Lange Nacht der spanischen Literatur

Verrückt nach einer besseren Welt

Die Bücher "Leichte Sprache" (oben, l-r) von Cristina Morales, "Die Wunder" von Elena Medel, "Eine Liebe" von Sara Mesa, "Am Montag werden sie uns lieben" von Najat El Hachmi, sowie "Die Zeit, die vor uns liegt" (unten, l-r) von Maria Barbal, "Die Tochter des Kommunisten" von Aroa Moreno Duran, "Sanfte Einführung ins Chaos" von Marta Orriols und "Die drei Hochzeiten von Manolita" von Almudena Grandes liegen auf einem Tisch.
Breite Vielfalt an Genres und Themen: Spanische Literatur steht im Mittelpunkt dieser dreistündigen Sendung. © picture alliance / dpa / Sandra Trauner
Von Katharina Teutsch und Tobias Lehmkuhl |
Anlässlich der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit dem Gastland Spanien beleuchten wir ausführlich das Werk zeitgenössischer spanischer Autorinnen und Autoren. Mit neuen Themen und Schreibstilen prägen sie zunehmend die Literaturlandschaft ihrer Heimat.
Spanien ist ein Land mit einem breitem Spektrum literarischer Gattungen und Stile. Von Miguel de Cervantes über Federico Garcia Llorca, Jorge Semprún bis Xavier Marías findet sich eine breite Vielfalt an Genres und Themen in der spanischen Literatur. Bei dieser Langen Nacht zeigt sich der kreative Ausdruck neuer Strömungen in der spanischen Literaturlandschaft. Unter den Autor:innen bestimmen zunehmend Frauen das literarische Geschehen durch neue Themen und  Schreibstile.
Musikalisch begleitet wird die Sendung von Ismael de Barcelona. Er ist diplomierter spanischer Konzertgitarrist und Lehrer für Flamenco- und klassische Gitarre.

Aroa Moreno Durán: „Die Tochter des Kommunisten“
Übersetzt von Marianne Gareis
btb Verlag 2022

Die Autorin Aroa Moreno Durán, geboren 1981 in Madrid, gilt in Spanien als  große literarische Entdeckung. Ihr Buch „Die Tochter des Kommunisten“ von 2017 wurde als bester Debütroman des Jahres mit dem Premio del Ojo Crítico ausgezeichnet.
Auszüge aus dem Buch:
„Du hast lange gebraucht, sagt ihre Schwester und blickt dabei nur auf den Boden, wo auf der anderen Seite der Schwelle ihre Füße stehen, in abgetretenen Schuhen und es ist, als würde sich dort über der Türschwelle wieder die Mauer erheben. Doch dann tritt Martina zu Seite, und Katia versteht, dass dies eine Aufforderung ist, hereinzukommen. Martina. Sie spricht den Namen aus. Und dann sehen die beiden sich an. Sie mustern sich von oben bis unten, und Katia glaubt zu verstehen, dass ihre Schwester, dünn wie immer aber mit breiteren Knochen als früher, ebenfalls bemerkt hat, dass Katjas Hüften breiter geworden sind und dass sie so etwas wie Nichten und Neffen hat und dass sie nun alle auf der derselben Seite stehen. Und dann gibt sie einem Impuls nach, geht auf Martina zu und streckt ihre Arme aus, will sie an sich ziehen. Doch Martina weicht zurück und senkt den Blick. Sie macht ein paar Schritte, dreht sich noch einmal zu Katia um und sagt, warte hier, bevor sie im Elternschlafzimmer verschwindet. Katia zieht sich einen der Stühle heran, der alten Stühle, und setzt sich. Sie sieht sich um, schließt die Augen und will, dass die Wände ihr von dem Schmerz erzählen, den ihr Weggang ausgelöst hat, doch sie bekommt keine Antwort, und sie begreift, dass das, was sie sich so viele Male Male ausgemalt hat, nicht annähernd der Verzweiflung gleichkam, die ihre Eltern an dem Tag verspürten, als sie nach Hause kamen und ihre Tochter für immer weg war. (...)
Der Boden knarzt, und durch die Schlafzimmertür kommt ihre Schwester, sie schiebt einen Rollstuhl, ich habe sie noch ein bisschen zurechtgemacht, sagt sie. Katia steht auf und sieht ihre Mutter an, die in sich zusammengefallen ist, das Haar kurz und weiß, aber dieselben tief liegenden schwarzen Augen, dieselben Hände, Knochen, Adern und der viel zu lockere Ehering am Finger. Sie geht auf sie zu, die Mutter hat sie noch nicht angesehen, und ihre Schwester fragt, weißt du, wer das ist, und ihre Mutter sagt Nein und sieht dann Martina an, sagt noch mal Nein und fragt, ob es ihre Schwester sei, Nein, und Martina: Sieh genau hin, Mamá, du weißt, wer das ist. Nein. Katia weint, lächelt ihre Mutter aber so ruhig an, wie ihr das möglich ist. Mamá, sagt sie, und als sie eine Hand auf die Hände ihrer Mutter legt, zieht die Mutter ihre Hände weg und blickt wieder Martina an.
Sie hat nie aufgehört, nach dir zu fragen. Und Katia legt wieder ihre Hand auf die der Mutter, und diesmal lässt die Frau sich streicheln. Die Haut ihrer Mutter ist wie aus Glas, und Katia kann unter ihren Fingern die Knochen und Adern spüren.“

