Spekulative Biologie

Zwischen Fantasie und Leben

Das intelligente Kahydron gehört zu den erfolgreichsten und am weitesten verbreiteten Raubtieren Snaiads - ein Planet, den der türkische Künstler C.M. Kosemen erfunden hat.
Das intelligente Kahydron gehört zu den erfolgreichsten und am weitesten verbreiteten Raubtieren Snaiads - ein Planet, den der türkische Künstler C.M. Kosemen erfunden hat. © C.M. Kosemen
Von Jennifer Rieger |
Tiere und ganze Planeten erfinden, die existieren könnten. Damit beschäftigen sich Künstler und Wissenschaftler, Autoren und Filmemacher. Manchmal holt die Realität ihre Fantasien tatsächlich ein.
Flora und Fauna unseres Planeten sind weitgehend bekannt. Auch wenn lange noch nicht alle Tier- und Pflanzenarten entdeckt wurden, so finden sich doch immerhin 1,2 Millionen Arten fein säuberlich klassifiziert in unseren Katalogen - sogar solche, die längst ausgestorben sind.
Doch hätte nicht alles ganz anders kommen können? Wie sähe die Welt heute aus, wären die Dinosaurier nie verschwunden? Und welche Wesen werden die Erde in 10.000 Jahren bevölkern? Mit derlei Fragen beschäftigt sich die Spekulative Biologie: Künstler wie Wissenschaftler entwerfen ganze Planeten mit den dazugehörigen Ökosystemen.
Zum Teil ist das Spielerei - doch Wissenschaftszweigen wie der Astrobiologie helfen solche Gedankenexperimente, um die Lebensbedingungen auf anderen Planeten zu erforschen.

Einleitung

Simon Conway Morris: "Ich glaube, in vielen Fällen kann man sagen, dass Wissenschaft am stärksten ist, wenn sie von der Vorstellungskraft angetrieben wird."
50 Millionen Jahre nach dem Aussterben des Menschen ist die Welt immer noch wiederzuerkennen. Klima und Vegetation sind im Großen und Ganzen gleich geblieben.
"Wir fühlen uns, als lebten wir in einer realen Welt, die bestimmten Regeln gehorcht und uns Sicherheit gibt. Doch wenn wir zum Beispiel versuchen, die Quantenphysik zu verstehen... ich möchte nicht melodramatisch klingen, aber es fühlt sich fast an, als stünden wir an einem Abgrund."
Obwohl sich die Tiere noch in die vertrauten Klassen – Fische, Säugetiere, Reptilien und so weiter – einteilen lassen, unterscheiden sie sich deutlich von den früheren. Allerdings haben sie meist immer noch eine gewisse Ähnlichkeit mit den Arten, die den Menschen vertraut waren.
"Wir wissen einfach nicht mit Sicherheit, woraus die Welt wirklich gemacht ist. Und ich habe das Gefühl, unsere Vorstellungskraft ist ein wichtiger Teil dieser Geschichte – sie ist nicht einfach Traumstunde für einen Affen. In gewisser Weise ist sie ein Mittel, eine komplexere Welt zu verstehen. Und wir Menschen können das ausdrücken, durch Kunst, durch Musik und auf viele, viele andere Arten. Und durch die Wissenschaft natürlich."
Die größten Unterschiede sind bei den höheren Lebensformen anzutreffen, den Vögeln und den Säugetieren, die wegen ihrer großen Anpassungsfähigkeit schnell auf Änderungen der Umweltbedingungen reagieren, indem sie neue Arten bilden.

