Nicol Ljubic ist 1971 in Zagreb geborene ist für seine journalistische Arbeit unter anderem mit dem renommierten Theodor-Wolf-Preis ausgezeichnet worden. Über seine Erfahrungen nach dem Eintritt in die SPD schrieb er das Buch "Genosse Nachwuchs. Wie ich die Welt verändern wollte".
Von wegen Neuanfang
Spätestens mit dem Ergebnis von 20,5 Prozent bei der letzten Bundestagswahl hätte doch endlich mal der Neustart der SPD kommen müssen, meint Journalist und SPD-Mitglied Nicol Ljubic. Doch das Posten-Geschacher im Stil der Parteifunktionäre geht weiter - wie gehabt.
Die Zahl 40,9 erscheint mir wie eine Fata Morgana. Aus heutiger Sicht ist es kaum zu glauben, dass die SPD bei einer Bundestagswahl 40,9 Prozent der Stimmen bekam. Das hat sie aber! 1998, vor fast zwanzig Jahren. Gemessen an der 152-jährigen Geschichte der SPD sind 20 Jahre ein Klacks. Gemessen an der derzeitigen Lage der SPD wirkt das Ergebnis von 1998 jedoch so fern wie die Steinzeit. 20,5 ist die Zahl, die heute gilt. In den vergangenen 20 Jahren hat die SPD ihr Ergebnis halbiert.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich im Oktober 2003 ins Willy-Brandt-Haus gefahren bin, um Mitglied dieser Partei zu werden, in der – man mag es kaum glauben – , schon damals Katerstimmung herrschte. Der Partei liefen die Mitglieder weg und das erste Mal seit Erhebung des Politbarometers war sie unter die 30 Prozent gerutscht. Der Genosse, der mich damals in Empfang nahm, ließ kein gutes Haar an seiner Partei. Die Politik sei zu kurzsichtig, die Arbeitskreise seien zu dröge und die Jungen würden zu oft von den Alten ausgebremst. Ich merkte bald, wie Recht er hatte.
Jedem scheint klar: Es muss sich etwas ändern
Nach den 20,5 Prozent bei der jüngsten Bundestagswahl forderte nahezu jeder in der SPD einen Neuanfang. Sogar der Parteivorsitzende. Alle Bürger seien eingeladen, "sich an dem Neustart der sozialdemokratischen Bewegung zu beteiligen", sagte Martin Schulz auf dem Parteitag. "Darüber hinaus werden wir die Beteiligung der Mitglieder bei Personalentscheidungen auf Bundesebene ermöglichen." Jedem scheint klar: Es muss sich etwas ändern in der SPD, will sie eine Zukunft oberhalb der 20-Prozent-Marke haben.
Der Neuanfang begann am Abend der Bundestagswahl, es schien zumindest so. Martin Schulz kündigte an, die SPD werde für die kommenden vier Jahre in die Opposition gehen und sich "grundsätzlich neu aufstellen". Einen Tag später nominierte er dann Andrea Nahles für den Fraktionsvorsitz. Nahles ist das Sinnbild einer Parteifunktionärin: seit 30 Jahren in der Partei, seit 20 Jahren im Parteivorstand, Ex-Juso-Vorsitzende und innerhalb der Partei so gut vernetzt wie kaum ein anderer. Aber das ist es gar nicht allein, was meinen Glauben an den Neuanfang trübt. Es war vor allem die Art ihrer Nominierung. Von oben herab, im Hauruckverfahren, ohne Debatte und ohne Gegenkandidaten. Den Abgeordneten blieb gar nichts anderes übrig, als sie zu wählen.
Enttäuscht vom Posten-Geschacher
Von einem Neuanfang hatte ich mir erhofft, dass Schluss sei mit dem Posten-Geschacher, dass Wahlen innerhalb der Partei zukünftig transparenter und demokratischer ablaufen würden. Ich verstehe nicht, warum es nicht möglich ist, zwei Bewerber für den Posten des Generalsekretärs ins Rennen zu schicken? Oder für den Partei- oder Fraktionsvorsitz? Zwei Bewerber, die um die Stimmen der Parteimitglieder wetteifern, mit guten Ideen und Programmen.
Stattdessen war es auch dem jüngsten Parteitag so, wie es immer war: Diejenigen, die der SPD gerade das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten beschert haben, bestimmen weiterhin über die Geschicke der Partei. Und, so wie es aussieht, nicht aus der Opposition heraus, sondern demnächst wieder von der Regierungsbank. Das wäre dann weder Opposition noch neu aufgestellt.
Die 20,5, so hatte ich gehofft, könnten Anlass sein für einen mutigen und radikalen Neuanfang. Und Neuanfang, das wäre für mich eine SPD, die den demokratischen Wettstreit um Posten fördert, die auf ernsthafte Beteiligung der Mitglieder aus ist und nicht nur dann, wenn es darum geht, eine Entscheidung der Parteispitze zu legitimieren, die sich dafür einsetzt, Amtszeiten zu begrenzen – eine SPD, die den Mut hat, mehr Demokratie zu wagen.
Für eine solche SPD würde ich auch guten Gewissens wieder auf die Straße gehen und Menschen überzeugen.