Spaltung der Gesellschaft durch demographische Entwicklung
Angesichts des demographischen Wandels in Deutschland hat Herwig Birg vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft gewarnt. Wenn der Trend nicht gestoppt oder gar umgekehrt werde, teile sich die Bevölkerung immer stärker in Familien mit Kindern und Kinderlose.
König: Die Demographie beschreibt den Zustand und die Veränderungen der Bevölkerungszahl und der Bevölkerungszusammensetzung. Das klingt erst mal trocken, ist aber ein dramatisches Feld. Davon hat sich ein gutes Bild machen können, wer seit einigen Tagen in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" den Grundkurs Demographie verfolgt, in etlichen Lektionen erteilt von Herwig Birg. Herwig Birg ist Professor für Demographie an der Universität Bielefeld, war bis vor kurzem Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie e.V., die heute zu ihrer Jahresvertagung in Potsdam zusammentritt. Und Herwig Birg ist unser Studiogast. Willkommen, ich freue mich sehr.
Birg: Guten Tag.
König: Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Tatsache, dass unsere Bevölkerungszahlen immer weiter zurückgehen? Das soll unser Thema sein. Sie schreiben in der fünften Lektion des Grundkurs Demographie in der FAZ, "Es wäre viel gewonnen, wenn sich in Deutschland herumspräche, nicht die zunehmende Zahl betagter Menschen, sondern die schrumpfende der nachwachsenden Jüngeren ist die Hauptursache der demographischen Alterung und ihrer kettenartigen Folgeprobleme". Das heißt also, nicht dass die Alten immer älter werden ist das Problem, sondern dass wir immer weniger Kinder haben. Warum hat sich das noch so wenig herumgesprochen, wenn es denn so wichtig ist?
Birg: Ja, das ist fast schon ein Rätsel, denn der Prozess der Reduktion der Kinderzahlen ist über 100 Jahre alt. Der begann im 19. Jahrhundert, etwa zeitgleich und das ist nicht ganz ein Zufall, mit der Einführung der modernen deutschen Sozialversicherung durch Bismarck. Er setzte also an auf einem hohen Niveau, fünf Kinder pro Frau, stürzte dann ab und war bereits in den 20er Jahren bei zwei Kindern pro Frau angekommen. Der Prozess ging dann weiter, nach dem Ersten Weltkrieg folgten ja große Eruptionen, Weltwirtschaftskrise von 1932, da sank die Zahl noch mal dramatisch ab, dann in den 30er Jahren. Durch die vehemente Bevölkerungspolitik in der Nazizeit, hatten wir kurzfristig eine Kinderzahl von über zwei pro Frau. Das war die einzige Ausnahme von dem jahrzehntelangen Abnahmetrend, man kann sagen, von dem über ein Jahrhundert anhaltenden Abnahmetrend. Und wir sind heute angekommen bei ungefähr 1,3 Kindern pro Frau und man kann nicht hoffen oder man sollte nicht hoffen, dass damit auch schon der Tiefpunkt erreicht ist. Denn die Ursachen, die hinter diesem jahrhundertlangen Abnahmetrend stehen, wirken weiter, und es ist eher damit zu rechnen, dass die Kinderzahlen noch weiter zurückgehen, als sie jetzt schon sind.
König: An welche Ursachen denken Sie da?
Birg: Man kann hier jetzt endlose Kataloge aufzählen, ökonomische, soziale, historische, psychologische. Ich fasse das so zusammen, die Risiken, sich langfristig im Lebenslauf zu binden in der Form von Kindern aber auch in der Form von langfristiger Partnerschaft, nehmen um so stärker zu, je dynamischer eine Welt sich verändert. Wenn man sich in einer dynamischen Welt orientieren muss, auch behaupten muss, braucht man Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Mobilität, in jeder Hinsicht, sozusagen regional, sozial, eben biographisch, und Kinder haben ist das Gegenteil von Beweglichsein. Kinder hat man, und zwar ein Leben lang. Das ist eine hohe Verantwortung. Auch ernste Bindungen an Lebenspartner, das muss nicht mit dem Trauschein verbunden sein, sind durchaus von der Natur aus langfristige Bindungen. Diese Tugenden sind nun im Widerspruch zu anderen Tugenden, die die Marktwirtschaft verlangt: Anpassungsfähigkeit, ständige Bereitschaft, sich auf neue Optionen einzustellen, berufliche Aufstiegsmöglichkeiten nutzen, das bedeutet zum Beispiel regionale Mobilität. Wenn aber beide Partner zum Beispiel erwerbstätig sind, den einen führt die Berufskarriere nach Norden, den anderen nach Süden, wie soll da eine Familie zusammenhalten? Das sind also die eigentlichen Gründe, die hinter dem Abnahmetrend stehen.
