Spannender Wissenschaftskrimi
Die Neurologen Alois Alzheimer, Pierre Broca und Hans Asperger gaben Krankheiten ihren Namen, weil sie als deren Entdecker galten. Dass hinter dieser Namensgebung auch Machtkämpfe und Intrigen des Medizinbetriebes standen, zeigt der Psychologiehistoriker Douwe Draaisma in seinem Buch "Geist auf Abwegen".
Am 18. April 1861 präsentiert Pierre Paul Broca während einer Sitzung der Société d`Anthropologie das Gehirn eines kurz zuvor gestorbenen 51-jährigen Schuhmachers, der mit Anfang 30 seine Sprache verloren hatte und auf Fragen lediglich mit den Lauten "tan, tan" antworten konnte, was ihm schließlich den Namen Mr. Tan einbrachte. Der französische Anatom Broca lernte Mr. Tan wenige Tage vor dessen Tod kennen, untersuchte ihn ausführlich und stellt schon bald fest: Mr. Tan war vollkommen bei Verstand. Woher also kam der Sprachverlust? Was war die Ursache?
Erst die Autopsie brachte Antworten, zeigte sie doch: Tans Gehirn war völlig vereitert, es war deutlich geschrumpft und - in der linken Seite des Frontallappens fand sich eine Einstülpung, die so groß war wie ein Hühnerei. Hier so mutmaßte Broca, musste die Ursache der Sprachstörung liegen. Denn obwohl Tans Gehirn insgesamt kaum intakt war, war die Schädigung an der dritten Windung besonders stark. Brocas Entdeckung kennzeichnet die Geburtsstunde des sogenannten Broca-Zentrums.
Doch war es tatsächlich Pierre Broca, der die Entdeckung, dass es einen Zusammenhang zwischen einer Störung der Sprache und der Schädigung einer bestimmten Stelle in der linken Gehirnhälfte tatsächlich gab, als erster machte? War es nicht vielmehr sein Zeitgenosse Jean-Baptiste Bouillaud, der diesen Zusammenhang als erster benannte? Oder wie ist es mit dem Bericht von Marc Dax, der angeblich schon 25 Jahre vor Broca über das Phänomen einen Vortrag gehalten haben wollte? Sprich: Trägt das Broca-Zentrum gar einen falschen Namen?
Ja, wenn es um den Zeitpunkt der Entdeckung geht, denn da waren die beiden anderen schneller. Nein, wenn es um die beste Publicity geht, da war Broca unschlagbar. Er war der erste, der seine Entdeckung am besten dokumentiert nach außen trug: Sie auf den wichtigen Tagungen präsentierte und in angesehenen Fachblättern veröffentlichte.
Wissenschaft ist niemals unschuldig, sondern vielmehr ein stark vermintes Machtgefüge, das beweist dies neue Buch des niederländischen Psychologiehistoriker Douwe Draaisma allemal. "Geist auf Abwegen" ist ein gelungener Wissenschaftskrimi, der weit mehr ist als das bloße Zusammentragen biographischer Daten zwölf bedeutender Forscher. Denn in einer perfektionistischen Detailtreue zeigt Draaisma anhand der Geschichte von zwölf Krankheitsnamen, dass sehr häufig hinter dieser Namensgebung immer auch Machtkämpfe und Intrigen des Medizinbetriebes stehen.
Entscheidend, so Draaisma, ist in den meisten Fällen nicht, wer zuerst etwas entdeckte, sondern was nach der Entdeckung passierte, wie sie aufgenommen wurde, wie sie sich verbreitete und natürlich, ob sie prominente Fürsprecher hatte. Etwa so jemanden wie Jean-Martin Charcot. Der Psychiater Charcot genoss so hohes Ansehen wie kein anderer zu seiner Zeit. Kein Wunder also, dass er Krankheitsnamen vergab wie kein anderer: die Jackson-Epilepsie, die Parkinson-Krankheit und das Tourette-Syndrom. Alles Namen, die Charcot vergab, nicht selten, um damit auch seinem eigenen Namen Ruhm zukommen zu lassen. Ein wahres Geben und Nehmen eben.
So kennt heute kein Mensch die russische Kinderärztin Ewa Ssucharewa, die bereits 1926 über sechs Jungen berichtete, die sich autismusartig verhielten, zu anderen Menschen keine Beziehung aufbauen konnten und zudem äußerst widerspenstig und impulsiv waren. Heute heißt die Krankheit nach Hans Asperger, der sie 18 Jahre später auf einem Kongress beschrieb und seine Beobachtungen anschließend veröffentlichte. Durch Draaismas Recherche bekommt Ewa Ssucharewa wieder ihren Platz in der Geschichte.
Doch Draaismas Buch ist noch mehr. Denn eingewoben in diesen spannenden Wissenschaftskrimi erzählt er immer auch die Lebensgeschichten der Namensgeber, beschreibt detailgenau ihre Arbeitsweise, ihre Fälle und erzählt vom Mut der Wissenschaftler, wenn nötig auch abseitige Wege zu beschreiten. Dabei ist das Buch durchgehend vom Respekt gegenüber den Patienten geprägt. Ein Wesenszug, der auch den beschrieben Forschern zu Eigen war. Auch das ist Medizingeschichte, denn heute gilt als unseriös, wer sich nur mit Einzelfällen beschäftigt.
