"Spontan, von nirgends sichtbar gesteuert"
Im Juni 1953 war Klaus Gronau 16 und Lehrling. Zunächst aus der Ferne beobachtete er, wie Bauarbeiter ihrem Zorn über die neuen hohen Arbeitsnormen Luft machten. Dann zogen sie los. Und Gronau war dabei. Als die Panzer kamen, musste er - wie viele - flüchten.
Dieter Kassel: Der 17. Juni 1953 ist ein Tag, den die Menschen in Deutschland nie vergessen haben, egal in welchem Teil sie aufgewachsen sind. In der alten Bundesrepublik, da wurde man jedes Jahr ganz offiziell an den Arbeiteraufstand erinnert, denn da war der 17. Juni ein Feiertag. Das war in der DDR selbstverständlich nicht der Fall, aber wer dort den 17. Juni 1953 selbst erlebt hatte, der konnte ihn auch nie wieder vergessen, auch ohne Feiertag nicht. Klaus Gronau war damals gerade 16 Jahre alt, er machte in Ostberlin eine Lehre zum Lebensmittelfachverkäufer, und ich bin sehr froh, dass er heute, genau 60 Jahre später bei uns zu Gast ist. Schönen guten Tag erst mal!
Klaus Gronau: Guten Tag!
Kassel: Wenn wir das alles ordentlich erklären wollen, finde ich, dann sollten wir nicht erst am 17. Juni beginnen, sondern schon am 16. Ich habe es erwähnt, Sie waren damals gerade Lehrling quasi, Auszubildender, kamen aus der Berufsschule an diesem 16. Juni 53, und haben dann auf der Straße zwei protestierende Bauarbeiter gesehen. Was war das für eine Situation, und was haben Sie sich damals gedacht? Sie waren ja nicht vorbereitet auf so was.
Gronau: Ja, ich kam dann wie gesagt auf dem Schulweg nach Hause, Niederbarnimstraße, Ecke Stalinallee, und am Ende der Bauten - soweit, war ein Auflauf von 30 bis 40 Bauarbeitern, die meuterten. Ich kam näher, laute Schreie: "Wir machen nicht mehr weiter!", "Die können mich mal!", "Ich lege hier alles hin!" - Dann sah ich einen Bauarbeiter mit einem langen Vorschlaghammer, der ging und haute zwei Pkws entzwei. Autos in dieser Form waren damals noch Mangelware, und der haute nun die Scheiben ein, Bleche und so weiter, und das war für mich aufregend, nicht? Was macht der da, nicht? Und ich da hin und blieb nun dann fest stehen und hörte zu, dass sie jetzt da demonstrieren wollten, und ich ging mit ihnen mit.
Ein Stückchen weiter an der Warschauer Straße wurden wir schon von Vopos aufgehalten, die jetzt in einer langen Reihe aufgestellt waren, und die kamen auf uns dann zu, kreisten uns ein, und nahmen mich auch fest und verdrehten mir die Arme. Und ich wurde auch auf einen Lkw aufgeladen. [Die] fuhren aber noch nicht los. Und einige [der] dann dort laut sprechenden Bauarbeiter protestierten und sagten, dass wir ein Demonstrationsrecht haben, und "Das wollen wir ausüben!", und ging auf einen leitenden Offizier damit zu, und der war sich nicht sicher und erkundigte sich bei seinem Vorgesetzten, und daraufhin kam die Order, uns wieder freizulassen. Nun, inzwischen war der Zug jetzt fast auf 1.000 Leute angewachsen, da gingen wir weiter die Warschauer Straße in Richtung Oberbaumbrücke, Westsektor-Grenze. Dort, an der Oberbaumbrücke angekommen, waren Wächterhäuschen, die immer beim Passieren von Ost nach West über die Grenze, der Sektorengrenze, uns dann auch kontrollierten, und als wir jetzt im großen Zug ankamen – wie gesagt, ungefähr 1.000 Leute –, da rannten die schon weg, weil sie Furcht hatten. Und einige beherzte Männer nahmen dann zwei dieser Buden und warfen sie dann in die Spree.