König: Kommen wir zu den Konsequenzen des Problems, zu unserem Hauptthema. Etliche davon erleben wir ja heute schon, man stelle sich vor, eine Schule, zum Beispiel die Eberhart-Klein-Oberschule in Berlin, dort sind von 339 Kindern 334 keine deutschen mehr. Oder die schrumpfenden Städte im Osten, vor allem aber auch im Westen. Herwig Birg, welche langfristigen Folgen dieses demographischen Ist-Zustands sehen Sie?
Birg: Wenn einmal ein Jahrgang oder mehrere Jahrgänge hintereinander weniger Kinder haben, als nötig wären, damit diese Jahrgänge sich selbst reproduzieren, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder die Bevölkerung schrumpft permanent oder man füllt die fehlenden Geburten im Inland durch hohe Zuwanderung aus dem Ausland auf. Wir haben diesen zweiten Weg beschritten, aber dieser zweite Weg bedeutet, dass immer mehr zuwandern müssen, denn die Schrumpfung hört nicht bei runden Zahlen auf, wie 2030 oder 2050 oder 2100. Die Schrumpfung geht so lange weiter, wie pro Paar weniger als zwei Kinder zur Welt kommen, und es sind in Deutschland bei den Deutschen nur 1,2 im Durchschnitt. Das heißt, wir müssen uns langsam entscheiden, ob wir diesen Weg weitergehen wollen, den wir seit 30 Jahren gehen, denn Deutschland hat seit 1972 Jahr für Jahr mehr Sterbefälle, als Geburten. Wenn wir eben weitergehen wollen, dann wird Deutschland in dem Sinne verschwinden, wie wir es Jahrhunderte lang und dem Begriff verstehen und dieses neue Deutschland wird auf dem alten Territorium eine Form annehmen, die dann davon abhängt, welche Menschen zugewandert sind. Das können wir mit der besten Fantasie heute nicht sagen. Es ist durchaus eine Weichenstellung von historischer Tragweite, die Dinge weiter so schleifen zu lassen, wie bisher, also immer mehr Einwanderer, um das steigende Geburtendefizit auszugleichen oder sich zu überlegen, doch lieber aus eigener Substanz die Gesellschaft am Leben zu erhalten.
König: Also, Sie haben darauf hingewiesen, die Bevölkerung wird sich stärker aufspalten zwischen zugewanderten und alteingesessenen, ich glaube, autochthonen Bevölkerungszahlen, nennt man das. Ich könnte mir auch vorstellen, das Land könnte gespalten werden in wachsende und schrumpfende Bundesländer. Kann man das so allgemein sagen, der Osten schrumpft, der Westen wächst?
Birg: Ja, das ist ja im Gange. Seit der Wiedervereinigung haben wir dramatische Schrumpfungen in den neuen Bundesländern. Die alten Bundesländer wachsen aufgrund der Wanderungen von Ost nach West noch. Sie wachsen, obwohl auch sie schon Geburtendefizite haben. Es findet also ein innerdeutscher Braindrain auch statt, die besser ausgebildeten und jüngeren Menschen sind es ja, die mobiler sind, die von Ost nach West wandern. Das ist die eine Spaltung, dann natürlich die Spaltung in Zugewanderte und nicht Zugewanderte. Die zugewanderte Population wächst durch eigene Geburtenüberschüsse, nicht weil die Kinderzahl so enorm hoch wäre, sie ist auch nur rund zwei pro Frau, aber durch die junge Alterstruktur der Migrationsbevölkerung gibt es hohe Geburtenüberschüsse. Und die deutsche Population schrumpft, wie gesagt seit 1972, und wird immer stärker schrumpfen, weil nun die Nichtgeborenen weder Kinder noch Enkel haben können, ist diese neue Schrumpfung, dieser neue Geburtenrückgang unvermeidlich. Aber diese Spaltung hat noch eine wichtige Dimension, diejenigen, die noch Kinder haben und diejenigen, die keine haben, führt zu einer Spaltung, die verfassungsrechtliche Bedeutung hat, denn unsere Verfassung geht von dem ungeschriebenen und mittlerweile auch geschriebenen Grundsatz aus, dass das soziale Sicherungssystem möglichst von allen unterstützt werden sollte. Und diejenigen, die nur die Geldeinzahlungen leisten aber die keine Beitragszahler erziehen, also Kinder haben, werden dann bevorzugt, wenn sie dennoch die gleichen Ansprüche erwerben. Das ist ja der Inhalt des wichtigen Urteils zur Pflegeversicherung, die laut Verfassungsgericht verfassungswidrig ist, weil sie die Kinderlosen bevorzugt in einer verfassungswidrigen Weise, indem sie den Gleichheitsgrundsatz verletzt. Diese Spaltung also ist sehr, sehr wichtig.
