Spaniens verdrängte Erinnerung
In Spanien hat sich das Gedankengut der Franco-Zeit tief in das kollektive Bewusstsein der Bevölkerung eingegraben. Das belegt Georg Pichler in diesem außergewöhnlich vielschichtigen Buch über die heutige Sicht auf den Spanischen Bürgerkrieg.
Was wissen wir über Spaniens blutiges Erbe, über das Regime des Francisco Franco? Nicht viel mehr als ein paar Klischees. Wir lernten: Im Bürgerkrieg ab 1936 haben die Guten gegen die Bösen gekämpft, die Verteidiger der Republik gegen die Faschisten. Die Faschisten siegten.
Und Ihr Anführer, General Franco, herrschte dreieinhalb Jahrzehnte über das spanische Volk. Bis zu seinem Tod 1975. Danach geschah ein Wunder, die Transición: In Rekordzeit schaffte das Land den Übergang zur Demokratie. Die Diktatur war rasch "bewältigt".
Was stimmt an diesem Bild? Recht wenig, meint der Spanien-Kenner Georg Pichler. Pichler wurde 1961 in Graz geboren. Er ist Professor in Madrid – und der Bürgerkrieg eines seiner großen Themen. Nun hat er ein außergewöhnlich luzides und vielschichtiges Buch vorgelegt, ein Buch über die Folgen der Franco-Zeit: Im Vorwort schreibt er:
"Die Krux mit der Vergangenheit ist, dass sie zwar vergangen ist und doch nicht vergehen will. Auf der einen Seite wirkt sie in die Gegenwart herein, auf der anderen ist sie von dieser Gegenwart durchsetzt, von der aus die vergangenen Geschehnisse immer wieder neu gedeutet werden. Um die heutige Sicht auf den Spanischen Bürgerkrieg geht es in diesem Buch."
Ausgangspunkt für seine Erkundungen sind Zahlen. Wie viele Menschen wurden im Bürgerkrieg und danach getötet? Auf republikanischer Seite: 130.000. Ein Großteil der Leichen verschwand.
"Schätzungen zufolge liegen bis heute rund 113.000 in ihren provisorischen Grabstätten, stören immer noch den Frieden der spanischen Landschaft. Auf franquistischer Seite wurden 49.272 Personen getötet. Die meisten dieser Opfer wurden von den Gewinnern des Kriegs exhumiert, geehrt und in Würden bestattet."
Und Ihr Anführer, General Franco, herrschte dreieinhalb Jahrzehnte über das spanische Volk. Bis zu seinem Tod 1975. Danach geschah ein Wunder, die Transición: In Rekordzeit schaffte das Land den Übergang zur Demokratie. Die Diktatur war rasch "bewältigt".
Was stimmt an diesem Bild? Recht wenig, meint der Spanien-Kenner Georg Pichler. Pichler wurde 1961 in Graz geboren. Er ist Professor in Madrid – und der Bürgerkrieg eines seiner großen Themen. Nun hat er ein außergewöhnlich luzides und vielschichtiges Buch vorgelegt, ein Buch über die Folgen der Franco-Zeit: Im Vorwort schreibt er:
"Die Krux mit der Vergangenheit ist, dass sie zwar vergangen ist und doch nicht vergehen will. Auf der einen Seite wirkt sie in die Gegenwart herein, auf der anderen ist sie von dieser Gegenwart durchsetzt, von der aus die vergangenen Geschehnisse immer wieder neu gedeutet werden. Um die heutige Sicht auf den Spanischen Bürgerkrieg geht es in diesem Buch."
Ausgangspunkt für seine Erkundungen sind Zahlen. Wie viele Menschen wurden im Bürgerkrieg und danach getötet? Auf republikanischer Seite: 130.000. Ein Großteil der Leichen verschwand.
"Schätzungen zufolge liegen bis heute rund 113.000 in ihren provisorischen Grabstätten, stören immer noch den Frieden der spanischen Landschaft. Auf franquistischer Seite wurden 49.272 Personen getötet. Die meisten dieser Opfer wurden von den Gewinnern des Kriegs exhumiert, geehrt und in Würden bestattet."
Auch die Nachfahren der einstigen Gegner sind unversöhnlich
Georg Pichler belegt: Bis heute dominiert das Gedankengut der Franco-Zeit – tief eingegraben in das kollektive Bewusstsein der Bevölkerung. Die Transición ist genauso gescheitert wie die ihr folgenden Regierungen. Sie waren nicht imstande, ein Staatswesen zu gründen, das alle Spanier repräsentiert.