Kapitel eins:

Spekulation

Dougal Dixon: "Mein Name ist Dougal Dixon, ich bin Wissenschaftsautor und Geologe. Meine Ausbildung war rein wissenschaftlich, aber ich hatte immer eine künstlerische Ader. Ich habe viele Kinderbücher über Dinosaurier geschrieben. Aber ab und zu habe ich meine Fantasie spielen lassen. Früher dachte ich, alle Bücher über die Evolution blicken in die Vergangenheit, aber niemand beschäftigt sich mit der Zukunft! Deshalb habe ich mir überlegt, wie das Tierleben auf der Erde in 50 Millionen Jahren aussehen könnte. Das Ergebnis ist mein Buch 'Geschöpfe der Zukunft' – eigentlich ein Bilderbuch voller lustiger Tiere. Aber es sind lustige Tiere, die eine Geschichte über Evolution und Ökologie erzählen."
Seit etwa dreieinhalb Milliarden Jahren gibt es Leben auf der Erde. Aus den ersten mikroskopischen Einzellern der frühen Ozeane entwickelten sich nach und nach vielzellige, komplexe Organismen bis hin zu den Dinosauriern und den heutigen Säugetieren, getrieben von der Evolution. Ein Motor der Evolution ist die natürliche Auslese: In einer Population von Lebewesen überleben diejenigen, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind – und geben ihre Merkmale an die nächste Generation weiter.
Doch hätte nicht alles ganz anders laufen können? Was, wenn die Tiere die Ozeane nie verlassen hätten? Wie sähe die Erde heute aus, wären die Dinosaurier nicht ausgestorben? Und wie geht es weiter, wenn wir Menschen irgendwann nicht mehr da sind?
"Der Strudler ist eines der ersten Tiere, die ich entworfen habe. Ich habe einen Freund getroffen, der einen Button trug, auf dem stand: Rettet die Wale! Und ich habe von dort aus weiter gedacht."
In 50 Millionen Jahren wimmelt es im südlichen Ozean vor Lebewesen. Zu den bemerkenswertesten Bewohnern gehört der Strudler, Balenornis vivipera, mit zwölf Metern Länge das größte Tier der Welt. Es ähnelt in seinem Aussehen vielen Meerestieren, die früher existiert haben; sein langer, spitz zulaufender Körper ohne Hals, sein kraftvoller paddelartiger Schwanz und die langen, stabilisierenden Flossen sind eine ideale Kombination, um sich gewandt im Wasser zu bewegen. Der Strudler ernährt sich von Plankton. Sein Schnabel hat sich zu einem riesigen Planktonsieb entwickelt, das aus einem ganz feinen Geflecht von Knochenplatten besteht.
"Wenn die Wale aussterben, wer nimmt ihren Platz ein? Was ist mit den Pinguinen? Sie jagen Fische und können genauso gut schwimmen wie Delfine. Der Grund, dass sie nicht größer werden, ist, dass sie an Land kommen müssen um Eier zu legen. Aber was, wenn sie ihre Jungen lebend gebären könnten? Dann müssten sie nicht mehr an Land kommen, sie könnten größer werden und sich zu etwas entwickeln, das ähnlich aussieht wie ein Blauwal oder Grönlandwal."
Dougal Dixons Buch "Geschöpfe der Zukunft" wird oft als Wurzel eines ganzen Genres angesehen, angesiedelt zwischen Kunst und Wissenschaft: der spekulativen Biologie. Doch der Geologe übt sich in Bescheidenheit:
Er fühle sich geschmeichelt, so ganz glauben könne er es aber nicht. Und es gibt durchaus ältere Ansätze: In seinem Buch "Die Zeitmaschine" entwarf H.G. Wells' schon 1895 die Zukunft einer sterbenden Erde, bevölkert von riesigen Krabben und gigantischen Schmetterlingen. Doch seit dem Erscheinen von Dixons Buch hat die spekulative Biologie an Fahrt aufgenommen. Künstler und Wissenschaftler, Autoren und Filmemacher beschäftigen sich damit, wie das Leben aussehen könnte – auf der Erde oder auf fremden Planeten. Im Internet findet sich eine aktive internationale Gemeinschaft spekulativer Biologen, die sich in Foren und auf der Kunstplattform Deviant Art über alternative Evolutionspfade auf der Erde oder über das Leben auf außerirdischen Welten austauscht.
