Spätes Opfer einer Massenhysterie
Der letzte Hexenprozess auf deutschem Boden fand im Jahr 1775 statt. Darin wurde die 46-jährige Dienstmagd Anna Maria Schwägelin zum Tode verurteilt. Wolfgang Petz rekonstruiert in seinem Buch "Die letzte Hexe" das Sittenbild einer Zeit und das Psychogramm einer Frau, die sich in den Fallstricken ihrer Fantasien verfing.
Hexenverfolgung und Hexenprozesse sind ja ein Thema, das aufgrund seiner Irrationalität und Brutalität nach wie vor die Gemüter bewegt. Viel ist über sie geschrieben worden und vieles davon sensationalistisch und schlecht recherchiert. Wie verhält es sich mit diesem Buch?
Es ist das absolute Gegenteil. Wolfgang Petz ist promovierter Historiker und ist heute Lehrer an einem Kemptener Gymnasium. Bereits vor Beginn seiner vierjährigen intensiven Recherche hatte er sich lange mit dem Thema beschäftigt. Was dieses Buch "sensationell" macht, ist, dass Petz eine Menge an bislang unberücksichtigten Dokumenten aufspüren konnte, die den Fall der "letzten Hexe" in ganz neuem Licht erscheinen lassen.
Was sind das für Dokumente und wie verändern sie die Sicht?
Durch Zufall stieß Petz 1995 im Archiv des Bistums Augsburg auf einen Eintrag unter dem Namen der Anna Maria Schwägelin im Sterberegister – datiert sechs Jahre nach dem Todesurteil gegen sie. Außerdem fand er im Depot eines regionalen Museums ein Porträt, auf dessen Rückseite ein Zettel mit einer Beschreibung des Porträtierten klebte. Dieser gab an, das Bild zeige einen Franziskanerpater, der erwirkt haben solle, dass "die letzte Hexe" nicht hingerichtet, sondern zu lebenslanger Haft begnadigt wurde. Während der Recherche fand er auch die lange verloren geglaubten Prozessakten des Falles, die sich im Privatbesitz befinden. Auf ihnen gründet sich der intensive Einblick in das Leben der Schwägelin, der in diesem Buch vermittelt wird.
Es war bereits die Rede von einem Psychogramm der Schwägelin. Was für eine Person war sie denn?
Der Autor nimmt die Aussagen der Prozessakten und deutet sie nach heutigem Erkenntnisstand unter historischen und psychologischen Gesichtspunkten. Dabei stellt sich für ihn heraus, dass die Frau ein Doppelleben geführt hat: ein äußerliches als Dienstmagd, das sich nicht viel von dem anderer Frauen in derselben Stellung unterschieden haben wird, und auf der anderen Seite das Leben einer "Teufelsbuhlerin".
Warum hat man sie der Hexerei beschuldigt?
Sie hat ihren Pakt mit dem Teufel immer wieder gegenüber Dritten angedeutet und es scheinbar darauf angelegt, entdeckt zu werden. Ihre Motivation sieht der Autor religiös begründet. Im Alter von 21 Jahren lernt die katholisch getaufte Schwägelin einen Mann kennen, der ihr ein Heiratsversprechen macht, sie aber nur ehelichen will, wenn sie zum protestantischen Glauben übertritt. Dieser Mann, ein wohlhabender Kutscher, heiratet dann aber doch eine andere. Im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert war eine Konversion sehr stigmatisiert. Die beiden Konfessionen waren sich nicht wohlgesonnen, eine "verteufelte" jeweils die andere. Es herrschte ein von Misstrauen und Fremdheit bestimmtes Nebeneinander – zumal in der Territorienlandschaft des alten Reiches, wo das eine Dorf katholisch, das nächste lutherisch sein konnte. Erlaubt war der Umgang auf der Straße und Geschäftsbeziehungen; Liebesbeziehungen zu einem Partner anderen Glaubens oder gar konfessionell gemischte Ehen waren dagegen sozial geächtet. Diese ungeschriebenen Regeln hat sicherlich auch die Schwägelin verinnerlicht. Ihren Übertritt hat die Schwägelin daher möglicherweise nie verkraftet. Wahrscheinlich wuchsen die Schuldgefühle über die Jahre immer mehr an und steigerten sich schließlich zu dem Wahn, eine Hexe zu sein, mit dem Teufel im Bunde zu stehen.
Woher wusste die einfache Dienstmagd, was sie tun oder von sich behaupten muss, um sich als Hexe darzustellen?
Petz geht davon aus, dass alle Formen des autobiographischen Berichtens durch erzählerische Strukturen bestimmt werden. Viel mehr als wir ahnen, greifen wir auf das kollektive Gedächtnis zu, auf Muster, die uns durch die Medien vermittelt werden. Petz zeigt auf, dass die Schwägelin in ihrem "Geständnis" auf Märchen, Sagen, religiöse Erzähltraditionen und lokale Gerüchte rekurriert – zumal, wenn sie "peinlich befragt", also gefoltert wurde.
Was nimmt man denn über die spannende Lektüre hinaus mit aus diesem Buch?
Zum einen einen faszinierenden Einblick in die Lebensweise der einfachen Leute damals – von denen ja sonst kaum etwas niedergeschrieben ist. Zum anderen ist da die Erkenntnis, dass auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Aufklärung längst nicht so weit fortgeschritten war, wie man gemeinhin annimmt. An einigen Stellen beschleicht einen das Gefühl, dass die Aufklärung auch in unserem 21. Jahrhundert nicht abgeschlossen ist – denn die Mechanismen der Hexenjagd erinnern stark an die Terrorismusverdächtigungen unserer Zeit, zumal wenn manche juristischen Experten laut darüber nachdenken, ob eine Ächtung der Folter in manchen Fällen nicht zu lockern sei.
