Spannend und provokativ
"Die Erfindung des jüdischen Volkes" von Shlomo Sand ist spannend und voll provokativer Thesen zu einer jüdischen Geschichte, die regional durch Mission und nicht weltumspannend ist. Es ist der wichtigste Beitrag zur jüdischen Geschichte seit mehr als einem Jahrhundert.
Shlomo Sand, Professor für neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem hat zunächst in Hebräisch, dann in französischer Übersetzung, jetzt in Deutsch ein beunruhigendes Buch vorgelegt. Er schreibt:
"Ich halte die Juden nicht für ein Volk, denn der heutige Gebrauch des Begriffs zielt auf eine Gruppe von Menschen ab, die ein bestimmtes Territorium bewohnt, auf dem sich eine bestimmte Alltagskultur entwickelt hat - von der Sprache über die Sitten bis hin zu den Lebensweisen -, die allen gemein ist."
Das Vorwort gipfelt in dem bekenntnisreichen Satz:
"Ohne dieses Buch zu schreiben, hätte ich nicht länger in Israel leben können."
Er erörtert in seinem Buch die Geschichtskonstruktionen des 19. Jahrhunderts, in denen aus dem Narrativ der europäischen Fürstenhäuser nun die Nationalgeschichten der bürgerlichen Staaten hergeleitet werden. Seit dieser Zeit entstanden auch die großen von Wissenschaftlern verfassten oft zehn- oder elfbändigen Geschichtswerke zur Geschichte der Juden. Shlomo Sand entdeckt in diesen Werken von Heinrich Graetz, Simon Dubnow oder Salo Baron das Gen der zionistischen Geschichtskonstruktion. Bei Sand liest sich das so:
"Immer noch glauben Inder, Algerier, Indonesier, Vietnamesen und Iraner, dass ihre Nation seit ewigen Zeiten besteht und auch für immer bestehen wird, und in ihren Schulen lernen die Schüler von klein auf weit zurückliegende historische Erzählungen. Im Gegensatz zu diesen wild wuchernden Mythen bestehen die implantierten Erinnerungen der Israelis (jüdischer Herkunft natürlich) scheinbar aus gesicherten, präzisen Wahrheiten.
So gut wie alle von ihnen wissen, dass seit Empfang der Gebote Gottes am Sinai das jüdische Volk gibt, dessen direkte und einzige nachfahren sie sind (außer den zehn Stämmen, die man bisher nicht wiederaufgefunden hat). Sie sind überzeugt, dass dieses Volk aus Ägypten 'auszog'."
Schließlich fasst er zusammen:
"Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde [diese Erinnerungslandschaft] von begabten Neuerfindern der Vergangenheit Schicht um Schicht rekonstruiert."
Es geht um die Frage, ob das Judentum bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine Religionskultur, aber keine einheitliche Volkskultur war und wenn dem so wäre, die zionistische Geschichtskonstruktion der Rückkehr in das Land der Vorfahren jedweder Grundlage entbehrt.
Als vor knapp 20 Jahren die von mir konzipierte Ausstellung jüdische Lebenswelten in einem international besetzten wissenschaftlichen Beirat einem kritischen Diskurs unterzogen wurde, ging es etwa an der gleichen Stelle hoch her. Der ursprüngliche Arbeitstitel "Jüdische Weltkulturen" wurde mit dem Argument verworfen, das Judentum bildete inhaltlich eine Einheit und wäre deshalb nur eine Weltkultur.
Da aber offensichtlich zwischen den Juden in Kai-Feng, China, die auch ethnisch Chinesen waren, den Juden in Bombay oder Cochin, Indien und den in Vilnius allein eine Verbindung in Bezug auf die religiösen Grundlagen bestand, konnte man sich auf den Begriff der Lebenswelten im Plural einigen.
Geht man ins Diasporamuseum in Tel Aviv, wird man von einer Wand von Portraitphotos begrüßt, die auf eigene Weise die Diversität jüdischer Ethnizität belegen: Von schwarzheutigen, über ethnisch chinesischen, bis zu blond-hellsthäutigen reicht die Palette. Ob nun, wie Sand behauptet, diese Vielfältigkeit trotz kirchlichem Missionsverbot für Juden durch jüdische Mission entstand oder durch Einheirat oder durch beides, ist gleichgültig.