Dieses Diagramm zeigt den Planeten Furaha im Vergleich zur Erde. Wie man sieht ist Furaha etwas größer als die Erde – manche nennen Furaha den großen Bruder der Erde, obwohl der Planet etwa eine Milliarde Jahre jünger ist...
Darwin IV ist der vierte Planet im Darwin System und Heimat einer beeindruckenden Vielfalt von Lebensformen. Einst hatte der Planet große Ozeane und ähnelte der Erde, aber mit der Zeit hat er seine Meere verloren. Doch obwohl Darwin IV ein Wüstenplanet ist, ist er voller Leben...
Snaiad ist eine der ersten außerirdischen Kolonien, das Juwel im Himmel. Doch die hoffnungsvollen Kolonisten aus dem kriegsgeplagten Mittelmeerraum fanden auf Snaiad keinen Garten Eden, sondern eine ungewöhnliche neue Welt, die es zu verstehen galt. Hier ist, was sie fanden...
Furaha, Darwin IV und Snaiad sind nur drei von unzähligen Planeten auf denen die Weltenbauer ihre Fantasie testen. Auf Deviant Art wimmelt es vor Dinosauriern, die es nie gegeben hat, möglichen Nachkommen heutiger Erdentiere und außerirdischen Kreaturen – oft mit detaillierten anatomischen Zeichnungen und lateinischen Namen. Die Regeln der spekulativen Biologie sind strikt: In vielen Gruppen wie dem FutureZoology Forum sind nur plausible Lebewesen erlaubt, die den Gesetzen der Physik gehorchen. Nicht akzeptiert werden mythologische Kreaturen, prähistorische Tiere, Roboter, Geister oder Dämonen. Ein produktiver Vertreter der Disziplin ist der türkische Künstler C.M. Kosemen. Er ist der Erfinder des Planeten Snaiad.
Eine Grafik vom Planeten Snaiad
Eine Grafik vom Planeten Snaiad© C.M. Kosemen
Für den unvorbereiteten Beobachter mag die Anatomie der Snaiadischen Wirbeltiere verwirrend wirken. Sie haben zwei Köpfe. Der erste ähnelt dem Schädel irdischer Säugetiere – die meisten Tiere auf Snaiad nutzen ihn um ihre Beute zu fangen. Dieser "Kopf" hat sich jedoch aus der schützenden Hülle der Genitalien entwickelt. Der zweite Kopf wächst aus der Brust der Snaiadischen Tiere und dient dazu, die Nahrung aufzunehmen.
C.M. Kosemen: "Es ist schon fast elf Jahre her. Ich habe ein illustriertes Buch geschenkt bekommen, über eine Reise zu einem fremden Planeten und die Lebensformen dort. Das hatte ich immer Kopf, Jahre bevor ich Snaiad erfunden habe. 2004 oder 2005 habe ich dann angefangen, ein paar Aliens zu kritzeln, damals war ich noch Student."
Das intelligente Kahydron gehört zu den erfolgreichsten und am weitesten verbreiteten Raubtieren Snaiads. Charakteristisch für das Kahydron sind die mit Hufen und Klauen bewehrten Vorderbeine. Wie die meisten Wirbeltiere auf Snaiad besitzt das Kahydron hydraulische Muskeln, mit denen es das Rückgrat und seinen ersten Kopf bewegt. Da sich diese Muskeln beim Kahydron bis zu den Wangenknochen erstrecken, kann es besonders fest zubeißen.
"In meiner Freizeit habe ich zuerst ein Snaiad-Tier gemalt und fand es ziemlich cool. Also habe ich noch eins gezeichnet und noch eins. Ich habe die zweiköpfige Anatomie erfunden, kompliziertere Bilder gezeichnet und koloriert und irgendwann hatte ich fast 100 dieser Zeichnungen."
Auf C.M. Kosemens Webseite entfaltet sich die ganze Komplexität von Snaiad: Geschichte des Planeten, Landkarten und viele anatomische Zeichnungen, die die Besonderheiten der Snaiadischen Fauna darstellen.