"Nach nunmehr drei Generationen stehen sich viele Nachfahren der zwei Seiten noch immer feindlich gegenüber und fühlen sich bedroht: die einen in ihrem Selbstverständnis als Kinder und Enkel der Bürgerkriegssieger, die unter großen Opfern den Kommunismus in Spanien zu Fall gebracht haben; die anderen als Nachkommen der Kriegsverlierer."
Pichler überrascht durch einen unkonventionellen Ansatz. Er mischt wissenschaftliche und journalistische Methoden. Die Hauptelemente des Buchs sind Interviews – Gespräche mit Nachkommen, Experten, Forschern, Publizisten. Er fragt klug und distanziert, er seziert und provoziert, dass es eine Lust ist.
Das Besondere dieser Gespräche: Vertreter beider Seiten bekommen Gelegenheit zur Selbstdarstellung, selbst neo-franquistische Demagogen; sie können ihre Positionen ausgiebig verteidigen. Das Mit- und Gegeneinander der Stimmen erzeugt Sogwirkung, es zieht den Leser in die Geschichte.
Vor jedes Interview – noch ein journalistisches Mittel – stellt er eine kleine Reportage; mit szenischen Beschreibungen nähert er sich Schauplätzen und Protagonisten.
"Ein verschlungenes Vorortviertel im Norden von Madrid, Reihen roter Ziegelbauten, ein Haus aus den Sechzigerjahren, vierter Stock über eine kahle Treppe. Emilio Silva öffnet. Silva Barrera, 1965 in Navarra geboren, ist Journalist. Sein Großvater, Emilio Silva Faba, wurde am 16. Oktober 1936 bei Priaranza del Bierzo ermordet und am Straßenrand verscharrt."
Im Oktober 2000 hat dieser Emilio Silva in Priaranza eine Exhumierung von Franco-Opfern geleitet. Sie wurde zum Auftakt einer Bewegung zur "Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses". Die Erinnerung an die Ermordeten, lange gewaltsam totgeschwiegen – endlich bricht sie sich Bahn. Bis heute haben Vereine die Überreste von 5500 Opfern exhumiert. 5500 von 113.000. Ein anderer Teilnehmer einer Ausgrabung berichtet:
"Seit dem Moment, an dem mir bewusst wurde, dass hier, in dieser Idylle, am Wegrand, in einem Sonnenblumenfeld ein Massengrab sein könnte, wurde die Landschaft für mich beunruhigend. Es ist wie in einem Horrorfilm: Was wird zum Vorschein kommen? Worüber werde ich stolpern? Dieses Gefühl ist so verstörend, dass man damit nicht umgehen kann."
"Nach nunmehr drei Generationen stehen sich viele Nachfahren der zwei Seiten noch immer feindlich gegenüber und fühlen sich bedroht: die einen in ihrem Selbstverständnis als Kinder und Enkel der Bürgerkriegssieger, die unter großen Opfern den Kommunismus in Spanien zu Fall gebracht haben; die anderen als Nachkommen der Kriegsverlierer."
Pichler überrascht durch einen unkonventionellen Ansatz. Er mischt wissenschaftliche und journalistische Methoden. Die Hauptelemente des Buchs sind Interviews – Gespräche mit Nachkommen, Experten, Forschern, Publizisten. Er fragt klug und distanziert, er seziert und provoziert, dass es eine Lust ist.
Das Besondere dieser Gespräche: Vertreter beider Seiten bekommen Gelegenheit zur Selbstdarstellung, selbst neo-franquistische Demagogen; sie können ihre Positionen ausgiebig verteidigen. Das Mit- und Gegeneinander der Stimmen erzeugt Sogwirkung, es zieht den Leser in die Geschichte.
Vor jedes Interview – noch ein journalistisches Mittel – stellt er eine kleine Reportage; mit szenischen Beschreibungen nähert er sich Schauplätzen und Protagonisten.
"Ein verschlungenes Vorortviertel im Norden von Madrid, Reihen roter Ziegelbauten, ein Haus aus den Sechzigerjahren, vierter Stock über eine kahle Treppe. Emilio Silva öffnet. Silva Barrera, 1965 in Navarra geboren, ist Journalist. Sein Großvater, Emilio Silva Faba, wurde am 16. Oktober 1936 bei Priaranza del Bierzo ermordet und am Straßenrand verscharrt."
