"Spiellust ist meine Antriebskraft"

Gert Voss im Gespräch mit Susanne Burkhardt |
Er hat mit fast allen großen Regisseuren gearbeitet und gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Schauspieler: Gert Voss, Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters. Auch nach vielen Jahren ist er seines Berufs nicht überdrüssig: "Das Theater fordert mich noch immer heraus."
Klaus Pokatzky: Er ist unbestritten einer der wichtigsten deutschsprachigen Schauspieler, mit fast allen großen Regisseuren hat er gearbeitet, mit Claus Peymann, mit Peter Zadek, Luc Bondy und George Tabori, in Stuttgart, Bochum, Wien und Berlin. Aufgewachsen in Schanghai ist Gert Voss als Kind nach Deutschland gekommen und obwohl er eigentlich Filme machen wollte, hat es ihn dann doch auf die Bühne verschlagen. Bis heute spielt er mit einer Leidenschaft und Hingabe, wie man es nur selten erlebt.

Derzeit können wir ihn in Berlin als Herzog in Thomas Ostermeiers Inszenierung "Maß für Maß" sehen, dort hat meine Kollegin Susanne Burkhardt Gert Voss getroffen und ihn erst einmal gefragt, ob er dieses Gefühl als Schauspieler auch kenne: immer leicht an der Grenze zum Verrücktsein agieren?

Gert Voss: Na ja, ich sehe das so: Mein Beruf ist ja schon ein bisschen ein verrückter Beruf. Also, was ich tue, ist ja auch in gewisser Weise verrückt, ich verrücke mich ja sozusagen von mir weg in eine andere Figur. Und je weiter man das hinaustreibt, je mehr man an die Grenze kommt, wo man abstürzen kann, desto gefährlicher, riskanter, aber gleichzeitig aufregender wird es. Und deswegen habe ich diesen Satz eigentlich auch so als ein Motto genommen für mich selbst, also immer an der Grenze der Verrücktheit, nicht diese Grenze überschreiten, überschreiten wir diesen Grenzbereich, sind wir tot, also dann stürzen wir ab.

Susanne Burkhardt: Schauspieler ist ja ein Beruf der Täuschung und man verlangt aber eigentlich immer, dass der Schauspieler wahrhaftig spielt. Ist da nicht ein Widerspruch, dass man einerseits wahrhaftig sein muss in seiner Figur, aber andererseits ist auch nur ein richtig guter Schauspieler, der auch richtig gut täuscht, mir nämlich vormacht, er ist der, den ich da sehe?

Voss: Ja, das ist aber doch der Reiz des Berufes, dass man etwas spielt. Übrigens, Politiker können auch wahnsinnig gut täuschen und sind auch fantastische Schauspieler, also, müssen sie wahrscheinlich …

Burkhardt: … manchmal durchschaut man sie …

Voss: … ja, manchmal durchschaut man sie, aber wenn ein Politiker wirklich gut ist, durchschaut man ihn nicht. Die Geschichte erzählt einem dann, wie er da gelogen hat oder was er da für eine Rolle gespielt hat. Aber in unserem Beruf ist es natürlich auch so, dass ich so gut spielen muss – und der Zuschauer weiß übrigens, dass ich spiele, also, der geht ja nicht rein und denkt, der Mann stirbt jetzt wirklich –, aber der Zuschauer erhebt den Anspruch, dass er aus seinen Erfahrungen sagt, so sieht das Leben aus. Und wenn er mir das nicht abnimmt oder nicht glaubt, dann muss ich ihn noch besser verführen, mir zu glauben.

Meine Richtschnur ist natürlich eine gewisse Wahrheit und diese Wahrheit ist, wie wir ja alle wissen, nicht absolut. Aber letzten Endes ist, glaube ich, das aufregendste Theater das, wenn ich merke, dass ein Schauspieler sich vollkommen unbeschützt seiner Leidenschaft hingibt, zu spielen. Und zwar nicht zu spielen, um das Publikum zu täuschen, sondern um das Publikum so zu verführen, dass der Zuschauer denkt, dem passiert das da oben wirklich. Aber ich bin da sehr skeptisch, was Wahrheit auf der Bühne betrifft, weil man ist jedes Mal erstaunt, wenn etwas wirklich passiert auf der Bühne.