Das Skelett der Snaiadischen Tiere ähnelt nur oberflächlich dem der irdischen Tiere. Es besteht nicht aus Kalzium sondern aus einer Kohlenstoffverbindung, die sehr hartem Holz ähnelt. Die Knochen sind normalerweise braun, grün oder schwarz und brennen bei hohen Temperaturen.
Wie auf der Erde verteilen sich auch die Tiere auf Snaiad auf verschiedene Nischen.
Allotauriformes,
...große gepanzerte Pflanzenfresser,
Kahydroniformes,
...intelligente Jäger mit Hufen und Klauen,
Cardiocetoida,
...schwimmende, walartige Tiere mit Düsenantrieb... (unterlegen)
"Nach und nach hat sich ganz von selbst eine Art Stammbaum ergeben und verschiedene ökologische Nischen. Es hat sich organisch entwickelt. Ich habe Sachen korrigiert und neue hinzugefügt. Es war eher Evolution als Design!"
Snaiad, so schreibt C.M. Kosemen auf seiner Webseite, ist ein Planet außerhalb unserer Galaxie, etwas größer als die Erde. Nach seiner Zeitrechnung werden die Menschen in etwa 300 Jahren dort ankommen. Doch so lange brauchen wir nicht zu warten. Wenn wir die Zeit zurückdrehen, finden wir auch auf unserem eigenen Planeten fantastische Lebensformen: Die Tierwelt auf der Erde vor 500 Millionen Jahren wäre uns sicher mindestens so fremd wie das Leben auf einem anderen Planeten.

Kapitel zwei:
Die Regeln des Lebens

Wie so viele Gebäude, die zur University of Cambridge gehören, ist auch das Sedgwick Museum ein altehrwürdiges Gebäude aus roten Ziegeln, in Stein gemeißelte Tiere zieren die Torbögen. Wer das Museum betritt und nach rechts läuft, reist rückwärts durch die Erdgeschichte: Fast ganz am Ende auf der linken Seite des U-förmigen Gangs betreten wir das Kambrium, eingerahmt von hölzernen Schaukästen mit rekonstruierten Szenen aus dem Ozean vor 500 Millionen Jahren. Auf einem der Schränke thront ein überlebensgroßes Modell eines merkwürdigen Tieres. Es ist aus bedrucktem roten Stoff und sieht ein bisschen aus wie ein chinesischer Drache: lang gezogen, mit zwei Reihen langer Stacheln.
Es ist ein Modell von Hallucigenia, zu Lebzeiten wurde das Tier etwa 10 Zentimeter lang. Seinen Namen bekam es wegen eines Irrtums: als Simon Conway Morris die ersten Exemplare zu Gesicht bekam, glaubte er zu träumen. Es schien ein Lebewesen zu sein, das sich auf zwei Reihen von Stelzen fortbewegte, mit einer Reihe vonTentakeln auf dem Rücken. Conway Morris zeigt auf ein Fossil im Schaukasten, das er 1977 rekonstruierte:
Simon Conway Morris: "Es gab nur ein kleines Problem mit dieser Rekonstruktion – ich habe das Tier auf den Kopf gestellt. Die Tentakel haben sich später als Beine entpuppt und die Stelzen waren eigentlich Stacheln auf der Oberseite, zur Verteidigung. All das wurde viel klarer als neue Fossilien aufgetaucht sind, z.B. aus China. So ist es immer in der Wissenschaft: die Geschichte entwickelt sich weiter. Na ja. Es wurde veröffentlicht und ich habe einen Fehler gemacht. Aber irgendwie ist es auch gut so – es erinnert uns daran, dass in der Wissenschaft nicht immer alles glatt läuft."
Später wurde klar: Hallucigenia gehörte keiner mysteriösen neuen Tiergruppe an. Sie war ein Verwandter der heutigen Gliederfüßer, im Stammbaum des Lebens nicht allzu weit entfernt von heutigen Krebsen und Stubenfliegen.
