Spiegel des Glaubens, Licht der Welt

Von Kirsten Serup-Bilfeldt |
Im burgundischen Cluny wurde 910 ein Kloster gegründet, das für viele Jahrhunderte zum geistigen Zentrum der abendländischen Christenheit werden sollte. In Cluny entstand das Ideal eines Mönchslebens von klösterlicher Perfektion und die Äbte waren die intellektuellen Stars ihrer Zeit.
Ein romanisches Kleinod: ein klar gegliederter kantiger Bau von strenger Schönheit, der mit seinem wuchtigen Vierungsturm den Eindruck einer Trutzburg vermittelt. Im Innern elegante Rundbögen, die auf schlanken Säulen ruhen.

Die Basilika St. Julien im Ort Brioude in der Auvergne stammt aus dem letzten Drittel des 5. Jahrhunderts und ist eine der schönsten romanischen Kirchen Frankreichs.

Doch ihr Ruhm rührt weder von ihrer Schönheit noch vom Nimbus ihres Namenspatrons, des römischen Märtyrers Julianus her. Ihr Ruhm gründet sich darauf, dass in ihrem Innern im Jahr 918 ein Mann seine letzte Ruhe fand, der heute längst vergessen wäre, wenn ihn nicht eine einzige Tat unsterblich ge-macht hätte.

Wilhelm der Fromme, Herzog von Aquitanien, der in St. Julien begraben liegt, gründet im Jahr 910 im burgundischen Cluny ein Benediktinerkloster, das viele Jahrhunderte lang zum wohl berühmtesten geistlichen und geistigen Zentrum der abendländischen Christenheit werden soll.

Ein unbedeutender kleiner Adliger macht eine Schenkung und sorgt so dafür, dass in Cluny eine Abtei in den Himmel wächst, die bis zum Bau des Peters-domes die gewaltigste Kathedrale Europas bleiben wird. Und eine, die das Terrain für eine monastische Bewegung bildet, deren geistige Ströme viele Jahrhunderte lang nicht versiegen werden.

Nun geschehen solche Schenkungen keineswegs nur aus uneigennützigen Motiven, betont der Zisterzienserpater Dr. Hermann Josef Roth, einer der besten Kenner zisterziensischer und cluniazensischer Ordensgeschichte:

"Wir müssen sehen, dass die Klöster für die Landesherren immer In-strumente zur Konsolidierung ihrer eigenen Herrschaft sind, zur Verbesserung der Infrastruktur ihres eigenen Territoriums und nicht zuletzt auch zur Sichtbarwerdung ihrer eigenen Bedeutung und Macht. Das spielt natürlich bei dem Wilhelm von Aquitanien auch eine Rolle, der ja zunächst sich da ja zu-nächst als kleiner Graf politisch durchsetzt. Und mit der Gründung von Cluny setzt er ein Zeichen."

Eines, das laut Gründungsurkunde auch sein eigenes Seelenheil sichern soll.

"Mögen dort Gebete, Bitten und Flehen ohne Unterlass an den Herrn ge-richtet werden - sowohl für mich als auch für jene, deren Andenken ich auf-gerufen habe."

"Somit kommt als ganz wichtiges Gründungsmotiv hinzu, dass die Mönche durch ihr unablässiges Gebet das Seelenheil aller Angehörigen der Stifterfamilie sichern und wo auch der lebende Stifter durch diese Gebete bereits Gnaden empfängt, die ihn dann für die Ewigkeit vorbereiten. So eine Art Lebensver-sicherung in theologischer, in religiöser Art."

Also, für die damalige Zeit nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich allerdings sind einige Sonderregelungen für die kleine Reform-Mönchsgemeinschaft, die sich bereits in der Stiftungsurkunde niederschlagen. Da heißt es nämlich:

"Im Namen Gottes … kann kein weltlicher Fürst, kein Graf, kein Bischof, nicht einmal der Pontifex des Römischen Stuhls die Güter dieser Diener Gottes an-tasten - weder durch Wegnahme noch durch Tausch, noch durch Einsetzen irgendeiner Obrigkeit über sie und gegen ihren Willen."

"Ein Weiteres ist in der Stiftungsurkunde hochinteressant: Nämlich, dass diese Stiftung ganz streng zweckgebunden ist. Der Herrscher legt Wert darauf, dass niemand sonst da reinreden kann außer ihm selber. Es ist die Verquickung der politischen mit der religiösen Komponente und für uns heutzutage über-raschend: Nicht einmal der Bischof, ja, nicht einmal der Papst selber darf rein-reden."

Herzog Wilhelms Sonderregelungen erweisen sich als folgenreich und tragen
maßgeblich zur Blüte des Klosters bei. Nicht nur bleibt Cluny autonom, sondern
der Abt wird von den Mönchen gewählt und nicht von weltlichen Herrschern bestimmt. Überdies darf Cluny Tochterklöster gründen, die sich ebenfalls den benediktinischen Idealen verpflichten.

