Spannende Lesarten des Koran
Angelika Neuwirth ist fasziniert von der kunstvollen Rezitationstechnik in der Korankultur. Sie rät zur Behutsamkeit hinsichtlich der Textanalyse bei Themen wie der Rolle der Frau. Zudem sei die klassische Koranauslegung tolerant gegenüber verschiedenen Deutungen. Die Arabistin erhält den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa 2013.
Britta Bürger: Ist der Koran auch ein europäischer Text? Die Arabistin Angelika Neuwirth ist davon überzeugt! Für ihre bahnbrechenden Forschungen zum Koran und für ihre herausragende wissenschaftliche Prosa wird sie im Rahmen der heute beginnenden Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem renommierten Sigmund-Freud-Preis ausgezeichnet. Dazu möchten wir ihr gratulieren und mehr erfahren über das Verhältnis Koran und Europa. Schönen guten Morgen, Frau Neuwirth, und erst mal herzlichen Glückwunsch zu dieser Auszeichnung!
Angelika Neuwirth: Herzlichen Dank, Frau Bürger!
Bürger: Seit über 20 Jahren sind Sie Professorin für Arabistik an der Freien Universität Berlin und leiten außerdem das Forschungsprojekt Corpus Coranicum an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Dort erarbeiten Sie einen historisch-kritischen Kommentar zum Koran. Wie haben Sie selbst angefangen und versucht, den Koran umfassend zu verstehen?
Neuwirth: Das ist eine lange Geschichte, bei einem langen Leben kein Wunder! Mir ist der Koran lebendig begegnet. Das heißt, nicht als Buch, der Text, den man in der akademischen Forschung vor Augen hat, sondern als eine lebendige Praxis. Die Muslime selbst bewahren ja eine Form der Inszenierung des Koran, die eigentlich einem Außenstehenden in ihrer Faszinationskraft gar nicht entgehen kann. Navid Kermani hat das in dem sehr schönen Buch "Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran" beschrieben. Sie wenden bei ihrer Koranlesung eine kunstvolle Kantilene an, eine kunstvolle Rezitationstechnik an, die den Text sogleich auf eine sakrale Ebene erhebt. Das fehlt uns ja in unserer Kultur weitestgehend, wir haben normalerweise in unserem Alltag keine solchen Enklaven der Heiligkeit vorgesehen und können uns eigentlich nur durch die Muslime überraschen und beeindrucken lassen.
Bürger: Das heißt, das Verständnis des Korans erschließt sich vor allen Dingen beim Hören und nicht beim Lesen?
Neuwirth: Zumindest lebt der Koran von diesem Hörerlebnis und Sprecherlebnis in der muslimischen Kultur, und dort braucht man dann auch nicht so viel Erklärung, weil er gewissermaßen unmittelbar zu einem spricht. Wir Außenstehenden, die wir ja diese Praxis weder ausüben können, noch gewohnt sind, warten natürlich auf andere Hinweise, wenn wir nach der Bedeutung, nach der Relevanz dieses Textes suchen. Und ich denke, in unserer gegenwärtigen Situation haben wir mehr als einen Grund, uns zu fragen, wo eigentlich der Koran lokalisiert werden sollte in unserer Kulturlandschaft.
Bürger: Dabei hat Ihnen sicher auch Ihr Leben in der arabischen Welt geholfen. Sie waren viele Jahre Gastprofessorin in Jordanien, einige Zeit in Istanbul, von 1994 bis 99 Direktorin des Orient-Instituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut. Wenn Sie jetzt in Berlin forschen, gibt es da bestimmte Erinnerungen, die Sie sich immer wieder zurückholen, bestimmte Situationen, in denen Sie den Koran tatsächlich dann intensiv erlebt haben?