Kassel: Zwei Fragen, bevor wir dann weitermachen bei dem, was Sie bisher schon erzählt haben. Das eine: Zum Beispiel in dem Moment, wo die Volkspolizei Sie dann erst mal festgenommen und auf diesen Lastwagen da gebracht hat: Hatten Sie keine Angst, gab es nicht zwischendurch für Sie den Moment – weil Sie sind ja einfach am Anfang mitgegangen, haben sich ja mitreißen lassen von dieser Stimmung – doch mal den Gedanken im Kopf: 'Oh Mann, oh Mann, oh Mann, worauf habe ich mich hier eingelassen?'
Gronau: Nein, also bis dahin kannte ich keine Angst. Die bekam ich erst einen Tag später dann, als die Panzer kamen.
Kassel: Und das Andere, so wie Sie das beschreiben, wie dieser Marsch stattfand, wie immer wieder neue Leute dazukamen und die Richtung eingeschlagen wurde – es ist ja damals das Gerücht verbreitet worden, vor allen Dingen auch von den DDR-Medien, und das hat sich zum Teil lange gehalten: Das ganze sei großartig organisiert gewesen, sei vielleicht sogar aus dem Ausland organisiert gewesen. Aber so, wie Sie es beschreiben, war das doch alles mehr oder weniger spontan und teilweise Zufall.
Gronau: Ich protestiere auch über diese Aussage, die von links dann gekommen ist: Das war überhaupt nicht der Fall, es war spontan, so was von plötzlich, so ein Aufschwung, der war phänomenal. Das muss ich sagen, das war …, durch Mundpropaganda, ging das rum, und die Leute waren sich ja fast alle einig. Leichte Widersacher, die sich entgegenstellten: "Brüder lasst es sein!", "Kommt zurück!", "Lasst es!", und so weiter, die wurden zur Seite gestoßen und auch teilweise mit dem Gesicht in die Pfützen gestukt, nicht? Ich kann wirklich in der Hinsicht sagen: Diese Sache kam spontan, von nirgends sichtbar gesteuert, sondern vom Inneren, vom Herzen der Bevölkerung.
Kassel: Nun sind wir ja die ganze Zeit noch beim 16. Juni 1953 gewesen. Dann waren Sie irgendwann wieder abends zu Hause bei Ihren Eltern, nehme ich an, als 16-Jähriger.
Gronau: Ja.
Kassel: Wie haben die denn reagiert, als Sie ihnen erzählt haben, wie Sie den Tag verbracht haben?
Gronau: Mein Vater schimpfte auf mich sehr, denn ich hatte als Schuljunge sofort nach Hause zu kommen: Wo ich dann nun mich bis abends rumgetrieben habe, denn ich bin ja mit dem Zug bis zum Haus der Ministerien mitmarschiert, habe dort ja denn auch die Aufrufe dann gehört. Unterwegs wurde gerufen: "Wir brauchen keine Volksarmee, wir brauchen Butter!", "Es hat keinen Zweck, der Spitzbart, der muss weg!" Und wie gesagt, dort am Haus der Ministerien, Leipziger Ecke Wilhelmstraße, dort wurde denn auch ausgerufen: "Morgen früh, sieben Uhr, Straußberger Platz zum Generalstreik!". So ging ich schlafen, und [es] hielt mich davon aber nicht ab, nächsten Morgen zeitig genug aufzustehen, um dann auch um sieben Uhr am Straußberger Platz zu sein; das war ich auch. Als ich da hinkam, war der Platz schon wieder schwarz vor Menschen.
Die Leute waren pünktlich, die haben den Ruf erhört, nicht, und dann hatten wir uns geschlossen wieder in einen erneuten Zug begeben, und Teile von den Bauarbeitern und von den Demonstrierenden, die zweigten dann ab, sie gingen dann in Richtung Frauengefängnis. Ich lief weiter mit in Richtung Lustgarten. Neben mir ging ein großer Bauarbeiter im dunklen Gummimantel, nicht? Der hatte in der linken Hand eine Blechbüchse, eine Stullenbüchse, und aß beim Laufen sein Brot und war auch natürlich zornig, weil sich auch teilweise immer wieder welche dagegen stellten, Brüder, Brüder, haltet ein, wie gesagt, die wurden verdrängt, und der Marsch ging weiter. Wir kamen dann am Lustgarten an, die Kundgebung war noch nicht so richtig eröffnet, da klang dann wieder durch Lautsprecherwagen, dass an der Oberbaumbrücke geschossen wird. Und wie ich das hörte, löste ich mich mit einem, der mit war, wir sind im Dauerlauf hin zur Oberbaumbrücke, hin, was da nun los ist.