Hat Simon Conway Morris sich geärgert, dass er die Verbindung nicht gleich bemerkte?
"Nein. Ich war damals ein bisschen irritiert, aber ich nehme diese Dinge nicht allzu ernst. Natürlich will man keine Fehler machen, man sieht dann ein bisschen blöd aus – aber was soll’s! Wir haben damals an sehr viel Material gearbeitet, wir waren junge Männer und hatten es eilig. Und nur wenige der Exemplare von Hallucigenia waren wirklich gut erhalten. Wäre ich schlauer gewesen und hätte ich mir einige der anderen Fossilien näher angesehen, hätte ich wissen müssen, welche Seite oben ist."
Simon Conway Morris ist Professor für Paläobiologie an der University of Cambridge – ein höflicher, bescheidener Mensch. Sein Büro befindet sich im Dachgeschoss des Geologischen Instituts der Uni. Stapelweise Papier und Bücher zieren Regale, Schreibtisch und den Fußboden, auf der Fensterbank steht ein Mikroskop. Die Fossilien, an denen Conway Morris in den 70ern arbeitete, stammen aus dem Burgess-Schiefer, einer Fundstätte im kanadischen British Columbia, die im Jahr 1886 entdeckt wurde.
"Diese Stätte ist etwa eine halbe Milliarde Jahre alt. Sie ist wundervoll, weil es dort die typischen Fossilien aus dem Kambrium gibt, zum Beispiel Trilobiten, aber es gibt auch viele, viele Fossilien von Tieren, die kein Skelett besitzen. Normalerweise sind solche Tiere nicht so gut erhalten. Es ist ein fantastisches Privileg, mit solchen Proben zu arbeiten."
Die Fauna des Kambriums würde einem Zeitreisenden aus der heutigen Zeit sehr merkwürdig erscheinen. In dieser Periode, um 500 Millionen Jahre vor unserer Zeit, hatten die meisten Lebewesen noch keine Knochen oder Panzer. Das Leben spielte sich im Meer ab, es war bevölkert von wurmartigen, krebsartigen und quallenartigen Tieren.
Für die Paläontologen war es eine aufregende Zeit: Plötzlich hatten sie eine riesige Ansammlung völlig unbekannter Arten vor sich. Sie beschrieben ein Fossil nach dem nächsten, die wissenschaftlichen Veröffentlichungen sprudelten nur so aus ihnen heraus.
Marella. Eldonia. Wiwaxia...
Doch wie kann man wissen, wie ein Tier gelebt hat, das vorher noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat – noch dazu, wenn der einzige Anhaltspunkt ein Abdruck im Gestein ist?
"Die Biologie wird im Allgemeinen nicht als vorhersagende Wissenschaft angesehen – eher als historische und beobachtende Wissenschaft. Doch es gibt vielleicht Wege, die Lücken zu schließen."
Nach einer langen Karriere als Paläontologe und etlichen interpretierten Fossilien, sagt Conway Morris, im Nachhinein sei alles ziemlich offensichtlich. Hallucigenia war keine mystische Kreatur, sie passt in ein biologisches Schema. So bizarr die Lebewesen des Burgess-Schiefer heute auf uns wirken – es gibt Anhaltspunkte dafür, wie sie gelebt haben.
"Man kann versuchen, die Ökologie dieser Tiere zu interpretieren: wie haben sie sich bewegt? Wie haben sie sich ernährt? Gab es Tiere, die andere gefressen haben?"
Bei der Interpretation von Fossilien stützen sich Paläontologen auf bekannte Fakten und Vergleiche mit den Ökosystemen der Jetztzeit.
Wie sehr können sie ihre Fantasie spielen lassen und noch im Bereich des Möglichen bleiben? Ist die Evolution wirklich so berechenbar?
Der amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould benutzte gerne die Metapher vom "Tonband des Lebens": Könnten wir es zurückspulen und die Evolution von vorne ablaufen lassen – die Welt wäre heute eine andere.