Ich habe mir zum Beispiel meinen, bin ich abgestürzt vier Meter in die Tiefe und habe mir mein Sprunggelenk und mein Wadenbein total zertrümmert, und da war im Publikum es absolut still, weil, das kracht ja richtig, wenn Knochen zerbrechen. Und da schrie ein Mensch: Das ist ein Unfall! Und dann war es wieder still und dann sagte jemand: Nein, das ist kein Unfall, das gehört dazu! Ja, also, und es so weit zu treiben, dass der Zuschauer nicht mehr weiß, ist es oder ist es nicht, das ist, glaube ich, der ganze Reiz und deswegen geht man ja auch, oder ich jedenfalls gehe deswegen ins Theater. Und deswegen schaue ich mir ja auch gerne Zauberer an, weil ich weiß ja, dass das ein Trick ist. Aber ich sitze da unten und sage, wie macht er das, ich möchte es wissen, ich komme aber nicht dahinter!

Burkhardt: So gesehen sind Sie als Schauspieler auch eine Art von Zauberer?

Voss: Ja, würde ich sagen, würde ich unbedingt sagen.

Burkhardt: Schiller hat gesagt, das Theater ist eine moralische Anstalt. Hat das Theater, finden Sie, Herr Voss, eine moralische Verpflichtung, muss es politisch sein?

Voss: Also, ich finde, jedes gute Theater ist politisch, das geht gar nicht anders. Weil auf der Bühne werden Geschichten erzählt, die was mit Menschen zu tun haben. Und man muss ja nur die Perspektive wechseln, dann weiß man, ob sich da etwas verändert hat zu heute, wenn man alte Stücke spielt, oder was durch falsches menschliches Verhalten entsteht oder was durch Macht entsteht wie zum Beispiel jetzt bei "Maß für Maß", das ist doch ein ganz politisches Stück. Aber selbst in einer Komödie gibt es Politik, wie ein Mann mit einer Frau umgeht und dergleichen.

Ich meine, für mich, das Theater braucht keinen Zeigefinger, um darauf hinzuweisen, Leute, wir machen politisches Theater, oder Leute, wir machen moralisches Theater, oder Leute, das Theater ist eine moralische Anstalt. Das glaube ich nicht. Wie ich überhaupt, ich möchte nicht, weder durch einen Film, noch durch ein Buch, ich möchte nicht belehrt werden, sondern ich möchte selbst diesen Kontinent, den die vor mir entwerfen, selber erkunden und daraus was für mich lernen. Aber nicht in den Zustand eines Schülers versetzt werden, dem jetzt beigebracht wird.

Burkhardt: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit einem der besten Schauspieler Europas, mehrfacher Schauspieler des Jahres, mit Gert Voss. Wenn Sie an diese vielen, vielen Rollen zurückdenken, die Sie in Ihrem Leben gespielt haben, gibt es eine, wo Sie sagen, das war meine Lebensrolle, das war die wichtigste?

Voss: Nein, gibt es keine. Ich fand sie alle … Ich meine, ich habe ja ein Wahnsinnsglück gehabt, dass ich diese Rollen alle spielen durfte, und dann noch, das ist ja noch wichtiger, mit so großartigen Regisseuren und auch so großartigen Partnern. Und da gibt es keine, die ich sage, das ist jetzt die beste Rolle gewesen, die waren alle, alle fantastisch, also, muss ich wirklich sagen.

Burkhardt: Wenn man so viele Jahre, Jahrzehnte immer wieder abends auf die Bühne geht, immer wieder neu anfängt mit Proben, immer wieder alles neu für sich entdecken muss, gibt es irgendwo den Punkt, wo Sie gesagt haben, ach, so langsam bin ich des Theaters überdrüssig?

Voss: Nein, eigentlich nicht. Erstaunlich, nicht, es wäre ja eigentlich verständlich, dass man dann sagt, ach komm, jetzt, was soll es noch, was willst du denn jetzt noch, meine Agentin, meine alte, verstorbene Agentin hat mir manchmal gesagt, was wollen Sie am Theater, Sie haben doch nun alles erreicht, machen Sie doch lieber Film! – Und dann habe ich gesagt, na ja, Film würde ich schon gerne machen, aber ich möchte auch so herausgefordert werden dann vom Film wie vom Theater. Und das Theater fordert mich noch immer heraus, das ist ja schön, dass es immer noch Leute gibt, die sagen, wir wollen mit dem Voss noch diese Expeditionen, das machen.