Neuwirth: Ja, in Mengen, wenn ich so sagen darf. Ich bin auch in Berlin ja nicht von der Praxis der Koranrezitation ganz abgeschnitten. Meine mir eigentlich am meisten nahestehenden Hörer sind junge Leute aus den Kreisen unserer Migranten oder, wie man sagt, Studierende mit Migrantenhintergrund, die mir immer wieder neue überraschende Aspekte des Koran eröffnen.
Bürger: In einem Ihrer Bücher suchen Sie gezielt den europäischen Zugang zum Koran und bezeichnen ihn als einen Text der Spätantike. Worin, Freu Neuwirth, besteht diese europäische Dimension?
Angelika Neuwirth: Herzlichen Dank, Frau Bürger!
Bürger: Seit über 20 Jahren sind Sie Professorin für Arabistik an der Freien Universität Berlin und leiten außerdem das Forschungsprojekt Corpus Coranicum an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Dort erarbeiten Sie einen historisch-kritischen Kommentar zum Koran. Wie haben Sie selbst angefangen und versucht, den Koran umfassend zu verstehen?
Neuwirth: Das ist eine lange Geschichte, bei einem langen Leben kein Wunder! Mir ist der Koran lebendig begegnet. Das heißt, nicht als Buch, der Text, den man in der akademischen Forschung vor Augen hat, sondern als eine lebendige Praxis. Die Muslime selbst bewahren ja eine Form der Inszenierung des Koran, die eigentlich einem Außenstehenden in ihrer Faszinationskraft gar nicht entgehen kann. Navid Kermani hat das in dem sehr schönen Buch "Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran" beschrieben. Sie wenden bei ihrer Koranlesung eine kunstvolle Kantilene an, eine kunstvolle Rezitationstechnik an, die den Text sogleich auf eine sakrale Ebene erhebt. Das fehlt uns ja in unserer Kultur weitestgehend, wir haben normalerweise in unserem Alltag keine solchen Enklaven der Heiligkeit vorgesehen und können uns eigentlich nur durch die Muslime überraschen und beeindrucken lassen.
Bürger: Das heißt, das Verständnis des Korans erschließt sich vor allen Dingen beim Hören und nicht beim Lesen?
Neuwirth: Zumindest lebt der Koran von diesem Hörerlebnis und Sprecherlebnis in der muslimischen Kultur, und dort braucht man dann auch nicht so viel Erklärung, weil er gewissermaßen unmittelbar zu einem spricht. Wir Außenstehenden, die wir ja diese Praxis weder ausüben können, noch gewohnt sind, warten natürlich auf andere Hinweise, wenn wir nach der Bedeutung, nach der Relevanz dieses Textes suchen. Und ich denke, in unserer gegenwärtigen Situation haben wir mehr als einen Grund, uns zu fragen, wo eigentlich der Koran lokalisiert werden sollte in unserer Kulturlandschaft.
Bürger: Dabei hat Ihnen sicher auch Ihr Leben in der arabischen Welt geholfen. Sie waren viele Jahre Gastprofessorin in Jordanien, einige Zeit in Istanbul, von 1994 bis 99 Direktorin des Orient-Instituts der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Beirut. Wenn Sie jetzt in Berlin forschen, gibt es da bestimmte Erinnerungen, die Sie sich immer wieder zurückholen, bestimmte Situationen, in denen Sie den Koran tatsächlich dann intensiv erlebt haben?
Neuwirth: Ja, in Mengen, wenn ich so sagen darf. Ich bin auch in Berlin ja nicht von der Praxis der Koranrezitation ganz abgeschnitten. Meine mir eigentlich am meisten nahestehenden Hörer sind junge Leute aus den Kreisen unserer Migranten oder, wie man sagt, Studierende mit Migrantenhintergrund, die mir immer wieder neue überraschende Aspekte des Koran eröffnen.
Bürger: In einem Ihrer Bücher suchen Sie gezielt den europäischen Zugang zum Koran und bezeichnen ihn als einen Text der Spätantike. Worin, Freu Neuwirth, besteht diese europäische Dimension?
