Spiele-Abend mit Anfassen

Von Gerd Brendel |
Alle zwei Jahre findet die "Tanznacht" als Biennale der freien Tanzszene der Hauptstadt statt. Diesmal gründeten die Tänzer ein Village und luden als Dorfbewohner zum Großfamilienfest, bei dem die Erfüllung aller Wünsche versprochen wurde.
"We are not pretending" - Wir tun nicht so als ob, wir sind, was wir sind – brüllt einer der Tänzer ins Publikum. Es ist der erste Abend der "Tanznacht", die Kurator Peter Stamer zu einem Selbsterfahrungswochenende ausgewalzt hat, zu einer Dauer-Improvisation mit Publikumsbeteiligung.

Alle zwei Jahre findet die "Tanznacht" in Berlin statt als Biennale der freien Tanzszene der Hauptstadt. Viel Experimentelles zwischen Performance und Sprechtheater war da vor zwei Jahren zu sehen. In diesem Herbst hat sich Kurator Peter Stamer ganz auf den Gruppenprozess verlegt.

Vor fünf Wochen hatte er ausgewählte Tanzprofis zur Gründung einer Dorfgemeinschaft auf Zeit eingeladen: Gemeinsam leben im Dienste der Kunst und der Selbsterkenntnis. An diesem Wochenende laden die Dorfbewohner zum "village" - zum großen Abschluss-WG-Großfamilienfest. Eintopfgeruch weht durch die große Halle 12 in den Uferstudios. An einer mobilen Kochstation wird unentwegt Gemüse geputzt und Suppe gerührt. In der leergeräumten Halle stehen die Dorfbewohner im Kreis und sprechen sich Mut mit Sätzen zu, die alle mit "We are …" - Wir sind … – anfangen. Dann laufen sie zwischen den Zuschauern herum.

Peter Stamer: "Der erste Tag ist unter dem Motto des Spiels: Wir sind hier und jetzt., wir sind da. Und es hat sich aus der Probenzeit heraus ergeben, dass es ein Spiel wird. Die Regeln sind relativ einfach: Jemand schlägt etwas vor, man folgt diesem Vorschlag bis ein anderer etwas anderes vorschlägt."

Aber der Spiele-Abend gerät zum großen Durcheinander mit Anfassen: Eine Tänzerin kraucht auf allen Vieren durch den Saal. Ein Tänzer schleppt seine Kollegin zu einem Zuschauer. "Was soll ich mit ihr machen?", fragt er leise. "Bau ein Haus!", antwortet der ebenso leise. Die Kollegin macht eine Brücke. "Wer soll darin wohnen?" - "Freunde." Ein dritter Tänzer wird dazugeholt und schon bekommt der Zuschauer seine private Improvisation geboten: Einer der wenigen berührenden Momente an diesem Abend. Irgendwann sind alle, Dorfbewohner und Besucher auf den Beinen, Gruppen formieren sich, spontane Chöre singen drauf los, wie in einem Filmset für lustige Youtube-Clips, in denen jeder irgendwie Künstler ist. Aber der Funken springt nicht über: Zu unstrukturiert, zu regellos hüpfen, schreiten, springen, agieren die Bewohner des "Tanz-Dorfes".

Zwölf Stunden später steht nach der improvisierten Zustandsbeschreibung in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag der Konjunktiv auf dem Programm: "Was wir hätten sein können" will das Dorf-Kollektiv jetzt erzählen und lädt um zwei Uhr nachts zur Traumnacht.

Jeder Besucher wird einzeln am Eingang abgeholt und durch einen Tunnel aus Schaumstoff in dem zum Schlafsaal umfunktionierten Vorführraum geführt. Mein "Gastgeber" heißt Gill. Der Franzose wohnt seit einem Jahr in Berlin, hat mal Architektur studiert, und wenn er nicht tanzt, singt er in mehreren Bands. Viele der "Dorfbewohner" können auf ähnlich polyglotte Biografien und mehrere Begabungen verweisen. Aber leider bekommt das Publikum auch in dieser Nacht wenig davon mit, trotz großer Versprechungen: Nichts weniger als die Erfüllung aller Wunschträume verspricht das Programmheft - laut werden die Wunschzettel der Besucher verlesen.

Eine Besucherin wünscht sich eine Party, und sofort versammeln sich alle um ihre Luftmatratze, tanzen orgiastisch und sinken wenig später alle übereinander erschöpft auf ihr Bett zum großen Gruppenkuscheln: Ein schönes Bild. Nur eine ganze Nacht lässt sich mit solcher Gruppendynamik nicht bestreiten. Schon der Wunsch, eine Zigarette im Gruppenlager zu rauchen, wird von meinem Privat-Gastgeber Gilles mit einem verlegenen Grinsen ins Reich der unerreichbaren Utopie verwiesen. Ich ergreife lange vor dem angekündigten Frühstück nach zwei Stunden die Flucht.

Der Wunsch des Publikums, mehr von Gilles Kollegen zu sehen und zu hören, er bleibt unerfüllt. Wie schade, dabei hätten die Bewohner des Tanzdorfs sicher mehr zu bieten gehabt als das Selbsterfahrungs-Mitmach-Chaos an diesem Wochenende zur "Tanznacht 2010".