Kirchenleute als Touristiker
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Open-Air-Gottesdienst auf der Alm, Urlaub im Haus der Stille, Pilgerwanderungen - die evangelische Kirche Bayerns bietet spirituelle Reisen an. Auch für bisher eher Kirchenferne, sagt der Tourismusbeauftragte der Landeskirche, Thomas Roßmerkel.
Thorsten Jabs: Reisen boomt – das zeigt der Blick auf die nackten Zahlen. In der Reisesaison des vergangenen Jahres sind laut der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse so viele Deutsche verreist wie nie zuvor. Beliebtestes Urlaubsziel war dabei das eigene Land, vor allem die Küsten und die Berge. Bei Auslandsreisen liegt Spanien vor Italien. Bei der Art des Urlaubs liegt der Strandurlaub nach dem ADAC-Reisemonitor 2018 weit vor Rundreisen, Wanderurlauben und Städtereisen.
Die Kategorie spirituelles Reisen findet man in solchen Statistiken nicht. Am ehesten würde vielleicht Wellness- und Gesundheitsurlaub passen, der auf Platz sechs steht. Zu den beliebtesten innerdeutschen Reisezielen zählt Bayern. Dort bemüht sich der Tourismusbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche Thomas Roßmerkel darum, Angebote zu machen, den ich herzlich begrüße. Guten Tag, Herr Roßmerkel!
Thomas Roßmerkel: Grüß Gott!
Jabs: Herr Roßmerkel, man liest immer wieder, dass auch spiritueller Urlaub boomt oder dass zumindest spirituelle Angebote boomen. Können Sie das aus Ihrer eigenen Erfahrung bestätigen?
Roßmerkel: Das kann ich vollkommen bestätigen. Wir beobachten zusammen mit dem Tourismus, also jetzt gerade auch in Bayern, eine vielfältige Suche nach spirituellen Angeboten. Vor dem Hintergrund, den wir in den letzten Jahren ja beobachten, dass die Menschen aus dem Hamsterrad des Alltags eigentlich überhaupt nicht mehr herauskommen, dass sie verzweifelt suchen nach Phasen der Ruhe, der Entschleunigung, der Stille und damit auch der Frage: was ist eigentlich mein Leben, was trägt mein Leben, was gibt meinem Leben einen Sinn?
Wo gibt es überhaupt noch "Frei"-Zeit?
Das Problem ist, dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Werktag und Sonntag ja immer mehr verwischt, sodass es eigentlich fast keine Freizeit im wahrsten Sinne des Wortes mehr gibt und der Urlaub damit praktisch zu einem Gegenentwurf zu dem normalen Alltag wird. Denn dort kann ich wirklich noch "Frei-Zeit" finden und damit auch natürlich Zeit für mich, einmal über mich, über mein Leben, über den Sinn meines Lebens nachzudenken. Damit sind wir mitten in der Frage der Spiritualität, denn nichts anderes bedeutet ja Spiritualität, das Nachdenken über sich, welche Beziehung habe ich zu anderen Menschen, gibt es etwas Höheres als mich. Von daher suchen Menschen häufig auch oft spirituelle Angebote, auch wenn sie es so natürlich nicht bezeichnen würden selbst.

Übernachten in Häusern der Stille werde oft nachgefragt, sagt Thomas Roßmerkel.© © ELKB/MichaelMcKee
Jabs: Gibt es nach Ihrer Erfahrung mehr Menschen, die gezielt eine rein religiös motivierte Reise nach Bayern machen oder spirituelle Angebote auf einer Reise nutzen?
Roßmerkel: Also auf alle Fälle das Zweite. Menschen fahren in den Urlaub, fahren nach Bayern, weil sie sagen, da ist es schön, da kann ich wandern, da habe ich einen See, je nach den Bedürfnissen. Aber dann vor Ort oder bei der Vorbereitung – Reisende informieren sich ja vor der Reise bereits, und deswegen sind auch unsere Internetauftritte natürlich ganz wichtig, dass Menschen schon vorher wahrnehmen, ah, evangelische Kirche in Bayern bietet Angebote für diese Frage nach dem Sinn des Lebens –, und dort vor Ort dann, wenn sie in Bayern sind, nehmen sie dieses oder jenes natürlich gerne wahr.