"Spiegel spätantiken Debattierens im Koran"
Neuwirth: Die europäische Dimension sucht man natürlich dann, wenn man interessiert ist daran, den Koran in irgendeiner Form verständlich zu machen einer Öffentlichkeit, die mit seiner praktischen Aufführung wenig zu tun hat. Und da fällt es einem eigentlich nicht schwer, wenn man den Text genau liest, die Spuren einer Debatte oder einer andauernden Debatte seitens des angesprochenen Propheten und seiner Hörer, die auch dort figurieren, und auch derjenigen Gegner, gegen die sie sich ständig zu wehren haben, in dieser Debatte einen Spiegel spätantiken Debattierens oder Diskutierens zu sehen. Ganz ähnliche Debatten finden wir ja auch in den älteren christlichen Traditionen, in der Kirchenväterliteratur oder auch in der rabbinischen Literatur. Mit anderen Worten, der Koran bedient sich ganz ähnlicher Strategien der Überzeugung, wie sie in den umliegenden Kulturen gang und gäbe sind, und sprüht sich gewissermaßen in diesen gesamten globalen Prozess der Neulektüre der Bibel ein. Das heißt, er gibt Antworten, neue Antworten auf Fragen, die in der Umwelt ganz generell gestellt werden.
Bürger: Heißt das, Sie suchen im Koran nicht das Fremde, sondern das uns Verbindende?
Neuwirth: Ja, ich sehe im Grunde überhaupt nichts Fremdes, wenn man von der arabischen Sprache absieht, die bis dann, also bis zum Auftreten des Propheten Mohammed, noch nicht als eine Theologiesprache gebraucht worden ist, die also erst durch den Koran in die Welt der theologisch relevanten Sprachen eintritt. Aber davon abgesehen … Und ich würde sogar sagen, wenn der Koran nicht arabisch wäre, hätte eine große Öffentlichkeit gar keine Probleme mit ihm! Davon abgesehen ist der Koran wirklich ein durchaus kongenialer Text zu all den Texten, die wir als Teile unserer europäischen Tradition akzeptieren und schätzen.
Bürger: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der Arabistin Angelika Neuwirth, sie erforscht, warum der Koran auch für nicht muslimische Europäer eine wichtige Quelle ist, und wird dafür jetzt mit dem Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. Frau Neuwirth, gibt es bestimmte Themen, unter denen Sie den Koran für sich ganz bewusst abklopfen, so wie es jetzt einige andere Islamwissenschaftlerinnen tun, die zum Beispiel gezielt die Rolle der Frau untersuchen?
Neuwirth: Ja, das ist ein Problem. Wenn man Themen an den Koran heranträgt, läuft man ja Gefahr, dass man schon nach einer bestimmten Entscheidung des Korans zugunsten der eigenen Überzeugung sucht. Also, man muss etwas behutsamer sein, man muss tatsächlich den Koran als einen Entwicklungsprozess ernst nehmen. Das heißt, man muss die Anfänge zunächst einmal beleuchten, um dann zu sehen, gegen welche Gegenstimmen, gegen welche Opponenten sich diese Gemeinde mit einer bestimmten Meinung positioniert. Und gerade bei der Frau beispielsweise würde ich nicht so sehr von den Texten ausgehen, die von den Frauen direkt handeln, sondern eher darauf schauen, dass generell der Koran einen revolutionären Sprung nach vorne macht, indem er der Frau vor Gott die gleiche Position, den gleichen Rang einräumt wie dem Mann. Das heißt, dass er beiden Geschlechtern am Jüngsten Tag dieselben Kriterien vorhält oder dieselben Kriterien prophezeit, die angewandt werden, um die Taten und Unterlassungen der jeweiligen Menschen zu beurteilen. Das heißt, beide unterliegen demselben göttlichen Urteil. Das ist ganz neu. Also, in der umliegenden Spätantike wurde zum Teil ja sogar noch gezweifelt, ob die Frau überhaupt eine Seele habe.
