"Die wirkliche politische Führung der Partei hat gefehlt"
Koalitionsverhandlungen – ja oder nein? Vor dem Bundesparteitag steckt die SPD im GroKo-Dilemma. Eine kluge und vorausschauende Parteiführung hätte die Delegierten nie in solch eine Situation bringen dürfen, sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler.
Katrin Heise: Diese Rückschau von Roger Cicero, "Alles kommt zurück" – also wenn ich den Sinn jetzt mal ganz doll verbiege, würde sich die SPD in Bezug auf die Wählerstimmen wohl auch gefallen lassen. Wirklichkeit ist aber, die Wähler kommen nicht zurück. Es geht immer tiefer in den Keller. Und in dieser Ausgangslage sollen die Delegierten morgen ja oder nein zu Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU sagen, schon wissend, danken werden es die Wähler ihnen wahrscheinlich nicht. Aber es geht ja auch nicht eben nur um die Partei. Es geht ja um die Frage, wie wird Deutschland regiert. Einen guten Morgen wünsche ich dem Politikwissenschaftler
Herfried Münkler. Hallo!
Herfried Münkler: Guten Morgen, Frau Heise!
Heise: Das ist doch die Wahl zwischen Pest und Cholera, oder?
Münkler: Ja, genau, das ist die Situation, in die eine kluge und vorausschauende Parteiführung die Delegierten eines Parteitags nie hätte bringen dürfen, die Partei nie hätte bringen dürfen. Sozusagen, man hat sich in eine Situation hineinmanövriert, bei der ja im Prinzip klar ist, wie auch immer man sich entscheidet, es wird danach große Gruppen innerhalb der Partei geben, die frustriert sind, und es wird danach auch vermutlich eine nicht unbeachtliche Austrittswelle geben. Das zeigt, dass hier taktisch agiert worden ist, aber nicht strategisch.
Rahmenbedingungen, die die SPD nicht unter Kontrolle hatte
Heise: Aber ist das tatsächlich mit Strategie abzuwenden gewesen? Wenn morgen zum Beispiel in Bonn jemand aufs Podium träte und mit Pathos sagte, wir gehen in die Große Koalition, obwohl wir das nicht wollen, weil wir die Demokratie retten wollen, Neuwahlen bedeuten Zuwachs am rechten Rand, hätte die Person nicht recht?
Münkler: Ja, ja, das ist ja keine Frage. Aber die Fehler sind vorher gemacht worden, sie sind gemacht worden in einer Situation, in der man bestimmte Kurse festgelegt hat, das war am Tag oder in der Stunde unmittelbar nach der Wahl zunächst einmal, und dann noch einmal unmittelbar nach dem Scheitern der Jamaika-Koalition, als man Entscheidungen getroffen hat und die mit einem Pathos verkündet hat, ohne zu bedenken, dass solche Entscheidungen gebunden sind an Rahmenbedingungen, die man selbst nicht unter Kontrolle hat. Und so sind Erwartungen entstanden und Erwartungen frustriert worden, beziehungsweise man hat im Vorfeld der Sondierungsgespräche das, was man dann durchbringen will, so hochgeredet, dass das Ergebnis der Sondierungen, gemessen an dem, was vorher an Erwartungen geschaffen worden ist, nur klein sein konnte. Also, man hat sich in dieser Situation, da die große Stimme gefehlt hat, die wirkliche politische Führung der Partei, in die Hände der vielen kleinen Redner begeben, die wir in den letzten Tagen gehört haben und die eigentlich ein Stimmengewirr erzeugt haben, bei dem man sagen könnte, na ja, was auch immer sie tun, sie sind gespalten.
"Mischung aus Trotz und Oppositionssehnsucht"
Heise: Wären sie denn aber nicht gespalten, wenn jetzt beispielsweise am 24. September niemand gesagt hätte, wir gehen in die Opposition, sondern das, ich weiß auch nicht, offen gelassen hätte, wenn nach dem Scheitern der Jamaika-Vorverhandlungen niemand gesagt hätte, wir bleiben in der Opposition, also wenn diese ganzen, wenn man strategischer gehandelt hätte, wäre die SPD nicht in der genau gleichen Situation? Ich meine, die Frage "GroKo, ja oder nein" stellt sich trotzdem.