Nur zwei Jahrhunderte nach der Gründung steht die bereits dritte Abteikirche von Cluny. Eine Mischung aus Schönheit und Strenge, ein architektonisches Wunderwerk, das mit seinen himmelstrebenden Pfeilern und Türmen schon den Übergang zur Gotik ahnen lässt.

Es ist eine Festung Gottes: Vier Seitenschiffe, zwei Querschiffe und eine Apsis mit Säulenumgang; daran schließen sich fünf halbrunde Kapellen an. Die Kirche bildet den Rahmen für eine ausgefeilte Liturgie, die zur Blütezeit des Klosters Tag und Nacht zum Lob Gottes gefeiert wurde.

Zu den Gesängen der Mönche kommt der Duft von Weihrauch und Kerzen. In der schlichten, ja, ärmlichen Alltagswelt der Menschen damals verbreitet Cluny einen fast überirdischen Glanz.

Der cluniazensische Klosterverband ist der erste Zusammenschluss von Klöstern zu einem Orden. Mit der Errichtung von Kirchen und Klöstern und dem Aufbau eines gesamteuropäischen Netzwerkes setzen die Mönche von Cluny einen Prozess in Gang, der eine ungeheure Strahlkraft entfaltet und gleichzeitig etwa Neues einläutet:

"Innerhalb der mönchischen Geschichte beginnt da in der Tat eine Neuorientierung. Wenn ich das Mönchtum vor Cluny kennzeichnen sollte, da würde ich sagen, das ist ein relativ individualistisches, stellenweise sogar chaotisches Mönchswesen, weil jedes Kloster selbständig ist, jedes Kloster aus anderen In-tentionen heraus seinen Weg sucht. Eine verbindliche Ordensorganisation wie heute kennt man überhaupt nicht, nicht einmal verbindliche Regeln, die für alle gleichermaßen und nach demselben Wortlaut gültig sind, sondern es hängt immer von der Frömmigkeit und den Absichten der Führungspersönlichkeit ab, wie sich ein Konvent formiert."

Nicht einmal das viel zitierte "Ora et labora" war verbindlich, sagt Hermann Josef Roth, der hier gleich mit einem Missverständnis aufräumt:

"'Ora et labora' ist keine Devise, die in der Benediktsregel steht - auch wenn sie ständig zitiert wird. Es hat sich eingebürgert und einer schreibt vom anderen ab. Selbstverständlich existiert die Benediktsregel, die Benedikt von Nursia zu-geschrieben wird, aber sie ist keineswegs verbindlich in allen Klöstern."

Die Gründung von Cluny geschieht in unruhigen politischen Zeiten: Das Reich der Karolinger zerfällt, das der Ottonen hat sich noch nicht konsolidiert. Und ausgerechnet dieses schwächelnde und bröckelnde Imperium wird mit einer verheerenden Bedrohung konfrontiert: mit den ständigen Überfällen von Wi-kingerhorden aus dem Norden, die raubend, plündernd und mordend durchs Land ziehen und es vor allem auf reiche Abteien und Klöster abgesehen haben.

"In England wird das Mönchtum fast völlig zerschlagen, da ist nichts mehr übrig von einst blühenden Mönchslandschaften und auch hier bei uns bekommen die Klöster, die an den Routen der Wikingereinfälle liegen ganz gehörig Zunder aufs Dach."

Das abendländische Mönchtum ist also von außen durch Feinde, und im Innern durch Zerfallserscheinungen bedroht. Hier stößt Cluny eine Wende an!

Die Wende geschieht durch den Kampf gegen die Verweltlichung des Kloster-lebens, durch die Rückführung des monastischen Lebens auf seine ursprüng-lichen Ideale und durch die strenge Einhaltung der "Regula Benedicti".
Die Cluniazenser üben sich in einer konsequenten, ja kompromisslosen Rück-besinnung auf die alten monastische Tugenden: auf Gehorsam, Demut und Schweigen. Darüber hinaus ist größte Gewissenhaftigkeit in den täglichen Gottesdiensten und eine Intensivierung der Frömmigkeit bei jedem einzelnen Mönch verpflichtend.

Die Bewegung gewinnt, kaum angestoßen, an Schwung, bekommt eine un-geahnte Durchschlagkraft - europaweit.

"Cluny ist sozusagen in der Woge, die das Mönchtum in Europa erfasst hat, im Wellenkamm eine Welle; allerdings die, die sich später am mächtigsten ent-wickelt, am meisten Verbreitung hat und deshalb in unserem Bewusstsein immer als Erstes zitiert wird. Cluny geht ja von vornherein darauf aus, auszustrahlen, gründet einen Klosterverband. Und dieses cluniazenzische Beispiel wird dann später von den Reformern des 11. und 12. Jahrhunderts ausgebaut: Cîteaux, Chartreuse und Prémontré."