König: Die Spaltung in Teilgesellschaften mit und ohne Nachwuchs?
Birg: Richtig. In Parallelgesellschaften, wenn man so will, denn die Lebenswirklichkeit dieser Menschen sieht ja völlig verschieden aus, je nach dem, ob man Kinder hat oder nicht. Kinder haben bedeutet häufig auch Armutsrisiko, und kinderlos zu sein bei zwei Einkommen bedeutet das Gegenteil von Armut. Also die Hauptwirkung der demographischen Veränderung besteht darin, diese Kontraste und Gegensätze zu verstärken. Sie hat dann zur Folge, dass wir immer mehr Solidarität bräuchten, um die größer werdenden Klüfte zu überbrücken und das ist die große Frage, ob die Gesellschaft das leisten kann oder will. Sie ist ja schlicht und einfach nicht einmal informiert über die Fakten.
König: Nun könnte man ja sagen, das einzige, was man tun kann, ist wieder Kinder zu zeugen. Andererseits ist dieser demographische Prozess so lange in eine, nämlich die falsche Richtung gelaufen. Wie lange würde es dauern, bis man diese Bewegung stoppen, geschweige denn umkehren könnte?
Birg: Wenn wir jetzt anfangen würden, wirklich energisch gegenzusteuern und eine Geburtenrate hätten so in 20 Jahren, die das ideale Niveau von zwei Kindern erreicht, dann würde es bis 2060, wenn nicht 2080 dauern, das hängt davon ab, wie viele Menschen einwandern, bis dann die Schrumpfung aufhört. Also man braucht wirklich sehr viel Geduld, denn die mehr geborenen Kinder müssen ja ihrerseits erst Kinder haben, bevor sich diese Schere wieder schließen kann. Zehn Legislaturperioden mindestens, bis der Erfolg kommt, das zeigt schon, parteipolitisch ist das Thema absolut uninteressant, und das ist wohl auch das große Geheimnis, warum Politiker sich so wenig bisher darum gekümmert haben.
König: Aber richtig tun kann man ja auch nichts. Ich will noch einmal auf den Konflikt zu sprechen kommen, den sie Eingangs sagten, dass wir in dieser Gesellschaft einerseits ganz flexibel sein müssen, wie sie es gesagt haben, zwei Eheleute, er hat Arbeit im Süden, sie im Norden oder umgekehrt, das ist kein Klima, in dem Familien gedeihen können. Wie wäre diesem Grundkonflikt, nämlich auf der einen Seite sich ja irgendwie auch in dieser mobilen Gesellschaft bewegen zu müssen, und auf der anderen Seiten eben doch die familiären Tugenden, Beständigkeit, langfristig Verantwortung tragen. Wie wäre diesem Grundkonflikt beizukommen?
Birg: Der Konflikt ist nicht zu beseitigen. Er ist nur klug oder weniger klug zu handhaben. Und wenn man ihn klug handhaben will, dann muss man alles tun, damit diese sich gegenseitig ausschließenden Welten doch schlecht und recht vereinbar sind. Das heißt, wir müssen das tun, was andere Länder auch tun, Frankreich zum Beispiel, eine erstklassige Kinderbetreuung, staatliche Kinderbetreuung möglichst ab dem frühen Kindesalter anbieten, nicht etwa hoffen, dass alle davon Gebrauch machen, sondern jede Familie sollte wählen können, welchen Lebensentwurf sie für sinnvoll hält. Es ist ja nicht unbedingt problemlos, Kinder ab dem dritten Lebensjahr, in Frankreich sogar manchmal ab dem dritten Monat, von Fremden Bezugspersonen betreuen zu lassen. Aber Kinder, die überhaupt geboren werden, sind natürlich ein unvergleichlich höherer Schatz, verglichen mit dem Zustand, dass sie nicht geboren werden.