Rezensiert von Ralf Bei der Kellen
Wolfgang Petz: Die letzte Hexe. Das Schicksal der Anna Maria Schwägelin
Campus Verlag, Frankfurt
204 Seiten, 19,90 Euro
Es ist das absolute Gegenteil. Wolfgang Petz ist promovierter Historiker und ist heute Lehrer an einem Kemptener Gymnasium. Bereits vor Beginn seiner vierjährigen intensiven Recherche hatte er sich lange mit dem Thema beschäftigt. Was dieses Buch "sensationell" macht, ist, dass Petz eine Menge an bislang unberücksichtigten Dokumenten aufspüren konnte, die den Fall der "letzten Hexe" in ganz neuem Licht erscheinen lassen.
Was sind das für Dokumente und wie verändern sie die Sicht?
Durch Zufall stieß Petz 1995 im Archiv des Bistums Augsburg auf einen Eintrag unter dem Namen der Anna Maria Schwägelin im Sterberegister – datiert sechs Jahre nach dem Todesurteil gegen sie. Außerdem fand er im Depot eines regionalen Museums ein Porträt, auf dessen Rückseite ein Zettel mit einer Beschreibung des Porträtierten klebte. Dieser gab an, das Bild zeige einen Franziskanerpater, der erwirkt haben solle, dass "die letzte Hexe" nicht hingerichtet, sondern zu lebenslanger Haft begnadigt wurde. Während der Recherche fand er auch die lange verloren geglaubten Prozessakten des Falles, die sich im Privatbesitz befinden. Auf ihnen gründet sich der intensive Einblick in das Leben der Schwägelin, der in diesem Buch vermittelt wird.
Es war bereits die Rede von einem Psychogramm der Schwägelin. Was für eine Person war sie denn?
Der Autor nimmt die Aussagen der Prozessakten und deutet sie nach heutigem Erkenntnisstand unter historischen und psychologischen Gesichtspunkten. Dabei stellt sich für ihn heraus, dass die Frau ein Doppelleben geführt hat: ein äußerliches als Dienstmagd, das sich nicht viel von dem anderer Frauen in derselben Stellung unterschieden haben wird, und auf der anderen Seite das Leben einer "Teufelsbuhlerin".
Warum hat man sie der Hexerei beschuldigt?
Sie hat ihren Pakt mit dem Teufel immer wieder gegenüber Dritten angedeutet und es scheinbar darauf angelegt, entdeckt zu werden. Ihre Motivation sieht der Autor religiös begründet. Im Alter von 21 Jahren lernt die katholisch getaufte Schwägelin einen Mann kennen, der ihr ein Heiratsversprechen macht, sie aber nur ehelichen will, wenn sie zum protestantischen Glauben übertritt. Dieser Mann, ein wohlhabender Kutscher, heiratet dann aber doch eine andere. Im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert war eine Konversion sehr stigmatisiert. Die beiden Konfessionen waren sich nicht wohlgesonnen, eine "verteufelte" jeweils die andere. Es herrschte ein von Misstrauen und Fremdheit bestimmtes Nebeneinander – zumal in der Territorienlandschaft des alten Reiches, wo das eine Dorf katholisch, das nächste lutherisch sein konnte. Erlaubt war der Umgang auf der Straße und Geschäftsbeziehungen; Liebesbeziehungen zu einem Partner anderen Glaubens oder gar konfessionell gemischte Ehen waren dagegen sozial geächtet. Diese ungeschriebenen Regeln hat sicherlich auch die Schwägelin verinnerlicht. Ihren Übertritt hat die Schwägelin daher möglicherweise nie verkraftet. Wahrscheinlich wuchsen die Schuldgefühle über die Jahre immer mehr an und steigerten sich schließlich zu dem Wahn, eine Hexe zu sein, mit dem Teufel im Bunde zu stehen.
Woher wusste die einfache Dienstmagd, was sie tun oder von sich behaupten muss, um sich als Hexe darzustellen?
Petz geht davon aus, dass alle Formen des autobiographischen Berichtens durch erzählerische Strukturen bestimmt werden. Viel mehr als wir ahnen, greifen wir auf das kollektive Gedächtnis zu, auf Muster, die uns durch die Medien vermittelt werden. Petz zeigt auf, dass die Schwägelin in ihrem "Geständnis" auf Märchen, Sagen, religiöse Erzähltraditionen und lokale Gerüchte rekurriert – zumal, wenn sie "peinlich befragt", also gefoltert wurde.
Was nimmt man denn über die spannende Lektüre hinaus mit aus diesem Buch?
Zum einen einen faszinierenden Einblick in die Lebensweise der einfachen Leute damals – von denen ja sonst kaum etwas niedergeschrieben ist. Zum anderen ist da die Erkenntnis, dass auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Aufklärung längst nicht so weit fortgeschritten war, wie man gemeinhin annimmt. An einigen Stellen beschleicht einen das Gefühl, dass die Aufklärung auch in unserem 21. Jahrhundert nicht abgeschlossen ist – denn die Mechanismen der Hexenjagd erinnern stark an die Terrorismusverdächtigungen unserer Zeit, zumal wenn manche juristischen Experten laut darüber nachdenken, ob eine Ächtung der Folter in manchen Fällen nicht zu lockern sei.
Rezensiert von Ralf Bei der Kellen
Wolfgang Petz: Die letzte Hexe. Das Schicksal der Anna Maria Schwägelin
Campus Verlag, Frankfurt
204 Seiten, 19,90 Euro