Den Zionisten wie den Rassisten im Reichssicherheitshauptamt der NS-Zeit zum Trotz: Juden stammen nur gedanklich vom biblischen Abraham ab. Insofern ist das jüdische Volk zwar lebendig, aber eben eine religiöse Glaubenskonstruktion. Sand müht sich in seinen ersten Kapiteln mit all den Grundbegriffen wie im Proseminar ab, um dann zu dem mühevoll festzustellen:
"In diesem Sinn ist das 'Volk' eine gesellschaftliche Gruppierung, die auf einem klar abgegrenzten Territorium lebt und zumindest in Grundzügen gemeinsame Normen und weltliche kulturelle Praktiken teilt."
Für Sand wären wohl Sinti und Roma auch kein Volk, er verrennt sich hier in den Kategorien derjenigen jüdischen Nationalisten, die er mit seinem Geschichtsansatz auszuhebeln versucht. Schließlich versucht er sich am Begriff der Nation:
"So wie im Mittelalter die Kirche den Glauben an Gott organisierte, so kontrolliert der moderne Staat den Glauben an die Nation. Dieser versteht sich als Erfüllung einer ewigen Mission und forderte, dass man ihn verehrt. Er ersetzt Taufe und Eheschließung durch sorgfältige bürgerliche Registrierung und behandelt schließlich diejenigen, die Vorbehalte gegen die eigene nationale Identität haben, wie Ketzer und Verräter."
Vielleicht fasst er in dieser letzten Bemerkung zugleich auch die Reaktion auf sein Buch in Israel zusammen.
Seine kritischen Fragen an die heute gängige Konstruktion jüdischer Geschichte, wonach die Juden aus Palästina vertrieben sich als Exilanten ausbreiteten, wären jedoch von einer wirklich historischen Forschung zur Geschichte der Juden zu beantworten, denn ob es wirklich eine Vertreibung der Juden durch die Römer aus Palästina gegeben hat, ist nicht nachgewiesen. Dass es schon vor der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 unserer Zeitrechnung große jüdische Gemeinden in Babylon, Nordafrika und im Römischen Reich gegeben hat, steht außer Zweifel. Und warum sollte nur das "wahre Israel", wie sich die Kirche in ihrer frühen Zeit so gerne nannte, Mission getrieben haben und nicht auch die jüdischen Gemeinden.
Auch stellt sich die Frage, warum nach der Vertreibung der Juden aus der Iberischen Halbinsel diese um das heilige Land einen großen Bogen gemacht haben, um sich andernorts entlang des Mittelmeeres anzusiedeln und nicht nach Palästina zurückkehrten. Hier stellt Sand interessante Fragen, die der jüdischen Mythologie des 20. Jahrhunderts zuwiderlaufen. Sand drängt auch die jüdische Bibelwissenschaft dazu, die von der nichtjüdischen Bibelwissenschaft längst festgestellten Fakten zur Kenntnis zu nehmen, wonach es mehr als zweifelhaft ist, dass etwa der Exodus aus Ägypten historischer Fakt sei. Bei Sand liest sich das so:
"Die Schöpfer der biblischen Texte wollten eine klar definierte Religionsgemeinschaft schaffen. […] Ihr wichtigstes Anliegen war, sich von den Anhängern des Götzendienstes abzugrenzen und deshalb erfanden sie die neue Kategorie 'Israel' als heiliges und auserwähltes Volk fremden Ursprungs, dem sie 'Kanaan', das Volk der einfachen Arbeiter, gegenüberstellten."
Das Buch von Sand ist spannend, voll provokativer Thesen zu einer jüdischen Geschichte, die regional durch Mission und nicht weltumspannend, nicht ethnisch ist: Es ist der wichtigste Beitrag zur jüdischen Geschichte seit Heinrich Graetz vor 150 Jahren. Sand ist skeptisch, ob sein Forschungsansatz angenommen wird:
"Niemand möchte die Steine hochheben, unter denen die giftigen Spinnen umherkrabbeln, die dem Selbstbild der [jüdischen] 'Ethnie' und seinen territorialen Forderungen schaden könnten."