Birg: Guten Tag.
König: Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Tatsache, dass unsere Bevölkerungszahlen immer weiter zurückgehen? Das soll unser Thema sein. Sie schreiben in der fünften Lektion des Grundkurs Demographie in der FAZ, "Es wäre viel gewonnen, wenn sich in Deutschland herumspräche, nicht die zunehmende Zahl betagter Menschen, sondern die schrumpfende der nachwachsenden Jüngeren ist die Hauptursache der demographischen Alterung und ihrer kettenartigen Folgeprobleme". Das heißt also, nicht dass die Alten immer älter werden ist das Problem, sondern dass wir immer weniger Kinder haben. Warum hat sich das noch so wenig herumgesprochen, wenn es denn so wichtig ist?
Birg: Ja, das ist fast schon ein Rätsel, denn der Prozess der Reduktion der Kinderzahlen ist über 100 Jahre alt. Der begann im 19. Jahrhundert, etwa zeitgleich und das ist nicht ganz ein Zufall, mit der Einführung der modernen deutschen Sozialversicherung durch Bismarck. Er setzte also an auf einem hohen Niveau, fünf Kinder pro Frau, stürzte dann ab und war bereits in den 20er Jahren bei zwei Kindern pro Frau angekommen. Der Prozess ging dann weiter, nach dem Ersten Weltkrieg folgten ja große Eruptionen, Weltwirtschaftskrise von 1932, da sank die Zahl noch mal dramatisch ab, dann in den 30er Jahren. Durch die vehemente Bevölkerungspolitik in der Nazizeit, hatten wir kurzfristig eine Kinderzahl von über zwei pro Frau. Das war die einzige Ausnahme von dem jahrzehntelangen Abnahmetrend, man kann sagen, von dem über ein Jahrhundert anhaltenden Abnahmetrend. Und wir sind heute angekommen bei ungefähr 1,3 Kindern pro Frau und man kann nicht hoffen oder man sollte nicht hoffen, dass damit auch schon der Tiefpunkt erreicht ist. Denn die Ursachen, die hinter diesem jahrhundertlangen Abnahmetrend stehen, wirken weiter, und es ist eher damit zu rechnen, dass die Kinderzahlen noch weiter zurückgehen, als sie jetzt schon sind.
König: An welche Ursachen denken Sie da?
Birg: Man kann hier jetzt endlose Kataloge aufzählen, ökonomische, soziale, historische, psychologische. Ich fasse das so zusammen, die Risiken, sich langfristig im Lebenslauf zu binden in der Form von Kindern aber auch in der Form von langfristiger Partnerschaft, nehmen um so stärker zu, je dynamischer eine Welt sich verändert. Wenn man sich in einer dynamischen Welt orientieren muss, auch behaupten muss, braucht man Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Mobilität, in jeder Hinsicht, sozusagen regional, sozial, eben biographisch, und Kinder haben ist das Gegenteil von Beweglichsein. Kinder hat man, und zwar ein Leben lang. Das ist eine hohe Verantwortung. Auch ernste Bindungen an Lebenspartner, das muss nicht mit dem Trauschein verbunden sein, sind durchaus von der Natur aus langfristige Bindungen. Diese Tugenden sind nun im Widerspruch zu anderen Tugenden, die die Marktwirtschaft verlangt: Anpassungsfähigkeit, ständige Bereitschaft, sich auf neue Optionen einzustellen, berufliche Aufstiegsmöglichkeiten nutzen, das bedeutet zum Beispiel regionale Mobilität. Wenn aber beide Partner zum Beispiel erwerbstätig sind, den einen führt die Berufskarriere nach Norden, den anderen nach Süden, wie soll da eine Familie zusammenhalten? Das sind also die eigentlichen Gründe, die hinter dem Abnahmetrend stehen.