Münkler: Ja, die stellt sich trotzdem. Das ist aber, glaube ich, nicht der Punkt, sondern der Punkt sind die Erwartungslagen der Parteimitglieder, der mittleren Funktionärsebene und dann irgendwo auch der Bevölkerung, die darauf reagiert. Wenn man eine Strategie fährt, in der man kommunikativ Erwartungen weckt, bei denen jeder, der ein bisschen vorausschaut, sagen kann, die werde ich nie erfüllen können, diese Erwartungen. Oder wenn man sich in einer Weise festlegt, dass man, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern, also eben keine Jamaika-Koalition zustande kommt, bei denen man dann unbeweglich ist und in eine Situation hineinkommt, entweder gewissermaßen ein sturer Verweigerer zu sein, was klar ist, dass das ein Teil der Mitgliedschaft nicht goutieren wird und dass möglicherweise dann mit der Drohung von Neuwahlen man nur noch schlechter dasteht, dann zeigt das, dass man hier einen Kurs gefahren hat, bei dem in so einer Mischung aus Trotz und Oppositionssehnsucht man immer nur den nächsten Morgen gesehen hat.
Heise: Was hätten Sie sich denn gewünscht?
Münkler: Größere Flexibilität. Aber sicherlich, in dieser Situation bleibt jetzt nichts anderes übrig, als in diese Regierung hineinzugehen und zu sagen, okay, die Sozialdemokratie hat in vielen Situationen gewissermaßen ihre unmittelbaren eigenen Interessen hintangestellt und das Interesse des Landes höher gestellt. Und das Gegenargument, wir erholen und rekreieren uns in der Opposition, das ist ja nur eine pure Behauptung. Indem man in die Opposition geht, findet zunächst einmal gar nichts an Erneuerung und Erholung statt, sondern das hat etwas mit kluger, vorausschauender Politik zu tun, das hat etwas damit zu tun, dass man nicht nur Erwartungen weckt, sondern auch Narrative entwickelt, entlang deren solche Erwartungen Schritt für Schritt umgesetzt werden.
Schlingerkurs der vergangenen Wochen
Heise: Ein Narrativ, was sich jetzt entwickelt, ist ja das, dass die Parteien ein bisschen abgewirtschaftet haben, und zwar egal, wo wir hingucken. Dass es die Zeit der Sammlungsbewegungen ist. Da hätte ja vielleicht die SPD – in der Opposition – die Möglichkeit, da Führung einer linken Bewegung zu werden. Wäre das eine Chance auf Erneuerung?
Münkler: Ich meine, eine Partei, die jetzt in den letzten Wochen diesen Schlingerkurs gefahren hat, die von ihrer Mitgliedschaft eigentlich ganz problematisch aufgestellt ist, eine wirklich linke Bewegung zu sein, die keine wirkliche Vorstellung davon hat, wie man diejenigen, die sich von der SPD abgewandt haben, entweder, dass sie gar nicht mehr wählen gegangen sind, weil sie sagen, wir sind sowieso nicht repräsentiert, oder die neue Loyalitäten entwickelt haben, sei es seit den späten 70er-Jahren zu den Grünen oder später zu den Linken, dass man sozusagen ohne Weiteres in der Opposition diese Führung übernimmt, das kann ich mir nicht vorstellen. Dafür gäbe es auch gar keine Beispiele.
Heise: Wo sehen Sie denn die SPD in den nächsten Jahren?
Münkler: Das hängt ein bisschen davon ab, erstens nicht nur, ob sie in diese Koalition eintreten, sondern wie sie in sie eintreten, welche Ministerien sie übernehmen, ob sie sozusagen zögern und zaudern, sagen, gut, das Finanzministerium ist uns zu groß, das schaffen wir nicht, und wir wollen das Außenministerium haben, also die Fehler Westerwelle wiederholen, oder ob sie sagen, na ja, in dieser Situation gehen wir halt rein, aber dann nur unter den Bedingungen, dass wir neben der Kanzlerin, die nach der Geschäftsordnung der Regierung die Richtlinien der Politik bestimmt, sozusagen das zweite Schlüsselamt haben, nämlich das Finanzministerium. Davon hängt so etwas ab. Und natürlich hängt es dann auch davon ab, ob die Führungsebene der Partei bereit ist, Erfolge auch als solche zu erzählen oder aber ob sie alles, was sie hinbekommen hat, wiederum kleinredet, wie sie das zuletzt gemacht haben. Also gewissermaßen Stringenz in der Linie ist die Voraussetzung dafür, dass sie sich zumindest erholt. Inkonsequenz im Agieren ist die Voraussetzung dafür, dass es weiter bergab geht.
Heise: Herfried Münkler, Politikwissenschaftler, zur Lage der SPD. Herr Münkler, danke schön!
Münkler: Gern!
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