An dieser Stelle will man hoffen, dass Sands Prognose nicht eintrifft. Man wünschte sich einen Shlomo Sand Lehrstuhl für jüdische Geschichte, der die Fragen und Thesen dieser seit langem überfälligen Geschichtsrevision zum Arbeitsprogramm macht und dann das zehnbändige Werk zur Geschichte der jüdischen Lebenswelten vorlegt.
Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes
Propyläen
"Ich halte die Juden nicht für ein Volk, denn der heutige Gebrauch des Begriffs zielt auf eine Gruppe von Menschen ab, die ein bestimmtes Territorium bewohnt, auf dem sich eine bestimmte Alltagskultur entwickelt hat - von der Sprache über die Sitten bis hin zu den Lebensweisen -, die allen gemein ist."
Das Vorwort gipfelt in dem bekenntnisreichen Satz:
"Ohne dieses Buch zu schreiben, hätte ich nicht länger in Israel leben können."
Er erörtert in seinem Buch die Geschichtskonstruktionen des 19. Jahrhunderts, in denen aus dem Narrativ der europäischen Fürstenhäuser nun die Nationalgeschichten der bürgerlichen Staaten hergeleitet werden. Seit dieser Zeit entstanden auch die großen von Wissenschaftlern verfassten oft zehn- oder elfbändigen Geschichtswerke zur Geschichte der Juden. Shlomo Sand entdeckt in diesen Werken von Heinrich Graetz, Simon Dubnow oder Salo Baron das Gen der zionistischen Geschichtskonstruktion. Bei Sand liest sich das so:
"Immer noch glauben Inder, Algerier, Indonesier, Vietnamesen und Iraner, dass ihre Nation seit ewigen Zeiten besteht und auch für immer bestehen wird, und in ihren Schulen lernen die Schüler von klein auf weit zurückliegende historische Erzählungen. Im Gegensatz zu diesen wild wuchernden Mythen bestehen die implantierten Erinnerungen der Israelis (jüdischer Herkunft natürlich) scheinbar aus gesicherten, präzisen Wahrheiten.
So gut wie alle von ihnen wissen, dass seit Empfang der Gebote Gottes am Sinai das jüdische Volk gibt, dessen direkte und einzige nachfahren sie sind (außer den zehn Stämmen, die man bisher nicht wiederaufgefunden hat). Sie sind überzeugt, dass dieses Volk aus Ägypten 'auszog'."
Schließlich fasst er zusammen:
"Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde [diese Erinnerungslandschaft] von begabten Neuerfindern der Vergangenheit Schicht um Schicht rekonstruiert."
Es geht um die Frage, ob das Judentum bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine Religionskultur, aber keine einheitliche Volkskultur war und wenn dem so wäre, die zionistische Geschichtskonstruktion der Rückkehr in das Land der Vorfahren jedweder Grundlage entbehrt.
Als vor knapp 20 Jahren die von mir konzipierte Ausstellung jüdische Lebenswelten in einem international besetzten wissenschaftlichen Beirat einem kritischen Diskurs unterzogen wurde, ging es etwa an der gleichen Stelle hoch her. Der ursprüngliche Arbeitstitel "Jüdische Weltkulturen" wurde mit dem Argument verworfen, das Judentum bildete inhaltlich eine Einheit und wäre deshalb nur eine Weltkultur.
Da aber offensichtlich zwischen den Juden in Kai-Feng, China, die auch ethnisch Chinesen waren, den Juden in Bombay oder Cochin, Indien und den in Vilnius allein eine Verbindung in Bezug auf die religiösen Grundlagen bestand, konnte man sich auf den Begriff der Lebenswelten im Plural einigen.
Geht man ins Diasporamuseum in Tel Aviv, wird man von einer Wand von Portraitphotos begrüßt, die auf eigene Weise die Diversität jüdischer Ethnizität belegen: Von schwarzheutigen, über ethnisch chinesischen, bis zu blond-hellsthäutigen reicht die Palette. Ob nun, wie Sand behauptet, diese Vielfältigkeit trotz kirchlichem Missionsverbot für Juden durch jüdische Mission entstand oder durch Einheirat oder durch beides, ist gleichgültig.