Bürger: Vor ein paar Tagen haben Sie in einer Buchrezension diesen schönen Satz geschrieben, traditionell galt der Koran als ein Meer, unendlich in seiner Fülle von Deutungsmöglichkeiten. Sind tatsächlich die Protestanten dafür verantwortlich, dass sich die Koranrezeption dann hin zur strengen Lehre entwickelt hat, zu einer Schrift, der man wortwörtlich folgen soll?
Neuwirth: So vereinfacht würde ich das jetzt natürlich nicht zugeben. Aber wenn Sie beispielsweise …
Bürger: Sie deuten es aber so an!
Neuwirth: Ich deute an, dass die – und da bin ich keineswegs die Erste –, ich deute an, dass diese Neigung, Vielfalt durch Einheitlichkeit zu ersetzen, sich einem neuen Ideal verdankt, das man eben um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert verfolgt hat, wo man ja auch ganz äußerlich beispielsweise die Vielfalt der Koranrezitationsmöglichkeiten beschränkt hat oder jedenfalls dafür gesorgt hat, dass eine ganz besonders in den Vordergrund tritt und die anderen in den Hintergrund treten müssen. Das hat alles Thomas Bauer in einem wunderschönen Buch, "Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam", beschrieben. Also, man darf natürlich nun nicht alle Missstände auf europäische Indoktrination zurückführen, das will ich damit nicht sagen. Aber die klassische islamische Koranauslegung ist äußerst generös mit der Zulassung verschiedenster Deutung, über deren Rang diese Auslegung auch gar keine Aussage macht.
Bürger: Wird Ihre eigene wissenschaftliche Arbeit eigentlich auch ergänzt durch eine persönliche spirituelle Offenheit?
Neuwirth: Ja, ich denke, wenn man für religiöse Texte gar kein Gefühl hat oder keine Liebe zu ihnen hat, dann müssen sie einem ja unendlich langweilig erscheinen. Dann wendet man sich ganz sicher lieber eher anderen Textgattungen zu. Insofern kann ich nicht leugnen, dass ich einen großen Genuss aus dieser Koranlektüre ziehe!
Bürger: Die Arabistin Angelika Neuwirth. Am Sonnabend bekommt sie den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, deren Herbsttagung beginnt heute zum Thema "Der Koran und Europa". Ihr Thema also, Frau Neuwirth! Herzlichen Dank fürs Gespräch!
Neuwirth: Danke Ihnen, Frau Bürger!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bürger: Heißt das, Sie suchen im Koran nicht das Fremde, sondern das uns Verbindende?
Neuwirth: Ja, ich sehe im Grunde überhaupt nichts Fremdes, wenn man von der arabischen Sprache absieht, die bis dann, also bis zum Auftreten des Propheten Mohammed, noch nicht als eine Theologiesprache gebraucht worden ist, die also erst durch den Koran in die Welt der theologisch relevanten Sprachen eintritt. Aber davon abgesehen … Und ich würde sogar sagen, wenn der Koran nicht arabisch wäre, hätte eine große Öffentlichkeit gar keine Probleme mit ihm! Davon abgesehen ist der Koran wirklich ein durchaus kongenialer Text zu all den Texten, die wir als Teile unserer europäischen Tradition akzeptieren und schätzen.
Bürger: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der Arabistin Angelika Neuwirth, sie erforscht, warum der Koran auch für nicht muslimische Europäer eine wichtige Quelle ist, und wird dafür jetzt mit dem Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. Frau Neuwirth, gibt es bestimmte Themen, unter denen Sie den Koran für sich ganz bewusst abklopfen, so wie es jetzt einige andere Islamwissenschaftlerinnen tun, die zum Beispiel gezielt die Rolle der Frau untersuchen?