Einen Charles Bonnet und das nach ihm benannte Syndrom würde es so heute nicht mehr geben. Der Franzose machte seine Entdeckung dank seines Großvaters, der im hohen Alter anfing, lebensechte Bilder von nicht vorhandnen Menschen und Gegenständen zu sehen.
Rezensiert von Kim Kindermann
Douwe Draaisma: Geist auf Abwegen. Alzheimer, Parkinson und Co. Von den Wegbereitern der Gehirnforschung und ihren Fällen
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer und Stefan Häring
Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2008
368 Seiten, 19,95 Euro
Erst die Autopsie brachte Antworten, zeigte sie doch: Tans Gehirn war völlig vereitert, es war deutlich geschrumpft und - in der linken Seite des Frontallappens fand sich eine Einstülpung, die so groß war wie ein Hühnerei. Hier so mutmaßte Broca, musste die Ursache der Sprachstörung liegen. Denn obwohl Tans Gehirn insgesamt kaum intakt war, war die Schädigung an der dritten Windung besonders stark. Brocas Entdeckung kennzeichnet die Geburtsstunde des sogenannten Broca-Zentrums.
Doch war es tatsächlich Pierre Broca, der die Entdeckung, dass es einen Zusammenhang zwischen einer Störung der Sprache und der Schädigung einer bestimmten Stelle in der linken Gehirnhälfte tatsächlich gab, als erster machte? War es nicht vielmehr sein Zeitgenosse Jean-Baptiste Bouillaud, der diesen Zusammenhang als erster benannte? Oder wie ist es mit dem Bericht von Marc Dax, der angeblich schon 25 Jahre vor Broca über das Phänomen einen Vortrag gehalten haben wollte? Sprich: Trägt das Broca-Zentrum gar einen falschen Namen?
Ja, wenn es um den Zeitpunkt der Entdeckung geht, denn da waren die beiden anderen schneller. Nein, wenn es um die beste Publicity geht, da war Broca unschlagbar. Er war der erste, der seine Entdeckung am besten dokumentiert nach außen trug: Sie auf den wichtigen Tagungen präsentierte und in angesehenen Fachblättern veröffentlichte.
Wissenschaft ist niemals unschuldig, sondern vielmehr ein stark vermintes Machtgefüge, das beweist dies neue Buch des niederländischen Psychologiehistoriker Douwe Draaisma allemal. "Geist auf Abwegen" ist ein gelungener Wissenschaftskrimi, der weit mehr ist als das bloße Zusammentragen biographischer Daten zwölf bedeutender Forscher. Denn in einer perfektionistischen Detailtreue zeigt Draaisma anhand der Geschichte von zwölf Krankheitsnamen, dass sehr häufig hinter dieser Namensgebung immer auch Machtkämpfe und Intrigen des Medizinbetriebes stehen.
Entscheidend, so Draaisma, ist in den meisten Fällen nicht, wer zuerst etwas entdeckte, sondern was nach der Entdeckung passierte, wie sie aufgenommen wurde, wie sie sich verbreitete und natürlich, ob sie prominente Fürsprecher hatte. Etwa so jemanden wie Jean-Martin Charcot. Der Psychiater Charcot genoss so hohes Ansehen wie kein anderer zu seiner Zeit. Kein Wunder also, dass er Krankheitsnamen vergab wie kein anderer: die Jackson-Epilepsie, die Parkinson-Krankheit und das Tourette-Syndrom. Alles Namen, die Charcot vergab, nicht selten, um damit auch seinem eigenen Namen Ruhm zukommen zu lassen. Ein wahres Geben und Nehmen eben.
So kennt heute kein Mensch die russische Kinderärztin Ewa Ssucharewa, die bereits 1926 über sechs Jungen berichtete, die sich autismusartig verhielten, zu anderen Menschen keine Beziehung aufbauen konnten und zudem äußerst widerspenstig und impulsiv waren. Heute heißt die Krankheit nach Hans Asperger, der sie 18 Jahre später auf einem Kongress beschrieb und seine Beobachtungen anschließend veröffentlichte. Durch Draaismas Recherche bekommt Ewa Ssucharewa wieder ihren Platz in der Geschichte.
Doch Draaismas Buch ist noch mehr. Denn eingewoben in diesen spannenden Wissenschaftskrimi erzählt er immer auch die Lebensgeschichten der Namensgeber, beschreibt detailgenau ihre Arbeitsweise, ihre Fälle und erzählt vom Mut der Wissenschaftler, wenn nötig auch abseitige Wege zu beschreiten. Dabei ist das Buch durchgehend vom Respekt gegenüber den Patienten geprägt. Ein Wesenszug, der auch den beschrieben Forschern zu Eigen war. Auch das ist Medizingeschichte, denn heute gilt als unseriös, wer sich nur mit Einzelfällen beschäftigt.
Einen Charles Bonnet und das nach ihm benannte Syndrom würde es so heute nicht mehr geben. Der Franzose machte seine Entdeckung dank seines Großvaters, der im hohen Alter anfing, lebensechte Bilder von nicht vorhandnen Menschen und Gegenständen zu sehen.
Rezensiert von Kim Kindermann
Douwe Draaisma: Geist auf Abwegen. Alzheimer, Parkinson und Co. Von den Wegbereitern der Gehirnforschung und ihren Fällen
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer und Stefan Häring
Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2008
368 Seiten, 19,95 Euro