Burkhardt: Aber wieso ist es dann gar nicht zu so vielen Filmen gekommen, wo Sie doch eigentlich losgestartet sind beim Film?

Voss: Ja, das ist das Einzige, wo ich ein bisschen traurig bin … Also, die, wie soll man sagen, die Sehnsucht danach besteht natürlich immer. Aber es hat ja nur Sinn, wenn es wirklich auch Sachen sind, wo man sagt, da verstehe ich, dass der Voss das jetzt macht.

Burkhardt: Was ist in der ganzen Zeit Ihre größte Antriebskraft gewesen?

Voss: Das ist ganz simpel: Das ist Spiellust. Das ist meine Antriebskraft. Über das Spielen immer wieder in neue Situationen mich hineinträumen und das ausspielen, was einem ja alles im Leben gar nicht zum Teil widerfährt. Wir haben ja das Privileg als Schauspieler, dass wir wirklich mit Dingen konfrontiert werden, die wir Gott sei Dank zum Teil nicht im Leben erleben müssen. Aber es ist schön, damit mal zu spielen, mit dem Gedanken, was passiert dann, was wird dann aus einem und so.

Burkhardt: Es gibt eine schöne Geschichte in Ihrem Buch, eine Anekdote aus Schanghai, da begegneten Sie einem Hypnotiseur …

Voss: … ja …

Burkhardt: … auf der Straße und der hat da also seine Tricks vorgeführt und ein Europäer hat sich vor ihn gestellt, ihn ausgelacht, weil er fand, das funktioniert alles irgendwie gar nicht. Daraufhin hat der Hypnotiseur diesen Europäer sozusagen umfallen lassen, …

Voss: … fixiert …

Burkhardt: … also so fixiert, dass er umgefallen ist. Und in dem Zusammenhang mit dieser Gesichte schreiben Sie, dass Ihre Großeltern, die Ihre Lebenslehrer – so nennen Sie sie – gewesen sind, Ihnen einen Rat fürs Leben gegeben haben, nämlich: Achte darauf, dass du nie etwas tust, wodurch andere ihr Gesicht verlieren. Konnten Sie diesen Rat Ihrer Großeltern immer beherzigen?

Voss: Also, ich habe zumindest immer daran gedacht, wenn ich in Gefahr war, jemanden so weit zu treiben, dass er das Gesicht verliert. Aber das ist natürlich ein enorm weiser Satz, das ist ein chinesischer Satz, weil wenn man das wörtlich nimmt, was das heißt, wenn ein anderer Mensch sein Gesicht verliert, dann verliert er ja auch seine Identität. Also, das ist fast so schlimm wie das Töten eines Menschen. Ich bin natürlich auch manchmal sehr, sehr unbeherrscht und wenn ich Wut habe, dann habe ich Wut. Oder wenn ich, sagen wir mal, sehr stark verletzt war, dann denke ich natürlich auch vernichtende Gedanken. Aber, ohne mich jetzt irgendwie loben zu wollen, ich glaube, dass ich im Großen und Ganzen … ein bisschen lügen tue ich jetzt doch … Also, ich weiß es nicht, also, ganz, ganz sauber bin ich da nicht.

Burkhardt: Sie haben es immer versucht!

Voss: Ja.

Burkhardt: Gibt es etwas, wo Sie sagen, das würde ich gerne noch schaffen in den nächsten zehn, 20 Jahren?

Voss: Nein, das habe ich eigentlich auch nie gehabt, ich habe nicht so Ziele gehabt, das möchte ich jetzt schaffen oder so. Und so sind eigentlich die besten Sachen immer bei mir, passieren mir, ohne dass ich da vorher dran denke. Es ist auch oft so, wenn ich mir eine Hose oder eine Jacke kaufen will: Wenn ich losgehe, um mir die Jacke zu kaufen, finde ich keine, und wenn ich nicht daran denke, dann plötzlich sehe ich die Jacke, die ich haben will. Und so ist das in meinem Leben auch, es ist immer am besten gewesen, wenn ich nicht daran gedacht habe.

Pokatzky: Der Schauspieler Gert Voss im Gespräch mit Susanne Burkhardt, heute wird er 70 Jahre alt, Glückwunsch! Im Buch "'Ich bin kein Papagei.' Eine Theaterreise" erzählt er ausführlich die Geschichte seines Theaterlebens, erschienen ist es im Styria Premium Verlag mit 240 Seiten und es kostet 24,99 Euro.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.