Wenn ich immer wieder - in allen Büchern, allen Serien, allen Filmen - vorgelebt bekomme, dass ein glückliches Leben nur mit Lohnarbeit, einer romantischen möglichst Zweier-Beziehung und Kernfamilie möglich ist und ich als Frau nebenbei bitte auch noch Kinder kriegen und Carearbeit leisten soll, dann wird dies schnell der alleinige Fokus meiner Vorstellung eines guten Lebens. Andere Möglichkeiten, Gemeinschaft zu gestalten und zu verändern werden dann weniger denkbar.
Spekulativer Feminismus
Spekulativer Feminismus und Science-Fiction eröffnen Perspektiven für eine andere Gesellschaftsordnung. © Getty Images / Qi Yang
Mit Science-Fiction das Patriarchat wegdenken
10:01 Minuten
Ungerechtigkeit und Unterdrückung behaupten sich hartnäckig, weil unsere Fantasie durch Klischees verengt wird, meint die Philosophin Hannah Wallenfels. Mit spekulativem Feminismus will sie den Horizont erweitern und eine bessere Welt denkbar machen.
Die USA: eine tief gespaltene Gesellschaft, zerrissen von Verteilungskämpfen. Um die politische Vorherrschaft kämpft ein Politiker, der alle emanzipativen Strömungen niederringen will, mit dem Slogan "Make America Great Again!", sein stärkster Konkurrent erscheint demgegenüber wie "der alte, müde Schatten eines Mannes".
Beängstigend aktuelle Szenarien
Dieses verblüffend zeitgenössische Szenario beschrieb die US-amerikanische Science-Fiction-Autorin Octavia E. Butler in ihrem Romanzyklus "Parabel" bereits in den 1990er-Jahren. Nur ein Beispiel von vielen dafür, wie geradezu "beängstigend aktuell" Butlers Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse sei, sagt die Philosophin Hannah Wallenfels.
30, 40 Jahre nach ihrem Erscheinen landen die Bücher der 2006 verstorbenen Schriftstellerin auf Bestsellerlisten. Ihr Roman "Kindred" von 1979 (deutsch: "Von gleichem Blut") wird gerade als Serie verfilmt. Lange bevor diese Themen die großen Debatten prägten, beschäftigte Butler sich mit Kolonialismus, Rassismus, der Kluft zwischen Arm und Reich und mit Fragen ökologischer Nachhaltigkeit.
Für Hannah Wallenfels ist Octavia E. Butler eine herausragende Vertreterin des "spekulativen Feminismus", einer Denkrichtung, die aus verschiedenen literarischen und (pop-)kulturellen Genres wie Science-Fiction, Fantasy und Horror schöpft und dabei auf anregende Weise Probleme unserer Zeit verarbeitet.
Über die Verhältnisse hinausdenken
Spekulativer Feminismus denke über die realen Verhältnisse hinaus und gelange so zu "Warnungen oder Vorschlägen, wie Gesellschaft ganz anders funktionieren könnte", sagt Wallenfells. Und darin liege ein befreiender Impuls, denn viele Unterdrückungsverhältnisse dauerten auch deswegen an, "weil unsere Vorstellungskraft kontrolliert wird durch die uns vorgegebenen Räume der Spekulation, also der möglichen Träume, der möglichen Entwicklungen."
Was uns daran hindere, Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu überwinden, seien weniger fehlende technologische Fähigkeiten, "als ein Mangel an kollektiver Vorstellungskraft", sagt Wallenfels. "Da kann Spekulation viel anbieten."
Verantwortliche Formen des Zusammenlebens
Beispiele dafür biete auch das Genre des Cyber-Feminismus, dem Olivia E. Butler ebenfalls nahesteht. Eine weitere Vertreterin dieser Strömung, die Philosophin und Naturwissenschaftshistorikerin Donna Haraway, entwickle wegweisende Ideen für "ein verantwortliches Zusammenleben, nicht nur mit dem Menschen, sondern auch mit anderen Spezies", so Wallenfels.
Auch Haraway lasse sich dabei von Science-Fiction inspirieren, sagt Hannah Wallenfels und fügt hinzu: "Gute SF bietet uns häufig an, die Entfremdung von sich selbst oder von Teilen von uns selbst, die gesellschaftlich geprägt sind, zu überwinden und damit auch Raum für etwas Neues und etwas Anderes zu schaffen."
Wenn Wallenfels von "SF" spricht, meint sie damit allerdings nicht allein Science-Fiction, sondern zugleich etwas anderes, das unsere Vorstellungskraft beflügeln kann: eben "Spekulativen Feminismus".