Schlafmediziner Wiater.

Da gibt es eine Reihe von wissenschaftlichen Studien, die das belegen. Und auf Dauer kommen dann natürlich die Folgen des chronischen Schlafmangels hinzu.

Kinder- und Jugendarzt Alfred Wiater

Ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen etwa.
Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin und auch Fachleute im Ausland fordern deshalb schon seit Jahren: Unterricht für Jugendliche erst ab 9 Uhr.
„Die Daten, die vorliegen, sind eindeutig. Die sind auch international vergleichbar. Um Konsequenzen zu ziehen, wissen wir im Grunde das, was wir wissen müssen“, sagt der Mediziner.
Nur: Bisher tut sich quasi nichts an Deutschlands Schulen – und Teenies müssen meist zwischen halb acht und acht da sein.

Schülergleitzeit – eine große Ausnahme

Das Gymnasium Alsdorf in der Nähe von Aachen ist die große Ausnahme: Oberstufenschüler dürfen hier selbst entscheiden, ob sie um acht kommen – oder erst um neun zur zweiten Stunde. Die Schülergleitzeit gebe es seit Anfang 2017, sagt Schulleiter Martin Wüller.
„Seitdem haben wir nicht einen Moment den Gedanken gehabt, das jemals wieder umzudrehen – sondern wir haben gesagt: Das ist natürlich klasse, das behalten wir“, erzählt er.

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Die Gleitzeit klappt deshalb, weil das Gymnasium seit Langem nach der sogenannten Dalton-Pädagogik arbeitet: In zwei Selbstlern-Stunden pro Tag erarbeiten sich die Schüler vorgegebene Inhalte eigenverantwortlich. Ein Lehrer ist da, hilft aber nur bei Bedarf. Die erste Stunde ist eine solche Selbstlern-Zeit.
Wer sie ausfallen lässt und weiterschläft, muss in den nächsten Tagen nacharbeiten – meist in Freistunden, die es im Kurssystem der Oberstufe oft gibt. Mit dem nachzuholenden Stoff stopfen die Teenies ohnehin bestehende Lücken in ihrem Stundenplan.

Unser Modell hat es ja geschafft: Wir können teilweise später beginnen, ohne später fertig werden zu müssen. Das war, glaube ich, das, was es so erfolgreich gemacht hat.

Schulleiter Martin Wüller

Schülerinnen und Schüler sind zufriedenener

Die Schülergleitzeit wird seit ihrer Einführung immer wieder wissenschaftlich untersucht. Die Studien zeigen zwar keine messbar besseren Noten, aber zufriedenere Schüler.
 „Als ich in der Mittelstufe war, habe ich nur so hingefiebert auf die Oberstufe“, sagt Lena Lindenau, 17. Selbst bestimmen zu dürfen, wann sie zum Unterricht erscheint, das sei ein Schritt ins Erwachsensein. Jahrelang habe „acht Uhr, erste Stunde“ immer „Stress“ bedeutet. Jetzt ist dieser Druck weg und sie geht oft freiwillig so früh.

Dieses Gleitzeitmodell: Ich bin da wirklich ein Fan von und würde auch nicht mehr gerne ohne.

Lena Lindenau, Schülerin

Wer mag, darf übrigens jeden Tag schon um 8 kommen. So wird die Gleitzeit den Frühtypen genauso gerecht wie den Spättypen. Schlafmediziner Alfred Wiater sagt: „Das ist aus meiner Sicht das ideale Modell.“
Nur: Warum macht das dann kaum eine Schule?
Rechtlich ginge Unterricht ab neun fast überall. Eine große Hürde aber ist die unpassende ÖPNV-Taktung – gerade auf dem Land. Hinzu kommt: Etliche Schulleitungen haben gerade drängendere Probleme. Pandemie, Energiekrise auch im Klassenzimmer – und rund 160.000 Kinder aus der Ukraine, die es zu integrieren gilt. Zudem sieht sich kaum eine Landesregierung in der politischen Verantwortung für den teenietauglichen Unterrichtsbeginn: Startzeiten festzulegen, sei Sache jeder einzelnen Schule, heißt es sinngemäß aus vielen Kultusministerien.

Schulpolitisches Umdenken in Schleswig-Holstein

Lediglich in Schleswig-Holstein lässt sich ein ausdrücklicher politischer Wille erkennen. Die neue schwarz-grüne Landesregierung wird Schulen künftig beraten, wie sie einen späteren beziehungsweise flexiblen Unterrichtsbeginn einführen können – dem Schlafrhythmus der Jugendlichen zuliebe. So steht es im Koalitionsvertrag.
Und was heißt das konkret? Jede Schule in Schleswig-Holstein kann sich mit Fragen zur Umstellung auf teeniegerechte Unterrichtszeiten künftig direkt an ihren zuständigen Schulaufsichtsbeamten wenden. Die seien hoch erfahren und in der Regel selbst ehemalige Schulleitungen, sagt Alexander Kraft, Abteilungsleiter im Bildungsministerium.
„Das heißt, sie kennen die Situation von Schulen sehr genau und auch den Dialog mit den Schulträgern und den weiteren Partnern vor Ort. Und deswegen können unsere Schulaufsichtsbeamten diese Beratung sehr gut wahrnehmen“, sagt er.
Den Schlafmediziner Alfred Wiater macht das, was in Schleswig-Holstein gerade passiert, ein bisschen zuversichtlich, immerhin. „Ich halte es für einen vielversprechenden Anfang und kann nur hoffen, dass sich daraus auch weitere Schritte in die richtige Richtung ergeben.“
Denn, da gibt sich Wiater nach zehn Jahren Engagement keiner Illusion hin: Bis Teenies überall in Deutschland erst um neun zur Schule gehen dürfen, braucht es noch viel gesellschaftliche Diskussion und Veränderungsbereitschaft.
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