SPD und Patriotismus

Die Linke entdeckt die Nation – mal wieder

Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles beim Politischen Aschermittwoch am 14. Februar 2018 in Schwerte
Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles © dpa / picture alliance / Revierfoto
Von Stephan Lessenich · 20.06.2018
"Die Arbeiter haben kein Vaterland", behaupteten Marx und Engels. Doch die Sozialdemokratie und ihre Linksableger flirteten immer wieder mit dem Nationalismus, meint der Soziologe Stephan Lessenich.
Dass sie zu des Kaisers Zeiten als "vaterlandslose Gesellen" gebrandmarkt wurden, haben die Linken in diesem Lande niemals so richtig verwunden. Die Angst, nicht dazu zu gehören, hat sich tief in die linke Seele eingebrannt. Allen voran die Sozialdemokratie fürchtet keinen Vorwurf so sehr wie jenen, anti-deutschen Umtrieben Vorschub zu leisten. Drum gibt sie regelmäßig zu Protokoll, dass sie sich in puncto Patriotismus von der Rechten nichts vormachen lässt.

Patriotische Duftmarken

Alles begann mit der Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten, am Vor-Vorabend der später selbstmitleidig sogenannten "deutschen Katastrophe". Seither setzt die Partei immer mal wieder patriotische Duftmarken: Da war das "Modell Deutschland", mit dem sie im Bundestagswahlkampf 1976 für einen Kapitalismus mit sozialpartnerschaftlichem Antlitz warb; oder die "Agenda 2010", mit der Gerhard Schröder "Deutschland bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen" wollte; und da ist nun die oberste Sozialdemokratin Andrea Nahles, die nach verlorener Wahl der deutschen Regierung eins "in die Fresse" zu geben versprach, sich dafür dann aber doch lieber Nicht-Deutsche aussuchte, die – wie ihr urplötzlich klar wurde – "wir nicht alle bei uns aufnehmen" könnten.
Nachdem sie übrigens schon als Arbeitsministerin dafür plädiert hatte, Leistungen für Flüchtlinge zu kürzen, die sich "nicht an unsere Regeln und Werte halten".

Linker Neonationalismus?

Nun mag man sagen, dass die zwei-links-zwei-rechts-was-Nationalistisches-fallenlassen-Masche der deutschen Sozialdemokratie so was von altbekannt ist, dass sie nun wirklich kein Thema mehr für ein Politisches Feuilleton hergibt. Und doch gehören die jüngsten nationalen Glaubensbekenntnisse von links gebührend gewürdigt. Denn der linke Neonationalismus ist eine der wenigen politischen Positionierungen, auf die sich Rot-Rot-Grün derzeit einigen zu können scheint. Um dies zu meinen, muss man nicht einmal auf die üblichen Verdächtigen aus Tübingen und Saarbrücken zeigen.
Wo auch sonst man hinhört in deutschen Landen, betonen Rote, Rote und Grüne derzeit ungefragt die Bedeutung der "Heimat" für das nationale Seelenheil. Oder sie befürworten einen "Grundrechte-Unterricht" für Geflüchtete – weil die Biodeutschen ihren Grundrechtekatalog ja bekanntlich mit der Muttermilch aufgesogen haben. (Wobei sich dann – dies nur am Rande – die bange Frage stellt, ob die CSU-Führungsriege im Säuglingsalter womöglich kollektiv ungestillt blieb; was zumindest einiges erklären würde).

Die Linke führt ein tragisches Schauspiel auf

Die grassierende linke Vaterlandsliebe mutet wie der verzweifelte Versuch an, die von rechts konsequent herbeigeredeten "Sorgen" deutscher Bürger nun mit ein wenig Rassismus light zu bedienen. "Gastrecht missbraucht, Gastrecht verwirkt": Wer mit solchen Schauersentenzen auf den beklemmenden Wiederaufstieg der völkischen Rechten antwortet, muss sich über deren fortschreitende Enthemmtheit nicht wundern. "Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode": Die Linke in Deutschland führt gerade ein wahrlich tragisches Schauspiel auf. Eines, in dem es, ganz shakespearesk, um Sein oder Nichtsein geht – und zwar der Linken als progressive, emanzipatorische gesellschaftspolitische Kraft.

Das Hohelied der internationalen Solidarität

Wollte sie eine solche wirklich sein, dann müsste sie endlich den Mut aufbringen, auf die vaterländischen Gesellen aller Couleur zu pfeifen – und lauthals das Hohelied der internationalen Solidarität anzustimmen. Denn wenn schon (wohlgemerkt: auch dank eines sozialdemokratischen Arbeitsministers) die Rente nicht mehr sicher ist, dann aber doch garantiert eines: Es wird nicht die Nationale sein, die das Menschenrecht erkämpft.

Stephan Lessenich ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Arbeitsgebiete sind die politische Soziologie sozialer Ungleichheit, vergleichende Makrosoziologie, Wohlfahrtsstaatsforschung, Kapitalismustheorie und Alterssoziologie. Er war von 2013 bis 2017 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 2016 erschien sein Buch "Neben uns die Sintflut - Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis"

Der Soziologe Stephan Lessenich ist Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München
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