"Mit anderen Worten: wir gehen zurück ins Kambrium, die Tiere stehen in den Startlöchern und wenn der Startschuss fällt, rennen sie los – und metaphorisch gesprochen sind wir die Gewinner, 500 Millionen Jahre später. Aber wenn wir das Ganze wiederholen, wer würde das nächste Mal gewinnen? Wer steigt aufs Siegertreppchen, wer stirbt aus? Stephen Jay Gould dachte, die Geschichte sei eine Serie von Zufällen, ein Zufall nach dem anderen."
Früher teilte Simon Conway Morris diese Ansicht. Doch inzwischen sieht er es ganz anders.
"Heute bin ich vom Gegenteil überzeugt. Ich glaube, es gibt ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit in der Evolution. Ich würde nie sagen, dass sich die Geschichte komplett voraussagen lässt. Aber es gibt Ergebnisse, die sehr wahrscheinlich sind."
Natürlich hätten große Vulkanausbrüche oder Kometeneinschläge das Schicksal der Erdbewohner beeinflusst, sagt der Paläontologe. Aber auf längere Sicht spiele die Konvergenz in der Evolution eine große Rolle: Ähnlichkeiten in der Funktion verschiedener Lebewesen.
"Wie viele verschiedene Arten zu schwimmen gibt es? Nicht viele. Wie viele Arten zu fliegen? Nicht viele. Die Flügel sind vielleicht alle unterschiedlich, aber die grundlegenden Mechanismen, die Anforderungen in einer Welt mit einer mehr oder weniger dichten Atmosphere, mit Schwerkraft, schränken die Ergebnisse ein. In der Evolution beobachten wir, dass dieselben Ideen immer wiederkehren. Die gleiche Lösung wird wieder und wieder neu erfunden. Und das ist nicht verwunderlich, es sind gute Lösungen, sie funktionieren."
Was tatsächlich passieren würde, wenn wir das Tonband des Lebens von vorne abspielen könnten, wissen wir nicht. Der beste Weg, diese Theorien zu testen, wäre ein Vergleich mit anderen Planeten, die der Erde ähneln.
"Und auch das geht natürlich nicht. Wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt Leben auf anderen Planeten gibt. Es sollte welches geben, aber nicht alle sind überzeugt davon – mich eingeschlossen."

Kapitel drei:
Leben auf dem Mars

Lewis Dartnell: "Ich glaube, es ist nicht übertrieben optimistisch, dass wir noch während unserer Lebenszeit eine Einkaufsliste von dutzenden Planeten in unserer Galaxie entdeckt haben werden, die der Erde gleichen."
Lewis Dartnell hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Zum Glück. Würde er nicht daran glauben, dass es noch mehr bewohnte Planeten gibt, wäre das eine schlechte Voraussetzung für seinen Job.
"Mein Forschungsgebiet ist eine relativ neue Disziplin namens Astrobiologie. Es geht darum, zu überprüfen, ob es Leben außerhalb der Erde gibt. Wir nehmen das, was wir über das Leben auf unserem eigenen Planeten wissen und versuchen, dieses Wissen auf andere Orte in unserem Sonnensystem anzuwenden."
Dartnell sitzt in einem Café in London, in der Nähe von Oxford Circus. Vor ihm steht eine Tasse Kakao – leider kalt. Der Astrobiologe ist Forschungsstipendiat an der University of Kent. Seine Mission: den Mars auf Lebenszeichen zu überprüfen. Wie in der Paläontologie ist auch bei der Astrobiologie zunächst wenig Spekulation im Spiel. Es wäre zwar möglich, dass Lebensformen Himmelskörper wie den Saturnmond Titan bevölkern, obwohl es dort kein Wasser gibt, sondern nur flüssiges Methan. Aber:
"Fürs erste ist es für Astrobiologen sehr sinnvoll, nach Leben zu suchen, von dem wir wissen, dass es funktioniert. Also Leben auf der Basis von Wasser und Kohlenstoff."