Neuwirth: Ja, das ist ein Problem. Wenn man Themen an den Koran heranträgt, läuft man ja Gefahr, dass man schon nach einer bestimmten Entscheidung des Korans zugunsten der eigenen Überzeugung sucht. Also, man muss etwas behutsamer sein, man muss tatsächlich den Koran als einen Entwicklungsprozess ernst nehmen. Das heißt, man muss die Anfänge zunächst einmal beleuchten, um dann zu sehen, gegen welche Gegenstimmen, gegen welche Opponenten sich diese Gemeinde mit einer bestimmten Meinung positioniert. Und gerade bei der Frau beispielsweise würde ich nicht so sehr von den Texten ausgehen, die von den Frauen direkt handeln, sondern eher darauf schauen, dass generell der Koran einen revolutionären Sprung nach vorne macht, indem er der Frau vor Gott die gleiche Position, den gleichen Rang einräumt wie dem Mann. Das heißt, dass er beiden Geschlechtern am Jüngsten Tag dieselben Kriterien vorhält oder dieselben Kriterien prophezeit, die angewandt werden, um die Taten und Unterlassungen der jeweiligen Menschen zu beurteilen. Das heißt, beide unterliegen demselben göttlichen Urteil. Das ist ganz neu. Also, in der umliegenden Spätantike wurde zum Teil ja sogar noch gezweifelt, ob die Frau überhaupt eine Seele habe.
Bürger: Vor ein paar Tagen haben Sie in einer Buchrezension diesen schönen Satz geschrieben, traditionell galt der Koran als ein Meer, unendlich in seiner Fülle von Deutungsmöglichkeiten. Sind tatsächlich die Protestanten dafür verantwortlich, dass sich die Koranrezeption dann hin zur strengen Lehre entwickelt hat, zu einer Schrift, der man wortwörtlich folgen soll?
Neuwirth: So vereinfacht würde ich das jetzt natürlich nicht zugeben. Aber wenn Sie beispielsweise …
Bürger: Sie deuten es aber so an!
Neuwirth: Ich deute an, dass die – und da bin ich keineswegs die Erste –, ich deute an, dass diese Neigung, Vielfalt durch Einheitlichkeit zu ersetzen, sich einem neuen Ideal verdankt, das man eben um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert verfolgt hat, wo man ja auch ganz äußerlich beispielsweise die Vielfalt der Koranrezitationsmöglichkeiten beschränkt hat oder jedenfalls dafür gesorgt hat, dass eine ganz besonders in den Vordergrund tritt und die anderen in den Hintergrund treten müssen. Das hat alles Thomas Bauer in einem wunderschönen Buch, "Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam", beschrieben. Also, man darf natürlich nun nicht alle Missstände auf europäische Indoktrination zurückführen, das will ich damit nicht sagen. Aber die klassische islamische Koranauslegung ist äußerst generös mit der Zulassung verschiedenster Deutung, über deren Rang diese Auslegung auch gar keine Aussage macht.
Bürger: Wird Ihre eigene wissenschaftliche Arbeit eigentlich auch ergänzt durch eine persönliche spirituelle Offenheit?
Neuwirth: Ja, ich denke, wenn man für religiöse Texte gar kein Gefühl hat oder keine Liebe zu ihnen hat, dann müssen sie einem ja unendlich langweilig erscheinen. Dann wendet man sich ganz sicher lieber eher anderen Textgattungen zu. Insofern kann ich nicht leugnen, dass ich einen großen Genuss aus dieser Koranlektüre ziehe!
Bürger: Die Arabistin Angelika Neuwirth. Am Sonnabend bekommt sie den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, deren Herbsttagung beginnt heute zum Thema "Der Koran und Europa". Ihr Thema also, Frau Neuwirth! Herzlichen Dank fürs Gespräch!
Neuwirth: Danke Ihnen, Frau Bürger!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.