Den Zionisten wie den Rassisten im Reichssicherheitshauptamt der NS-Zeit zum Trotz: Juden stammen nur gedanklich vom biblischen Abraham ab. Insofern ist das jüdische Volk zwar lebendig, aber eben eine religiöse Glaubenskonstruktion. Sand müht sich in seinen ersten Kapiteln mit all den Grundbegriffen wie im Proseminar ab, um dann zu dem mühevoll festzustellen:
"In diesem Sinn ist das 'Volk' eine gesellschaftliche Gruppierung, die auf einem klar abgegrenzten Territorium lebt und zumindest in Grundzügen gemeinsame Normen und weltliche kulturelle Praktiken teilt."
Für Sand wären wohl Sinti und Roma auch kein Volk, er verrennt sich hier in den Kategorien derjenigen jüdischen Nationalisten, die er mit seinem Geschichtsansatz auszuhebeln versucht. Schließlich versucht er sich am Begriff der Nation:
"So wie im Mittelalter die Kirche den Glauben an Gott organisierte, so kontrolliert der moderne Staat den Glauben an die Nation. Dieser versteht sich als Erfüllung einer ewigen Mission und forderte, dass man ihn verehrt. Er ersetzt Taufe und Eheschließung durch sorgfältige bürgerliche Registrierung und behandelt schließlich diejenigen, die Vorbehalte gegen die eigene nationale Identität haben, wie Ketzer und Verräter."
Vielleicht fasst er in dieser letzten Bemerkung zugleich auch die Reaktion auf sein Buch in Israel zusammen.
Seine kritischen Fragen an die heute gängige Konstruktion jüdischer Geschichte, wonach die Juden aus Palästina vertrieben sich als Exilanten ausbreiteten, wären jedoch von einer wirklich historischen Forschung zur Geschichte der Juden zu beantworten, denn ob es wirklich eine Vertreibung der Juden durch die Römer aus Palästina gegeben hat, ist nicht nachgewiesen. Dass es schon vor der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 unserer Zeitrechnung große jüdische Gemeinden in Babylon, Nordafrika und im Römischen Reich gegeben hat, steht außer Zweifel. Und warum sollte nur das "wahre Israel", wie sich die Kirche in ihrer frühen Zeit so gerne nannte, Mission getrieben haben und nicht auch die jüdischen Gemeinden.
Auch stellt sich die Frage, warum nach der Vertreibung der Juden aus der Iberischen Halbinsel diese um das heilige Land einen großen Bogen gemacht haben, um sich andernorts entlang des Mittelmeeres anzusiedeln und nicht nach Palästina zurückkehrten. Hier stellt Sand interessante Fragen, die der jüdischen Mythologie des 20. Jahrhunderts zuwiderlaufen. Sand drängt auch die jüdische Bibelwissenschaft dazu, die von der nichtjüdischen Bibelwissenschaft längst festgestellten Fakten zur Kenntnis zu nehmen, wonach es mehr als zweifelhaft ist, dass etwa der Exodus aus Ägypten historischer Fakt sei. Bei Sand liest sich das so:
"Die Schöpfer der biblischen Texte wollten eine klar definierte Religionsgemeinschaft schaffen. […] Ihr wichtigstes Anliegen war, sich von den Anhängern des Götzendienstes abzugrenzen und deshalb erfanden sie die neue Kategorie 'Israel' als heiliges und auserwähltes Volk fremden Ursprungs, dem sie 'Kanaan', das Volk der einfachen Arbeiter, gegenüberstellten."
Das Buch von Sand ist spannend, voll provokativer Thesen zu einer jüdischen Geschichte, die regional durch Mission und nicht weltumspannend, nicht ethnisch ist: Es ist der wichtigste Beitrag zur jüdischen Geschichte seit Heinrich Graetz vor 150 Jahren. Sand ist skeptisch, ob sein Forschungsansatz angenommen wird:
"Niemand möchte die Steine hochheben, unter denen die giftigen Spinnen umherkrabbeln, die dem Selbstbild der [jüdischen] 'Ethnie' und seinen territorialen Forderungen schaden könnten."
An dieser Stelle will man hoffen, dass Sands Prognose nicht eintrifft. Man wünschte sich einen Shlomo Sand Lehrstuhl für jüdische Geschichte, der die Fragen und Thesen dieser seit langem überfälligen Geschichtsrevision zum Arbeitsprogramm macht und dann das zehnbändige Werk zur Geschichte der jüdischen Lebenswelten vorlegt.
Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes
Propyläen