König: Kommen wir zu den Konsequenzen des Problems, zu unserem Hauptthema. Etliche davon erleben wir ja heute schon, man stelle sich vor, eine Schule, zum Beispiel die Eberhart-Klein-Oberschule in Berlin, dort sind von 339 Kindern 334 keine deutschen mehr. Oder die schrumpfenden Städte im Osten, vor allem aber auch im Westen. Herwig Birg, welche langfristigen Folgen dieses demographischen Ist-Zustands sehen Sie?
Birg: Wenn einmal ein Jahrgang oder mehrere Jahrgänge hintereinander weniger Kinder haben, als nötig wären, damit diese Jahrgänge sich selbst reproduzieren, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder die Bevölkerung schrumpft permanent oder man füllt die fehlenden Geburten im Inland durch hohe Zuwanderung aus dem Ausland auf. Wir haben diesen zweiten Weg beschritten, aber dieser zweite Weg bedeutet, dass immer mehr zuwandern müssen, denn die Schrumpfung hört nicht bei runden Zahlen auf, wie 2030 oder 2050 oder 2100. Die Schrumpfung geht so lange weiter, wie pro Paar weniger als zwei Kinder zur Welt kommen, und es sind in Deutschland bei den Deutschen nur 1,2 im Durchschnitt. Das heißt, wir müssen uns langsam entscheiden, ob wir diesen Weg weitergehen wollen, den wir seit 30 Jahren gehen, denn Deutschland hat seit 1972 Jahr für Jahr mehr Sterbefälle, als Geburten. Wenn wir eben weitergehen wollen, dann wird Deutschland in dem Sinne verschwinden, wie wir es Jahrhunderte lang und dem Begriff verstehen und dieses neue Deutschland wird auf dem alten Territorium eine Form annehmen, die dann davon abhängt, welche Menschen zugewandert sind. Das können wir mit der besten Fantasie heute nicht sagen. Es ist durchaus eine Weichenstellung von historischer Tragweite, die Dinge weiter so schleifen zu lassen, wie bisher, also immer mehr Einwanderer, um das steigende Geburtendefizit auszugleichen oder sich zu überlegen, doch lieber aus eigener Substanz die Gesellschaft am Leben zu erhalten.
König: Also, Sie haben darauf hingewiesen, die Bevölkerung wird sich stärker aufspalten zwischen zugewanderten und alteingesessenen, ich glaube, autochthonen Bevölkerungszahlen, nennt man das. Ich könnte mir auch vorstellen, das Land könnte gespalten werden in wachsende und schrumpfende Bundesländer. Kann man das so allgemein sagen, der Osten schrumpft, der Westen wächst?
Birg: Ja, das ist ja im Gange. Seit der Wiedervereinigung haben wir dramatische Schrumpfungen in den neuen Bundesländern. Die alten Bundesländer wachsen aufgrund der Wanderungen von Ost nach West noch. Sie wachsen, obwohl auch sie schon Geburtendefizite haben. Es findet also ein innerdeutscher Braindrain auch statt, die besser ausgebildeten und jüngeren Menschen sind es ja, die mobiler sind, die von Ost nach West wandern. Das ist die eine Spaltung, dann natürlich die Spaltung in Zugewanderte und nicht Zugewanderte. Die zugewanderte Population wächst durch eigene Geburtenüberschüsse, nicht weil die Kinderzahl so enorm hoch wäre, sie ist auch nur rund zwei pro Frau, aber durch die junge Alterstruktur der Migrationsbevölkerung gibt es hohe Geburtenüberschüsse. Und die deutsche Population schrumpft, wie gesagt seit 1972, und wird immer stärker schrumpfen, weil nun die Nichtgeborenen weder Kinder noch Enkel haben können, ist diese neue Schrumpfung, dieser neue Geburtenrückgang unvermeidlich. Aber diese Spaltung hat noch eine wichtige Dimension, diejenigen, die noch Kinder haben und diejenigen, die keine haben, führt zu einer Spaltung, die verfassungsrechtliche Bedeutung hat, denn unsere Verfassung geht von dem ungeschriebenen und mittlerweile auch geschriebenen Grundsatz aus, dass das soziale Sicherungssystem möglichst von allen unterstützt werden sollte. Und diejenigen, die nur die Geldeinzahlungen leisten aber die keine Beitragszahler erziehen, also Kinder haben, werden dann bevorzugt, wenn sie dennoch die gleichen Ansprüche erwerben. Das ist ja der Inhalt des wichtigen Urteils zur Pflegeversicherung, die laut Verfassungsgericht verfassungswidrig ist, weil sie die Kinderlosen bevorzugt in einer verfassungswidrigen Weise, indem sie den Gleichheitsgrundsatz verletzt. Diese Spaltung also ist sehr, sehr wichtig.