Auf dem Mars suchen Astrobiologen nach Spuren, die auf Leben hinweisen – oder darauf, dass es früher einmal welches gegeben hat. Im Moment ist der Curiosity Rover der NASA damit beschäftigt, auf dem roten Planeten herumzufahren und Proben zu sammeln. Mit an Bord ist ein Labor im Miniaturformat, das den Marsstaub direkt vor Ort auf chemische Signaturen des Lebens überprüfen kann. Doch das Leben hinterlässt noch mehr Spuren, die sich auch aus der Ferne beobachten lassen: Das Lichtspektrum, das ein Planet reflektiert, zeigt, welche Gase in seiner Atmosphäre vorhanden sind.
"Wir lesen die Chemie der Luft. Und wenn die Atmosphäre ein Gemisch aus Sauerstoff und Methan enthält, ist das ein Zeichen dafür, dass es auf diesem Planeten Leben gibt, das diese Gase produziert hat."
Spekulation findet in der Astrobiologie auf einem elementaren Level statt: Vielleicht haben andere bewohnte Planeten eine andere chemische Signatur.
"Es ist spekulativ in dem Sinne, dass wir versuchen herauszufinden, was chemisch möglich ist."
Doch manchmal lässt sich auch Lewis Dartnell ein bisschen gehen.
"Es macht Spaß ein bisschen zu spekulieren. Wenn wir tatsächlich Leben auf einem anderen Planeten finden, auf dem es komplexe Organismen gibt, wie könnten sie aussehen? Würde ein Wald aussehen wie die Wälder auf der Erde?"
Ein Baum, sagt Dartnell, hat bestimmte Herausforderungen zu meistern. Er muss Sonnenlicht aufnehmen, das er in Energie umwandeln kann, deshalb muss er hoch wachsen und braucht einen stabilen Stamm. Doch welche Farbe hätten die Blätter? Wären sie grün? Oder vielleicht blau oder violett?
"Die Pflanzen auf der Erde sind grün, weil das Pigment in ihren Blättern rotes und blaues Licht aufnimmt, aber grünes reflektiert. Aber wenn Pflanzen unter einem Stern wachsen, der ein anderes Lichtspektrum abgibt, dann haben ihre Blätter vielleicht eine andere Farbe. Die Sonne könnte zum Beispiel ein roter Zwerg sein, der weniger Licht abgibt. Dann wären die Pflanzen vielleicht schwarz, weil sie versuchen, so viel Licht wie möglich zu absorbieren."
Ist die Lichtquelle dagegen ein heißerer Stern, könnten sie silbrige Blätter haben, die mehr Licht reflektieren um nicht zu überhitzen.
"In der nahen Zukunft werden wir anfangen, nach solchen Signaturen von Vegetation im reflektierten Lichtspektrum anderer Planeten zu suchen."

Kapitel vier:
Konvergenz

Die Batavia-Inseln. Normalerweise sind Vögel die ersten Wirbeltiere, die auf einer neuen Insel ankommen und sie besiedeln. Bei Batavia waren es allerdings die Fledermäuse. Nachdem andere Wirbeltiere auf den Inseln Fuß gefasst hatten, entstand eine Familie am Boden lebender Raubfledermäuse. Diese Geschöpfe gehen auf ihren Vorderbeinen. Ihre Hinterbeine und Füße werden zum Greifen benutzt, fallen aber jetzt nach vorne und hängen unter ihrem Kinn herunter. Das größte und fürchterlichste dieser Geschöpfe ist der Nachtjäger, Manambulus perhorridus. Nachts ziehen Horden dieser anderthalb Meter großen Tiere kreischend und schreiend durch die Wälder Batavias und machen Jagd auf Säuger und Reptilien, die sie mit ihren scharfen Zähnen und Klauen angreifen.
