Sphinx des Zufalls
Bekannt ist die vielfach preisgekrönte Schriftstellerin Juli Zeh für ihre komplex konstruierten Romanhandlungen, die moral- und rechtsphilosophische Exkurse genauso wenig scheuen wie den Vergleich mit Dostojewski oder Musil. In ihrem neuen, bildreichen Kriminalroman "Schilf" ist das physikalische Phänomen der Zeit Dreh- und Angelpunkt der Handlung.
Juli Zeh ist vielseitig talentiert. Sie ist die bislang wohl erfolgreichste Absolventin des Leipziger Literaturinstituts. Sie hat ein Spitzenexamen in Jura abgelegt. Sie hat zwei Romane, einen Reisebericht aus Bosnien, eine Anthologie mit Texten junger Bosnier und Bosnierinnen, einen Essay-Band und ein "Konversationslexikon für Haushunde" vorgelegt. Sie ist 33 Jahre alt. Nun also ein Krimi. "Schilf".
Schon für ihren letzten Roman, "Spieltrieb", hat Juli Zeh eine Form gewählt, die nun auch ihrem ersten Krimi zugrunde liegt. Eine Figurenkonstellation - in "Spieltrieb" war es das perfide Spiel, das zwei Internatsschüler mit ihrem Lehrer treiben - wird aufgebaut, um - in dem Fall - rechtsphilosophische Fragen an ihr durchzuspielen. Ein Verfahren, das ihr viel Kritik eingebracht hat: Die FAZ ätzte, Zeh ginge es wohl "nach der höchsten Punktzahl und den meisten Praktika auch noch darum, den dicksten, anspielungsreichsten und prophetischsten Roman ihrer Stufe zu schreiben". Auch in "Schilf" belastet Juli Zeh ihre Figuren mit einem schweren Überbau und erschließt sich eine weitere Disziplin mit Anspruch auf Welterklärung - die Physik.
Im Zentrum der Handlung stehen zwei Physiker, die um das Wesen von Zeit und Welt streiten. Dass es um mehr geht, als um graue Theorie, wird von Anfang an klar: Die beiden haben sich einmal geliebt, erst die Eifersucht des einen auf das überlegene Genie des anderen hat sie getrennt. Nun hat der weniger Brillante Frau und Kind - und streitet mit seinem überlegenen Freund nur noch auf der scheinbar objektiven Ebene des wissenschaftlichen Disputs: Doch auch wenn die Waffen physikalische Theoreme sind, ist es klar, mit welcher Realität hier gerungen wird. Diesen Physikerstreit lässt Juli Zeh in der Katastrophe eines Mordes kollabieren, den der eine begeht, um seinen kleinen Sohn aus den Händen von Erpressern zu befreien. Der Mord markiert den Punkt, von dem an alle theoretischen Modelle an einer sehr konkreten, sehr beängstigenden Realität gemessen werden.
Das ergibt keinen klassischen Krimi, in dem Leser und Ermittler in fairen Wettstreit um die Auflösung des Falls treten. Der Mörder steht von Anfang an fest, wir folgen ihm bis in seine Alpträume. Und zum eigentlich Schuldigen, dem Erpresser, kann der Leser bis zur Auflösung durch die Autorin nicht vordringen, denn vor dieses Tor hat Juli Zeh die Sphinx des Zufalls postiert - im Krimi kein gern gesehener Gast. Nein, es geht Juli Zeh weder um das Vergnügen des Enträtselns noch um ein Psychogramm des Täters als Opfer, denn dafür kommen wir diesem nicht nah genug. Es geht ihr ein weiteres Mal um das Verhandeln universeller Fragen: Was bedeutet es für das Handeln eines Wissenschaftlers, wenn er "auf grundlegende Art am Wesen der Wirklichkeit zweifelt, ver-zweifelt, so wie man sich in einem Labyrinth ver-irrt?"