Cluny bildet eine Vorlage, die bald Nachahmer findet. So kommt es im 11. Jahr-hundert in Cîteaux zur Gründung einer weiteren Abtei von Benediktiner-mönchen. Das winzige Grüppchen von rund zwölf Ordensmännern, das sich hier ansiedelt, ahnt nicht, dass ihre bescheidene Klostergründung von einer kleinen Landkommune zur Keimzelle eines der größten und machtvollsten Orden der Christenheit werden wird: der Zisterzienser.

Auch sie, genau wie ihre cluniazensischen Brüder, sind Unzufriedene, Radikal-Alternative, die mit dem herkömmlichen Klosterstil nicht einverstanden sind; auch sie wollen der ursprünglichen Benediktsregel wieder zur Geltung ver-helfen; auch ihr Orden entsteht durch Reformen aus der Tradition der Benediktiner. Unterschiede gibt es dennoch.

"Der Unterschied zwischen dem Zisterziensertum und dem angestammten Benediktinertum, wie uns das in Cluny begegnet, ist der, dass die Zisterzienser meinen, sie können ihren Unterhalt durch eigener Hände Arbeit bestreiten. Es ist also ein gewisser Zug zur Armut hin, der dann 100 Jahre später beim Franz von Assisi ganz explizit verkündet wird...

Wir sehen diese erhabenen Abteien, wo Mönche praktisch von den Einkünften leben und sich vollständig in der Liturgie verausgaben. Und da setzen sie ein anderes Programm gegen ein: Das wollen wir nicht, auf den Schultern anderer leben, sondern durch eigener Hände Arbeit existieren. Es zeigt sich dann, dass das auf Dauer nicht möglich ist, denn entweder du arbeitest oder du machst stundenlange Liturgien... Das ist der eigentliche Unterschied."

Die Liturgie steht in Cluny im Vordergrund. Mit der Zeit wird das Chorgebet immer umfangreicher. So umfasst das Gebet der Mönche unter Abt Hugo zu Beginn des 12. Jahrhunderts nicht weniger als rund 200 Psalmen täglich.

Weil dabei die Arbeit zu kurz kommt, führt diese Praxis zu heftigen Kontroversen mit den Zisterziensern. So provoziert etwa Bernhard von Clair-vaux , der Mann, der später zum zweiten Kreuzzug aufrufen wird, mit seiner Schrift "Apologia" einen erbitterten Streit mit den Cluniazensern, wirft ihnen Verrat an ihren ursprünglichen Idealen, Prunksucht und Verschwendung vor. Er tadelt die Pracht ihrer Kirchen, Chorgewänder und heiligen Geräte und geht mit dem feudalen Auftreten ihres Abtes scharf ins Gericht.

Das lassen die frommen Brüder von Cluny nicht auf sich sitzen und - keilen zu-rück. Sie verdammen die harte körperliche Arbeit der Zisterzienser, die sie von Gebet und Studium abhält.

Die Leuchtkraft Clunys ist im Mittelalter so stark, dass selbst Päpste nach Burgund reisen. Die Äbte des Klosters sind die intellektuellen "Stars" ihrer Zeit; zwei von ihnen werden heiliggesprochen. Und ein Mönch aus Cluny, Odo von Chatillon, besteigt 1088 als der berühmte "Kreuzzugs-Papst" Urban II. den Stuhl Petri. Seinem Heimatkloster bleibt er auch als Pontifex immer verbunden.

Er notiert:

"Die Gemeinschaft von Cluny erstrahlt wie eine zweite Sonne auf Erden... Sie ist das Licht der Welt..."
Cluny - das war aber auch ein Spiegel des Glaubens und der Frömmigkeit. Und eine Kaderschmiede von klugen Köpfen. Denn die Mönche, die jahrhunderte-lang dort lebten, übten sich nicht nur im Gebet. Sie förderten auch die Musik und die Künste: die Architektur ihrer Kirchen, den Klang ihrer Orgeln und Ge-sänge und die farbige Pracht der in ihren Skriptorien entstandenen Schriften - alles, was zur Schönheit und Feierlichkeit ihres Gotteslobes beitrug.

Heute ist Cluny eine Trümmerstätte - bis auf wenige Reste der alten Abtei. In der Folge der französischen Revolution und der Säkularisation wurde das Kloster aufgehoben, die Kirche gesprengt, Teile als Steinbruch und die Reste des Gebäudes als Pferdestall verwendet.

Und dennoch - was ist geblieben?

Geblieben ist der Geist von Cluny, die Idee eines Gottesstaates, der sich im idealen Mönchsleben von klösterlicher Perfektion verwirklichen sollte. Und noch etwas ist geblieben. Bis heute:

"Die Orden. Kurz gesagt. Denn Cluny beginnt damit, aus dem alten chaotischen Mönchtum ein organisiertes Mönchtum zu machen, wo sich das einzelne Kloster nach einem übergeordneten Kloster, dem Gründerkloster, richten muss. Damit wird vorgebildet, was dann die katholische Kirche seit dem 12. Jahrhundert mit den Ordensstrukturen aufbaut, die bis heute ja geblieben sind."