Berggottesdienste sind beliebt
Jabs: Was sind das für Angebote, die Sie machen?
Roßmerkel: Wir haben ein sehr breites Angebot, und das beginnt natürlich bei dem Bekanntesten, bei den Berggottesdiensten, bei den Gottesdiensten im Grünen. Wir haben in der evangelischen Kirche in Bayern allein jedes Jahr 800 solcher Gottesdienste im Freien, die auf Internetseiten zu finden sind, also auch für Gäste aus Nichtbayern zu finden sind. Das ist das bekannteste und natürlich auch beliebteste Angebot. Da kommen teilweise 1000 bis 2000 Menschen zu so einem Gottesdienst.
Hintergrund des Erfolgs ist natürlich auch, dass wir in dem Bereich auch ganz eng mit den Touristikern zusammenarbeiten, mit Bergbahnen zusammenarbeiten. Bergbahnen profitieren natürlich auch von solchen Gottesdiensten. Fahren hoch, gehen vielleicht oben noch mal ins Restaurant. Und in dem Zusammenhang gleich unser wirklich absolutes Top-Event auch: Seit drei, vier Jahren boomen die Sonnenaufgangs- und die Sonnenuntergangsgottesdienst. Das heißt, die Menschen machen etwas, was sie vor 20 Jahren für verrückt erklärt hätten: Sie stehen im Urlaub freiwillig um vier Uhr in der Früh auf und fahren um halb fünf mit der Bergbahn, die da natürlich schon fährt, nach oben, in der Dunkelheit, zum Gipfel, und dann wird während des Sonnenaufgangs miteinander ein Gottesdienst gefeiert, und anschließend gehen die Menschen natürlich dann noch gerne zu einem Frühstück ins Restaurant.
"Stille erleben" als neue Marke
Jabs: Wie sieht es mit der ersten Kategorie aus, die ich genannt hatte, also eine rein religiös motivierte Reise? Also man kennt vor allem Wallfahrten, Pilgerreisen, Klösterurlaube. Bieten Sie da auch Unterstützung an?
Roßmerkel: Da bieten wir natürlich auch Unterstützung an. Pilgern, ja auch ein großer Trend, auch in Bayern natürlich logischerweise. Wir haben in Bayern allein neun Hauptäste des Jakobsweges. Von daher werden ganz viele Angebote gemacht, auch mehrtägige Pilgerreisen oder auch in den Urlaubsorten natürlich, einzelne Pilgertage, die auch sehr gerne besucht werden logischerweise.
Das Zweite, was wir jetzt seit diesem Jahr ganz neu haben: wir haben in diesem Konzept unserer Tourismusarbeit eine neue Marke, heißt "Stille erleben". Das sind bis jetzt neun evangelische Häuser in Bayern, die ganz bewusst Angebote machen für Stille. Eine Woche zur Ruhe kommen, Stille. Die müssen bestimmte Kriterien erfüllen, diese Häuser, sie müssen natürlich in einer ruhigen Gegend leben, landschaftlich außen herum sehr ansprechend sein, eine kleine Kapelle oder einen Meditationsraum oder einen Raum der Stille anbieten.
Mit dieser neuen Marke kommen wir auch diesem Bedürfnis der Menschen entgegen, auch wirklich ganz bewusst mal eine Woche zu buchen für Ruhe, Stille, Entschleunigung und natürlich der große Vorteil bei so Häusern oft auch, dass jemand da ist, mit dem ich mich auch mal aussprechen kann.
Jabs: Können Sie da mit Klöstern konkurrieren? Die sind ja wahrscheinlich meistens eher katholisch.