Das Problem ist nun: Solch große Fragen lässt Juli Zeh nicht hinter dem dichten Gewebe ihrer Handlungskonstruktion aufscheinen. Vielmehr sind ihre Figuren selbst stets philosophierend und spekulierend mit der Lösung beschäftigt - im inneren Monolog und im Streit, in der Vorlesung und im Verhör, noch im Traum und in tiefster Verzweiflung theoretisieren sie vor sich hin. Das lässt sie wenig menschlich und eher wie hochbegabte Probanden in einer Versuchsanordnung erscheinen. Kein Kriterium für die Qualität von Literatur, sicher. Aber durchaus für die Qualität eines Krimis. Denn der Krimi lebt nicht allein vom brillant konstruierten, perfekt durchdachten Plot. Die Faszination entfaltet sich erst, wenn der chirurgisch-präzise Blick auf Chaos und Grauen des Allzumenschlichen trifft.
Wenn bei Juli Zeh gemordet wird, mahnt sie in der Kapitel-Überschrift: "Höchste Zeit für den Mord". Wenn ihr Kommissar auftritt, rügt sie sich dort selbst: "Mit Verspätung kommt der Kommissar ins Spiel". Wenn dieser Kommissar grübelt, folgt ihm schon mal ein innerer Beobachter - "dachte der Kommissar, denkt der Kommissar". Und wenn ihr Mörder den Wunsch verspürt, an den Tatort zurückzukehren, dann nicht ohne tadelnden Zusatz: "wie ein Standardmörder". Denn einen "Standardkrimi" hat Juli Zeh nicht schreiben wollen - eher wohl einen "Metakrimi". Nur, dass sie zu diesem Zweck nicht mit den Werkzeugen des Genres spielt, sondern gleich den ganzen Werkzeugkasten demontiert und jedes einzelne Werkzeug mit Fragezeichen verziert. So scheitert sie leider an der entscheidenden Hürde, die alle Autoren nehmen müssen, die das enge Regelkorsett des Genres weiten wollen: Das Ganze muss spannend bleiben.
Und trotzdem: Wenn man diesen Roman nicht als den angekündigten Krimi liest, wird es interessant. Nicht nur, weil überraschende Bilder geboten werden: Die stille Telefonleitung - "wie eine offene Tür zwischen zwei leeren Räumen". Der Mörder - schämt sich vor der Polizei so wenig "wie sich ein Patient vor dem Arzt für seine Krankheit schämt". Zugegeben: Wer Musils "Mann ohne Eigenschaften" gerade wegen der philosophischen Exkurse nicht geliebt hat, wird auch "Schilf" nicht mögen. Wer sich aber auf die Gedankenspiele, auf die klare Konstruktion, auf die - mal geschliffen kühle, dann wieder blumig wuchernde - Dandy-Ästhetik und auf die groteske Überzeichnung der Figuren einlässt, der kann sie als Schachzüge in dem geistreichen Planspiel genießen, als das Juli Zeh Literatur versteht.
Rezensiert von Alexandra Mangel
Juli Zeh: Schilf
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2007
384 Seiten, 19,90 Euro
Schon für ihren letzten Roman, "Spieltrieb", hat Juli Zeh eine Form gewählt, die nun auch ihrem ersten Krimi zugrunde liegt. Eine Figurenkonstellation - in "Spieltrieb" war es das perfide Spiel, das zwei Internatsschüler mit ihrem Lehrer treiben - wird aufgebaut, um - in dem Fall - rechtsphilosophische Fragen an ihr durchzuspielen. Ein Verfahren, das ihr viel Kritik eingebracht hat: Die FAZ ätzte, Zeh ginge es wohl "nach der höchsten Punktzahl und den meisten Praktika auch noch darum, den dicksten, anspielungsreichsten und prophetischsten Roman ihrer Stufe zu schreiben". Auch in "Schilf" belastet Juli Zeh ihre Figuren mit einem schweren Überbau und erschließt sich eine weitere Disziplin mit Anspruch auf Welterklärung - die Physik.
Im Zentrum der Handlung stehen zwei Physiker, die um das Wesen von Zeit und Welt streiten. Dass es um mehr geht, als um graue Theorie, wird von Anfang an klar: Die beiden haben sich einmal geliebt, erst die Eifersucht des einen auf das überlegene Genie des anderen hat sie getrennt. Nun hat der weniger Brillante Frau und Kind - und streitet mit seinem überlegenen Freund nur noch auf der scheinbar objektiven Ebene des wissenschaftlichen Disputs: Doch auch wenn die Waffen physikalische Theoreme sind, ist es klar, mit welcher Realität hier gerungen wird. Diesen Physikerstreit lässt Juli Zeh in der Katastrophe eines Mordes kollabieren, den der eine begeht, um seinen kleinen Sohn aus den Händen von Erpressern zu befreien. Der Mord markiert den Punkt, von dem an alle theoretischen Modelle an einer sehr konkreten, sehr beängstigenden Realität gemessen werden.