José Ovejero: „Aufstand“
Übersetzt von Patricia Hansel
Edition Nautilus 2022

Der spanische Schriftsteller Jose Ovejero.
Außergewöhnlich produktiv: der spanische Schriftsteller Jose Ovejero.© Getty Images / Quim Llenas
José Ovejero wurde 1958 in Madrid geboren und ist Autor zahlreicher Romane, Kurzgeschichten, Essays, Theaterstücke und Gedichte.
Auszüge aus dem Buch:
„Das sind Worte auf dem Kriegspfad, Sätze wie Stacheldraht. Und es wird keinen Durchlass in diesem Verhau geben. Nichts Zartes, nichts Einladendes. Obwohl du dir wünschst, dass es anders wäre und sie ihre Worte wenigstens ab und zu mit einem Anflug von Zärtlichkeit und Leichtigkeit färben würde, beneidest du sie um ihre Talent, sich so messerscharf auszudrücken. Anas Worte fallen nieder wie Steine, haben Ecken und Kanten, schlagen geräuschvoll auf den Boden und bleiben dort liegen.“ (…)
"Wie viele Leute haben sie bei deinem Radiosender schon entlassen? Grob geschätzt, in den letzten Jahren? Wie stark wurden die Löhne gekürzt? In diesem Land schmeißen sie ganze Familien auf die Straße, treten Immigranten mit Füßen, schützen pädophile Priester, Politiker verdienen sich dumm und dämlich, währen sie dich auffordern, den Gürtel enger zu schnallen. Aber du verteidigst dieses System,  ja, ein paar Kleinigkeiten muss man ändern, aber im Grunde genommen ist alles geil. Ist es das?“ (…)
„Du verstehst mich nicht; ja, ich hätte akzeptieren können, dass du aus Angst den Mund hältst, aber was ich nicht akzeptieren kann ist, dass du ihnen nach dem Mund redest, dass du mich auf diese Weise beleidigst, weil sie das von dir erwarten.“

Cristina Morales: „Leichte Sprache“
Übersetzt von Friederike von Criegern
Matthes & Seitz 2022

Die spanische Autorin Cristina Morales.
Ausgezeichnet schon in jungen Jahren: die spanische Autorin Cristina Morales.© Getty Images / Mondadori Portfolio
Cristina Morales, geboren 1985 in Granada, verfasste mehrere Romane und Kurzgeschichten. 2019 gewann Morales als jüngste Autorin den Premio Nacional de Narrativa des spanischen Kulturministeriums.
Auszüge aus dem Buch:
„Meine Schiebetüren sind keine Metapher für irgendwas, für so was wie eine psychologische Barriere, die mich von der Welt fernhält. Meine Schiebetüren sind sichtbar. An jeder Schläfe ist ein versenkbares Scharnier. Von den Schläfen bis zum Kinn öffnen sich Schlitze, durch die die jeweilige Schiebetür ein- und ausfährt. Sind sie deaktivert, lagern sie hinter meinem Gesicht, jede auf ihrer Seite: halbe Stirn, ein Auge, halbe Nasenscheidewand und ein Nasenloch, eine Wange, halber Mund und halbes Kinn.
Zuletzt habe sie sich vorgestern in der Stunde für Zeitgenössischen Tanz aktiviert. (...)
Unter den sieben oder acht Schülerinnen ist ein Schüler. Er ist ein Mann, aber vor allem ist er ein Macho, ein ständiger Zurschausteller seiner Männlichkeit in einer Gruppe Frauen. Er trägt ausgeblichene Farben und langes Haar, er ist schlecht rasiert und sein Appell an die Gemeinschaft und die Kultur ist stets einsatzbereit. Mit anderen Worten, ein Faschist. Für mich sind Faschist und Macho Synonyme. Er tanzt sehr unbeholfen, er ist aus Holz. Letzteres ist keineswegs verwerflich, genauso wenig wie meine Schiebetüren, die alle Frauen bemerkt hatten und mich daher in Ruhe ließen. Der Macho aber tat so, als würde er sie nicht sehen, und als die Choreographie, aus der ich ausgestiegen war, zu Ende war, kam er zu mir, erklärte mir, was ich falsch gemacht hatte, und bot an, mich zu verbessern. Nicht nur sein Körper, auch sein Gehirn ist aus Holz, und das ist sehr wohl verwerflich. Ja, ja, gut, gut, antwortete ich, ohne mich vom Fleck zu rühren. Du kannst mich jederzeit fragen, wenn du unsicher bist, sagte er lächelnd. Meine Güte, nur gut, dass die Schiebetüren geschlossen waren und diese Machohaftigkeit dank meines vollständigen Desinteresses für die Außenwelt nur abgeschwächt zu mir durchdrang. Das ist ein gutes Beispiel für die Schiebetüren als Schaufenster, hinter dem ich ausgestellt und unberührbar bin.“