Roßmerkel: Die Klöster in Bayern sind überwiegend katholisch. Wir haben zwei Gemeinschaften, den Schwanberg und Selbitz, wo auch wirklich noch Gemeinschaften leben, wo man auch eintauchen kann in dieses gemeinschaftliche Leben, Gottesdienste mitfeiern kann und so weiter. Die anderen Häuser sind natürlich profane Häuser - in Anführungsstrichen -, aber natürlich auch mit spirituellen Angeboten, die ich dazubuchen kann. Die Klöster in Bayern überwiegend katholisch, richtig, aber auch völlig überlaufen natürlich, von daher gibt es einen Riesenmarkt für diese Angebote.
Zusammenarbeit mit der Tourismuswirtschaft
Jabs: Wie entwickeln Sie gezielt solche Angebote? Sind das Erfahrungen, die einfließen oder auch Rückmeldungen von Urlaubern?
Roßmerkel: Also konkret diese Marke "Stille erleben", die wir über zwei Jahre jetzt erlebt haben, hat einen vielfachen Hintergrund. Zum einen, wir arbeiten ja auch in Bayern ganz eng zusammen mit der Bayern Tourismus Marketing GmbH, wir sind seit 2015 auf Gesellschafter bei der BTM geworden als evangelische Kirche, die erste und meines Wissens auch einzige Kirche in Deutschland die das bis jetzt gemacht hat, und deswegen arbeiten wir auch landesweit sehr eng mit dem bayerischen Tourismus zusammen. Bayern Tourismus hat 2015 eine neue Marke herausgebracht. "Stade Zeiten" heißt diese Marke. "Stade Zeiten", für alle Nichtbayern: ruhige Zeiten, stille Zeiten, wo es auch um ruhige Übernachtungsmöglichkeiten geht oder stille Angebote oder natürlich auch spirituelle Angebote.
Bei den stillen Übernachtungsmöglichkeiten, da war mir dann deutlich, da sind wir noch relativ schlecht aufgestellt. Nicht, dass wir sie nicht hätten, aber die Menschen finden sie schlicht und ergreifend nicht. Deswegen hatte ich auch immer wieder Anrufe von Menschen, sie wollen mal eine Woche Stille in einem evangelischen Haus verbringen, was kann ich ihnen empfehlen.
Auch Katholiken nehmen die Angebote an
Das war so der Hintergrund, dass ich gesagt habe, dann müssen wir unbedingt eine Marke entwickeln, unter der dann alle Häuser, die diese stillen Angebote machen, auch zu finden sind. Und dann habe ich zusammen mit einer Touristikerin, auch mit Studierenden an der Hochschule, diese Marke entwickelt, bis wir sie heuer auf der "f.re.e", der großen Freizeitmesse in München dann auch der touristischen Öffentlichkeit präsentiert haben.
Jabs: Sind das denn eigentlich hauptsächlich Protestanten, die sich an Sie wenden oder auch Katholiken oder Nichtgläubige?
Roßmerkel: Nicht ausschließlich Protestanten, keineswegs. Also, ich weiß es zum Beispiel bei unseren Berggottesdiensten, weil ich dort zurzeit eine Dissertation an der Uni Münster laufen habe, wo eine junge Promovendin mittels Fragebögen Berggottesdienstbesucher interviewt, und da ist herausgekommen, dass von denen, die in der Kirche sind, 52 Prozent evangelisch sind und 48 katholisch. Für die Menschen, die einen Berggottesdienst besuchen, ist es eigentlich egal, ob der katholisch oder evangelisch ist. Der muss ansprechend sein, der muss mich anrühren, und die Konfession ist ziemlich nebensächlich.
"Viele positive Rückmeldungen"
Jabs: Anrühren ist ein schönes Stichwort. Welche Erfahrungen machen Sie mit den Menschen, die ihre Angebote nutzen?