Das ergibt keinen klassischen Krimi, in dem Leser und Ermittler in fairen Wettstreit um die Auflösung des Falls treten. Der Mörder steht von Anfang an fest, wir folgen ihm bis in seine Alpträume. Und zum eigentlich Schuldigen, dem Erpresser, kann der Leser bis zur Auflösung durch die Autorin nicht vordringen, denn vor dieses Tor hat Juli Zeh die Sphinx des Zufalls postiert - im Krimi kein gern gesehener Gast. Nein, es geht Juli Zeh weder um das Vergnügen des Enträtselns noch um ein Psychogramm des Täters als Opfer, denn dafür kommen wir diesem nicht nah genug. Es geht ihr ein weiteres Mal um das Verhandeln universeller Fragen: Was bedeutet es für das Handeln eines Wissenschaftlers, wenn er "auf grundlegende Art am Wesen der Wirklichkeit zweifelt, ver-zweifelt, so wie man sich in einem Labyrinth ver-irrt?"
Das Problem ist nun: Solch große Fragen lässt Juli Zeh nicht hinter dem dichten Gewebe ihrer Handlungskonstruktion aufscheinen. Vielmehr sind ihre Figuren selbst stets philosophierend und spekulierend mit der Lösung beschäftigt - im inneren Monolog und im Streit, in der Vorlesung und im Verhör, noch im Traum und in tiefster Verzweiflung theoretisieren sie vor sich hin. Das lässt sie wenig menschlich und eher wie hochbegabte Probanden in einer Versuchsanordnung erscheinen. Kein Kriterium für die Qualität von Literatur, sicher. Aber durchaus für die Qualität eines Krimis. Denn der Krimi lebt nicht allein vom brillant konstruierten, perfekt durchdachten Plot. Die Faszination entfaltet sich erst, wenn der chirurgisch-präzise Blick auf Chaos und Grauen des Allzumenschlichen trifft.
Wenn bei Juli Zeh gemordet wird, mahnt sie in der Kapitel-Überschrift: "Höchste Zeit für den Mord". Wenn ihr Kommissar auftritt, rügt sie sich dort selbst: "Mit Verspätung kommt der Kommissar ins Spiel". Wenn dieser Kommissar grübelt, folgt ihm schon mal ein innerer Beobachter - "dachte der Kommissar, denkt der Kommissar". Und wenn ihr Mörder den Wunsch verspürt, an den Tatort zurückzukehren, dann nicht ohne tadelnden Zusatz: "wie ein Standardmörder". Denn einen "Standardkrimi" hat Juli Zeh nicht schreiben wollen - eher wohl einen "Metakrimi". Nur, dass sie zu diesem Zweck nicht mit den Werkzeugen des Genres spielt, sondern gleich den ganzen Werkzeugkasten demontiert und jedes einzelne Werkzeug mit Fragezeichen verziert. So scheitert sie leider an der entscheidenden Hürde, die alle Autoren nehmen müssen, die das enge Regelkorsett des Genres weiten wollen: Das Ganze muss spannend bleiben.
Und trotzdem: Wenn man diesen Roman nicht als den angekündigten Krimi liest, wird es interessant. Nicht nur, weil überraschende Bilder geboten werden: Die stille Telefonleitung - "wie eine offene Tür zwischen zwei leeren Räumen". Der Mörder - schämt sich vor der Polizei so wenig "wie sich ein Patient vor dem Arzt für seine Krankheit schämt". Zugegeben: Wer Musils "Mann ohne Eigenschaften" gerade wegen der philosophischen Exkurse nicht geliebt hat, wird auch "Schilf" nicht mögen. Wer sich aber auf die Gedankenspiele, auf die klare Konstruktion, auf die - mal geschliffen kühle, dann wieder blumig wuchernde - Dandy-Ästhetik und auf die groteske Überzeichnung der Figuren einlässt, der kann sie als Schachzüge in dem geistreichen Planspiel genießen, als das Juli Zeh Literatur versteht.
Rezensiert von Alexandra Mangel
Juli Zeh: Schilf
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2007
384 Seiten, 19,90 Euro