König: Die Spaltung in Teilgesellschaften mit und ohne Nachwuchs?
Birg: Richtig. In Parallelgesellschaften, wenn man so will, denn die Lebenswirklichkeit dieser Menschen sieht ja völlig verschieden aus, je nach dem, ob man Kinder hat oder nicht. Kinder haben bedeutet häufig auch Armutsrisiko, und kinderlos zu sein bei zwei Einkommen bedeutet das Gegenteil von Armut. Also die Hauptwirkung der demographischen Veränderung besteht darin, diese Kontraste und Gegensätze zu verstärken. Sie hat dann zur Folge, dass wir immer mehr Solidarität bräuchten, um die größer werdenden Klüfte zu überbrücken und das ist die große Frage, ob die Gesellschaft das leisten kann oder will. Sie ist ja schlicht und einfach nicht einmal informiert über die Fakten.
König: Nun könnte man ja sagen, das einzige, was man tun kann, ist wieder Kinder zu zeugen. Andererseits ist dieser demographische Prozess so lange in eine, nämlich die falsche Richtung gelaufen. Wie lange würde es dauern, bis man diese Bewegung stoppen, geschweige denn umkehren könnte?
Birg: Wenn wir jetzt anfangen würden, wirklich energisch gegenzusteuern und eine Geburtenrate hätten so in 20 Jahren, die das ideale Niveau von zwei Kindern erreicht, dann würde es bis 2060, wenn nicht 2080 dauern, das hängt davon ab, wie viele Menschen einwandern, bis dann die Schrumpfung aufhört. Also man braucht wirklich sehr viel Geduld, denn die mehr geborenen Kinder müssen ja ihrerseits erst Kinder haben, bevor sich diese Schere wieder schließen kann. Zehn Legislaturperioden mindestens, bis der Erfolg kommt, das zeigt schon, parteipolitisch ist das Thema absolut uninteressant, und das ist wohl auch das große Geheimnis, warum Politiker sich so wenig bisher darum gekümmert haben.
König: Aber richtig tun kann man ja auch nichts. Ich will noch einmal auf den Konflikt zu sprechen kommen, den sie Eingangs sagten, dass wir in dieser Gesellschaft einerseits ganz flexibel sein müssen, wie sie es gesagt haben, zwei Eheleute, er hat Arbeit im Süden, sie im Norden oder umgekehrt, das ist kein Klima, in dem Familien gedeihen können. Wie wäre diesem Grundkonflikt, nämlich auf der einen Seite sich ja irgendwie auch in dieser mobilen Gesellschaft bewegen zu müssen, und auf der anderen Seiten eben doch die familiären Tugenden, Beständigkeit, langfristig Verantwortung tragen. Wie wäre diesem Grundkonflikt beizukommen?
Birg: Der Konflikt ist nicht zu beseitigen. Er ist nur klug oder weniger klug zu handhaben. Und wenn man ihn klug handhaben will, dann muss man alles tun, damit diese sich gegenseitig ausschließenden Welten doch schlecht und recht vereinbar sind. Das heißt, wir müssen das tun, was andere Länder auch tun, Frankreich zum Beispiel, eine erstklassige Kinderbetreuung, staatliche Kinderbetreuung möglichst ab dem frühen Kindesalter anbieten, nicht etwa hoffen, dass alle davon Gebrauch machen, sondern jede Familie sollte wählen können, welchen Lebensentwurf sie für sinnvoll hält. Es ist ja nicht unbedingt problemlos, Kinder ab dem dritten Lebensjahr, in Frankreich sogar manchmal ab dem dritten Monat, von Fremden Bezugspersonen betreuen zu lassen. Aber Kinder, die überhaupt geboren werden, sind natürlich ein unvergleichlich höherer Schatz, verglichen mit dem Zustand, dass sie nicht geboren werden.