In gewisser Weise ziehen Biologen und spekulative Biologen an verschiedenen Enden desselben Strangs. Während die einen versuchen, die Gesetzmäßigkeiten des Lebens auf der Erde besser zu verstehen und auf andere Welten anzuwenden, dehnen die anderen die Grenzen des Möglichen aus um alle möglichen Szenarien abzubilden. Doch wie in der Evolution gibt es auch hier Konvergenz: Seit der Veröffentlichung von Dougal Dixons Buch "Geschöpfe der Zukunft" vor 35 Jahren wurden Arten entdeckt, die den Erfindungen des Autors gespenstisch ähnlich sind.
Dougal Dixon: "Diese Idee einer Fledermaus, die am Boden lebt und jagt und ihre Vorderbeine zur Fortbewegung nutzt, solche Fledermäuse gibt es tatsächlich in Neuseeland. Nicht so grotesk wie in meinem Buch – aber vielleicht habe ich in die richtige Richtung gedacht."
Vielleicht ist das die besondere Faszination der spekulativen Biologiebewegung, deren Mitglieder sich nicht damit zufrieden geben, ein paar Einhörner zu zeichnen: Irgendwann stößt die Fantasie an die Realität.
C.M. Kosemen: "Die Faszination dahinter ist nicht nur, Tiere zu erfinden, die existieren könnten. Man könnte sich auch ziemlich langweilige Tiere ausdenken, zum Beispiel einen Spatz mit dunklerem Gefieder. Ich glaube, das Interessante an dieser seltsamen neuen Kunstform ist, dass sie Menschen anregt anders zu denken. Es bringt ein Element von Spekulation in die Wissenschaft – und ich finde, die Wissenschaft braucht eine gesunde Dosis Spekulation."
Wenn es ans Spekulieren geht, halten sich Wissenschaftler wie Simon Conway Morris und Lewis Dartnell zurück. Trotzdem, meint Lewis Dartnell, könnte die Spekulation der Astrobiologie auf die Sprünge helfen.
Lewis Dartnell: "Absolut! Es ist sehr nützlich, darüber nachzudenken. Aber es wird noch Jahrhunderte dauern, bis wir tatsächlich Sonden ins All schicken können, die Fotos von fremden Planeten machen."
Bis es so weit ist, bleibt die spekulative Biologie eine Kunstform. Eines Tages wird sich das vielleicht ändern, sagt C.M. Kosemen. Wer weiß, vielleicht hat die Wissenschaft mit der Spekulation ein wichtiges neues Werkzeug dazugewonnen, für das es nur noch keinen Nutzen gibt.
C.M. Kosemen: "Ich glaube wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Im Moment ist spekulative Biologie hauptächlich eine dekorative Kunstform. Aber im nächsten Jahrhundert, wenn sich Robotik und Gentechnik weiterentwickeln, könnte sie eine ganz neue Bedeutung annehmen."
Schon heute zeichnet sich ab, wie wir Menschen unsere eigene Evolution formen. Wir verändern die Umwelt, wir verschmelzen mit Maschinen. Wenn wir unsere Vorstellungskraft benutzen um mögliche Zukunftsszenarien durchzuspielen, können wir unsere selbstgemachte Entwicklung dann nicht viel besser steuern? Es wird noch lange dauern, doch vielleicht, sagt der Künstler C.M. Kosemen, wird die Menschheit irgendwann in der Lage sein, Organismen zu designen und herzustellen.
C.M. Kosemen: "Vielleicht stellt eines Tages wirklich irgendjemand Snaiad-Tiere her. Ich werde dann schon lange tot sein, aber wenn es tatsächlich passiert und jemand das hier in der Zukunft hört, bitte bringt eure Kahydrons an mein Grab!"

"Spekulative Biologie. Zwischen Fantasie und wahrem Leben"
Von Jennifer Rieger
Es sprachen: Michael Evers, Philipp Lind, Lisa Hrdina, Max Urlacher
Ton und Technik: Hermann Leppich
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Jana Wuttke
Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2016