Im Oktober 2000 hat dieser Emilio Silva in Priaranza eine Exhumierung von Franco-Opfern geleitet. Sie wurde zum Auftakt einer Bewegung zur "Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses". Die Erinnerung an die Ermordeten, lange gewaltsam totgeschwiegen – endlich bricht sie sich Bahn. Bis heute haben Vereine die Überreste von 5500 Opfern exhumiert. 5500 von 113.000. Ein anderer Teilnehmer einer Ausgrabung berichtet:
"Seit dem Moment, an dem mir bewusst wurde, dass hier, in dieser Idylle, am Wegrand, in einem Sonnenblumenfeld ein Massengrab sein könnte, wurde die Landschaft für mich beunruhigend. Es ist wie in einem Horrorfilm: Was wird zum Vorschein kommen? Worüber werde ich stolpern? Dieses Gefühl ist so verstörend, dass man damit nicht umgehen kann."
Die Täter der Franco-Ära wurden nie belangt
Zwischen die Interviews hat Georg Pichler analytische Texte gestellt. In diesen Texten spannt er einen weiten Bogen. Widersprüchliche Dinge haben Platz in diesem Bogen. Etwa: Die Eckdaten der Zeit von 1936 bis heute. Die Geographie des Exils. Die Symbole und Gedächtnisorte beider Seiten. Kontroversen und Debatten. Definitionen und Konzepte zum Begriff "Erinnerung". Die Phasen der Vergangenheitsbewältigung in Spanien – und in Lateinamerika.
Manche Erkenntnisse schockieren. Etwa: Dass die Täter der Franco-Ära nie belangt wurden. Und dass Staat und Parteien die Exhumierungen heute kaum unterstützen, sondern eher behindern. Auch die linken Parteien leisten Widerstand. Warum? Weil sie die Transición der Siebziger mitgetragen haben.
Schockierend ist vor allem das Zitat einer alten Frau, einer Franco-Anhängerin. Über die Ausgrabungen und die Ausgräber sagt sie:
"Das ist eine vom Teufel inszenierte Kampagne. Sie machen alles zunichte. Dabei hatten wir ihnen schon verziehen."
Emilio Silva, der Protagonist der Gedächtnisbewegung, erwidert:
"Müssen sie meinem Großvater verzeihen, dass er sich zwei Kugeln in den Kopf schießen ließ?"
Georg Pichler hat ein souveränes Buch geschrieben, frisch und facettenreich, auch stilistisch ein Genuss. Das Fazit des Österreichers ist allerdings bitter.
"Je ferner die Vergangenheit, desto besser für die Gegenwart."
Und sein Gesprächspartner Emilio Silva resümiert:
"Was ist Spanien? Ein Modell für Straflosigkeit. Und für verdrängte Erinnerung."
Manche Erkenntnisse schockieren. Etwa: Dass die Täter der Franco-Ära nie belangt wurden. Und dass Staat und Parteien die Exhumierungen heute kaum unterstützen, sondern eher behindern. Auch die linken Parteien leisten Widerstand. Warum? Weil sie die Transición der Siebziger mitgetragen haben.
Schockierend ist vor allem das Zitat einer alten Frau, einer Franco-Anhängerin. Über die Ausgrabungen und die Ausgräber sagt sie:
"Das ist eine vom Teufel inszenierte Kampagne. Sie machen alles zunichte. Dabei hatten wir ihnen schon verziehen."
Emilio Silva, der Protagonist der Gedächtnisbewegung, erwidert:
"Müssen sie meinem Großvater verzeihen, dass er sich zwei Kugeln in den Kopf schießen ließ?"
Georg Pichler hat ein souveränes Buch geschrieben, frisch und facettenreich, auch stilistisch ein Genuss. Das Fazit des Österreichers ist allerdings bitter.
"Je ferner die Vergangenheit, desto besser für die Gegenwart."
Und sein Gesprächspartner Emilio Silva resümiert:
"Was ist Spanien? Ein Modell für Straflosigkeit. Und für verdrängte Erinnerung."
Georg Pichler: Gegenwart der Vergangenheit
Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien
Rotpunkt Verlag Zürich, Dezember 2012
250 Seiten, 29,50 Euro
Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien
Rotpunkt Verlag Zürich, Dezember 2012
250 Seiten, 29,50 Euro