Die Krisen New Yorks in einer Doku-Serie
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Vor 20 Jahren brannten sich die 9/11-Anschläge in das Gedächtnis der New Yorker ein. Heute kämpft die Metropole mit der Coronapandemie. Von den großen Krisen seiner Stadt erzählt Regisseur Spike Lee in der Doku-Serie "NYC Epicenters: 9/11 – 2021½".
Bei der Vorstellung des ersten Teils von "NYC Epicenters" im Rockefeller Park warnt der Moderator vor: Es werde harte Bilder zu sehen geben. Vor allem das Material zum 11. September könne schwer erträglich sein. "Es ist ein sehr emotionales Thema und kann manche Menschen ziemlich mitnehmen. Ich wollte nur alle darauf vorbereiten", sagt er schon zum Anfang der Vorführung.
Aber bei freiem Eintritt und kostenlosen Chips auf einer Picknickdecke im New Yorker Stadtteil Lower Manhattan, direkt am Wasser, verbreitet sich zunächst heiteres Open-Air-Kino-Feeling.
Und dann muss ja noch der Star des Abends begrüßt werden: "Einer der größten, vielleicht der größte Filmemacher aller Zeiten, ist hier. Einen großen Applaus für den Regisseur Spike Lee!"
Der steht recht verwirrt vor der Plastik-Leinwand und liest die Daten der Ausstrahlung vom Handy ab. Es erinnert an die chaotische Preisverleihung in Cannes, als Spike Lee versehentlich den Gewinner zu früh ausplauderte. Wir sollen, sagt er jetzt, die Show genießen – so das möglich sei. (*)
Starkes dokumentarisches Material
Die erste Episode verhandelt die jüngste Vergangenheit: New York, von Covid-19 im Würgegriff gehalten. Auf der Leinwand ein Talking-Head nach dem anderen. Vor blauem Hintergrund sprechen Menschen direkt in die Kamera: Ärztinnen, die ersten Covid-Überlebenden, Angehörige von Verstorbenen, Journalisten, Rapper.
Zunächst wirkt es allzu beliebig und simpel, wie die Menschen von ihren Corona-Erfahrungen erzählen. Doch nach und nach entsteht aus den Mosaiksteinchen ein kontrastreiches und hochemotionales Bild vom Leben in dieser Stadt 2020, das der Regisseur wie schon in früheren Filmen mit starkem dokumentarischem Material unterfüttert.
Wenn der Bestatter so sachlich wie möglich berichtet, wie er in die Kühlwagen vor den Kliniken eine Stockbettvorrichtung bauen musste, um mehr Leichen unterzubringen, schauen wir in ebendiese Trucks vor den Krankenhäusern.
Und wenn ein Arzt von seiner Nacht mit 34 Toten erzählt, wird der Bürgermeister Bill de Blasio eingespielt mit den geschichtsträchtigen Worten: "Wir sind jetzt das Epizentrum der Krise – genau hier in New York City."
Doch warum wurde die Stadt überhaupt Epizentrum? Lee kritisiert die Trump-Regierung scharf, wenn er, ganz ohne Off-Kommentar, allein mit Interviews und News-Einspielern nahelegt, dass es ihr zu lange um den eigenen Machterhalt ging. Und wenn er zeigt, wie der Gouverneur Andrew Cuomo, eigentlich ein Held der Corona-Krise, die Todeszahlen in den Pflegeheimen herunterrechnet.
Auch Interviews mit Dr. Anthony Fauci und der Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez sind enthalten, über 200 Gespräche soll der Regisseur geführt haben. Spike Lees Mischung ist, ganz typisch für ihn, eine aus Witz, politischem Furor, Empathie für seine Protagonisten, viel Pathos – und großer Liebe zu seiner Stadt.
Millionen mit Booten evakuiert
In der nächsten Episode kommen sie dann, die Bilder, vor denen der Moderator gewarnt hatte. Und obwohl wir sie alle kennen, die Videos von den Menschen, die sich aus den brennenden Towern stürzen, ist es unglaublich bestürzend, die Geschichte des Hausmeisters mit dem letzten Generalschlüssel zu hören, der es nach seiner Hilfe für die Eingeschlossenen gerade noch aus dem Gebäude schafft und dann auf all die zerschmetterten Körper trifft.
Beim Thema 9/11 enthält sich Spike Lee jedes politischen Kommentars. Er lässt die Bürger sprechen, die für andere ihr Leben riskiert haben und solche, die in Millionen zu Fuß aus der Stadt flüchteten, ihre Kinder an der Hand.
Im Trailer klingt die Heroisierung New Yorks, mit Fanfaren unterlegt, fast propagandistisch: "Das ist New York City. Die beste Stadt auf der Welt", hören wir das Schriftsteller Scott Raab sagen. "Aber es ist ein leichter Angriffspunkt – für den Virus, für Al-Quaida."
Eine weitere Liebeserklärung an New York
Gerade jetzt, nach dem desaströsen Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan, die dort aufgrund von 9/11 einmarschierten, wirkt das unangenehm nationalistisch. Doch die Serie selbst zeigt: Spike Lee hat schlicht und ergreifend eine neue Liebeserklärung an New York inszeniert.
Und Fakten zugänglich gemacht, die so nicht bekannt waren. Bootsfahrer an der Spitze Manhattans, genau dort, wo die Vorschau läuft, berichten, dass am 11. September fast eine halbe Million Menschen per Privatbooten und Fähren evakuiert worden sind. Deutlich mehr als 1940 in Dünkirchen.
Davon wusste auch Mia nichts, die damals in New York lebte. Ihr stehen nach dem Film die Tränen in den Augen. "Es ist tough, denn ich habe einen Feuerwehr-Freund verloren. Er war einer der 343 Helfer, die ums Leben gekommen sind", sagt sie.
"Während ich das jetzt geschaut habe, dachte ich, dass ich ihn vielleicht sehen würde – das war hart." Sie finde es aber schön, den Film an diesem Ort angesehen zu haben.
"Von den Booten wussten wir nichts – nicht in 20 Jahren. Ich weiß es also sehr zu schätzen, dass Spike Lee das alles zusammengesetzt hat."
In den zwei Episoden der Vorschau zeichnet Spike Lee eine Stadt, in der die Menschen zusammenstehen, wenn es darauf ankommt, auch wenn die Regierung versagt. Versöhnliche Mutmacher sind das, in denen am 11. September ein weißer Polizist neben einem jungen Schwarzen kniet und ihm die Hand auf den Arm legt.
Dass das nicht die ganze Wahrheit ist, weiß Spike Lee am besten. Das Thema "Black Lives Matter" wird ein nächster Teil der Serie sein.
Redaktioneller Hinweis: Wir haben eine Ortsangabe korrigiert.