Kiko Amat: „Träume aus Beton“
Übersetzt von Daniel Müller
Heyne Verlag 2020

Der spanische Autor Kiko Amat.
Aus der Trabantenstadt: der spanische Autor Kiko Amat.© Getty Images / David Benito
Kiko Amat, geboren 1971, stammt aus Sant Boi de Llobregat, einer Trabantenstadt in der Peripherie von Barcelona.
Auszüge aus dem Buch:
„Curro! Ruf deinen Vater und deinen Bruder. Mach schon, das Abendessen ist fertig.“
Das Exemplar Nummer 1, nennen wir es „Mutter“, ist ein zweibeiniges Säugetier und das größte Lebewesen in der Wohnung. Das auffälligste Merkmal ist der ausgeprägte Sexuadimorphismus: Das Weibchen kann bis zu fünfzig Kilogramm mehr als das Männchen wiegen. Sie ist eine Allesfresserin und hat aufgrund der Körpergrüße nur wenige natürliche Feinde.
Meine Mutter spricht, während sie kaut und umgekehrt. Dadurch klingen ihre Worte so klebrig, als würden sie sich in einem Haferbrei stromaufwärts kämpfen.
„Hast du gehört, Curro?“
Ich schaue sie an. Ihr Gesicht strahlt eine sanfte Traurigkeit aus, einen Kummer, der über die zwei großen Wangen an die Oberfläche gepresst wird. Es ist ein kleines Gesicht, das versucht, aus dem anderen, größeren Gesicht zu entfliehen. Sie kaut etwas, allerdings beiläufig und freudlos, als wäre dieses Etwas gegen ihren Willen in ihren Mund gelangt. (…)
Bei dem Exemplar Nummer 2, das wir fortan „Vater“ nennen werden, handelt es sich um einen räuberischen Vertreter der Crustacea, der Krebstiere also. Er besitzt ein einfaches Gehirn, das ihn zu einer grundlegenden Kommunikation mittels einer symbolhaften und größtenteils auf Drohungen und Gebärden basierenden Sprache befähigt. Das zweite Merkmal von Bedeutung bei diesem Exemplar ist die Tatsache, dass es in einem ungewöhnlichen Entwicklungsstadium stecken geblieben ist: ähnlich einer Raupe, die zum Kokon geworden ist, nun aber in diesem Zustand verharrt, anstatt sich in einen Schmetterling zu verwandeln.“

Miqui Otero: „Simón“
Übersetzt von Matthias Strobel
Klett-Cotta 2022

Der spanische Schriftsteller Miqui Otero.
Schlüsselfigur: der spanische Schriftsteller Miqui Otero.© Getty Images / Juan Naharro Gimenez
Miqui Otero, geboren 1980 in Barcelona, ist Romanautor, Journalist und gilt als Schlüsselfigur in Barcelonas Kulturszene.
Auszüge aus dem Buch:
„Messer müsst ihr ohne Angst, aber mit Respekt benutzen, wenn ihre es zu etwas bringen wollt“, schrie Sid.
Simón, der beim Anblick seines Chefs seine ganz eigene Idee zu deren Gebrauch entwickelte, kämpfte mir Rückenschmerzen. Nach der partybedingt kurzen Nacht war die Kochjacke nicht mehr rechtzeitig getrocknet. Deshalb schwitzte er jetzt, während ihm gleichzeitig ein kalter Schauder das Rückgrat hinunterjagte, weil er das feuchte Ding schon seit halb sechs anhatte. „wie würdelos, wie verknittert, du siehst aus, als hättest du dich geprügelt,“ hatte Sid gleich als Erstes zu ihm gesagt.
Immer wurde einem Schüler die Strafe aufgebrummt, für alle anderen Reis zu kochen, der dann in der viertelstündigen Pause runtergeschlungen wurde. Auf den Arbeitsflächen lagen ostentativ tote Tiere, mal im Ganzen, mal filetiert: Hundert Gramm davon kosteten, sogar ungebraten, mehr als das, was drei Köche zusammen verdienten. Doch sie mussten sich mit gekochtem Reis und schaler Coca-Cola begnügen, bevor sie in die Schlacht zurückkehrten.“

Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2022. Aus produktionstechnischen Gründen gibt es für diese Sendung kein Manuskript.

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