Roßmerkel: Viele, sehr viele positive Rückmeldungen. Natürlich gibt es Menschen, die auch zu Hause in den Gottesdienst gehen oder kirchliche Angebote wahrnehmen, aber auch sehr viele, die zum Teil schon zwei, drei Jahre nicht mehr in der Kirche waren oder ein kirchliches Angebot wahrgenommen haben und die ganz überrascht sind, wie Kirche sich auch gewandelt hat seit vielen Jahren natürlich. Die angetan sind von der Tatsache, dass wir aus den Kirchen herausgehen, dass wir dort hingehen, wo die Menschen sind, ihren Urlaub verbringen, Angebote im Freien, in der Natur machen. Und von daher sind die Rückmeldungen äußerst positiv.
Jabs: Gibt es konkrete Erfahrungen aus Ihrer Arbeit, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind, die Sie vielleicht auch motivieren?
Roßmerkel: Also diese vielen positiven Rückmeldungen, gerade von Menschen, die seit längerer Zeit mit Kirche überhaupt nichts mehr am Hut hatten, motivieren sehr stark. Die motivieren mich, aber natürlich auch die vielen Pfarrerinnen und Kirchenmusiker, die wir vor Ort haben, die besondere Angebote machen, wo man merkt: Das macht Sinn, dass wir uns immer wieder überlegen, wie kann man Menschen ansprechen. Dann kommt es zu ganz anrührenden Begegnungen, wie ein älteres Ehepaar, das viele, viele Jahre nicht mehr in der Kirche war, einen Berggottesdienst miterlebt hat und dann sagt: Wir hatten jetzt goldene Hochzeit, können Sie für uns da einen kleinen Segen sprechen am Berg zum Beispiel.
Die Kraft der christlichen Botschaft
Jabs: Geht es da wirklich darum – Sie hatten das vorhin schon angedeutet –, Gott und Glauben neu zu erfahren?
Roßmerkel: Ja, natürlich können die Menschen das nicht so dezidiert aussprechen, so wie Sie es jetzt getan haben, aber dahinter steht die Sehnsucht, die Frage, was trägt mein Leben, gibt es wirklich etwas Höheres als mich. Es gibt ja auch wissenschaftliche Untersuchungen, auch von der Stiftung für Zukunftsfragen, also eine nichtkirchliche Organisation, die jedes Jahr immer wieder den Tourismus untersucht und die vor einigen Jahren mal herausbekommen hat, dass jeder fünfte deutsche Urlauber, also nicht Kirchenmitglied, deutsche Urlauber im Urlaub gerne neue spirituelle Erfahrungen machen möchte. Ich denke, das zeigt doch, wie wichtig auch diese Erfahrungen im Urlaub für Menschen sind, die jetzt nicht kirchlich gebunden sind.
Jabs: Ist es denn enttäuschend, wenn die Menschen wirklich nur im Urlaub mal solche Angebote nutzen und dann im Alltag gar nicht mehr?
Roßmerkel: Es wäre natürlich schön, wenn sie es im Alltag auch nutzen würden, aber das, was ich vorhin schon angedeutet habe, der Alltag ist so stressig geworden inzwischen, man ist so verplant, dass oft dafür überhaupt keine Zeit mehr bleibt. Hinzukommt natürlich, dass diese besonderen Angebote, die wir im Bereich Kirche und Tourismus machen, also Angebote im Freien, spirituelle Wanderungen, Berggottesdienste, zu Hause natürlich schwer einzulösen sind, weil ich entweder nicht die schöne Gegend habe oder der Pfarrer das nicht so machen möchte, und von daher diese besonderen Erfahrungen zu Hause natürlich gar nicht gemacht werden können.
Ich finde es sehr schön und wichtig, dass Menschen das zumindest im Urlaub machen, dass sie einmal im Jahr diese positive Erfahrung machen, auch mit der christlichen Botschaft, dass die keineswegs so verstaubt ist wie vielleicht manche meinen, sondern dass sie auch was mit unserer Zeit zu tun hat, dass sie mir heute auch Hoffnung und Kraft geben kann. Wenn das einmal im Jahr geschieht, denke ich, ist das schon wunderbar.
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