Dort angekommen war inzwischen geschossen worden. Ich sah zwei Personen, eine Frau und einen Mann, die Frau blutete sehr aus dem Oberschenkel, der Mann hatte wohl einen Schulterschuss, die wurden dann so im Schneidersitz und von mehreren anderen dann 'rüber getragen in Richtung Schlesische Straße im Westteil der Stadt. Ich stellte mich dazu, weil da Verschiedene mit Steinen warfen und sammelte auch Steine mit auf und fing an Steine zu werfen, und [wir] versteckten uns immer hinter den Pfeilern. Und dann rannten wir immer mit einem Aufschrei auch dort hin. Nun wurde die Kette dort der Volkspolizei verstärkt, es kamen immer mehr, dann kamen da auch die Russen, also beziehungsweise die Sowjets damals. Und die Vopos schoss'n schon immer in Abständen, aber immer über unsere Köpfe. Und als die Sowjets kamen, schossen sie auch, aber schon niedriger, nicht? Und dann wurde mit Megafon aufgerufen, die Grenzen werden zugemacht. Und da hatte ich dann auch zwei Mädels neben mir, die weinten, und ich hatte jetzt dann Angst bekommen, die Eltern: "Geh mal lieber zurück, bleib nicht hier auf dieser Seite!"
Und [ich] bin eben dort die Richtung denn auch entflohen. Oben auf der Warschauer Brücke angekommen, kam mir ein Junge aus der Straße entgegen mit einem Moped, ein umgebautes Mofa. Und der hatte nun noch nichts erlebt, und da sagt er: Na los, hin, setz dich hinten rauf! Und das hatte ich dann gemacht, und da sind wir in Richtung Innenstadt mit dem Mofa, kamen aber nur noch bis zur Nähe Alexanderplatz, Karl-Liebknecht-Straße, beziehungsweise da an der Marienkirche. Da fuhren die Russenpanzer denn schon massiv, mit großer Stärke, und sie hatten, manche, querbeet vorne denn auch Balken oder Bretter drüber gelegt, um so viele wie möglich Leute zu erfassen. Und dann drehten sie sich immer dann auch im Kreis und schossen mit dem Maschinengewehr aus dem Panzer dann auch immer in die Luft, also nicht gezielt. Und es war aber trotzdem durch die Lautstärke und das Schießen dermaßen aufregend, also beängstigend. Und nun sah ich dann dabei auch noch den Bauarbeiter, mit dem ich am frühen Morgen vom Straußberger Platz losgelaufen bin, der lag totgefahren, also überfahren vom Panzer, und seine Stullenbüchse, die war platt wie eine Briefmarke. Und da habe ich große Angst bekommen und bin dann nach Hause gelaufen.
Kassel: Der inzwischen 76-Jährige Klaus Gronau über den 17. Juni 1953 und wie er selber ihn in Berlin erlebt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Links auf dradio.de:
"Ein politisches Schockerlebnis" - Friedrich Schorlemmer über die Bedeutung des 17. Juni 1953
"Die Sowjets hatten Angst, dass die Situation eskalieren könnte" - Der Aufstand vom 17. Juni 1953 fiel in eine Umbruchphase in der UdSSR
Ausnahmezustand im sozialistischen Paradies
Klaus Gronau: Guten Tag!
Kassel: Wenn wir das alles ordentlich erklären wollen, finde ich, dann sollten wir nicht erst am 17. Juni beginnen, sondern schon am 16. Ich habe es erwähnt, Sie waren damals gerade Lehrling quasi, Auszubildender, kamen aus der Berufsschule an diesem 16. Juni 53, und haben dann auf der Straße zwei protestierende Bauarbeiter gesehen. Was war das für eine Situation, und was haben Sie sich damals gedacht? Sie waren ja nicht vorbereitet auf so was.
Gronau: Ja, ich kam dann wie gesagt auf dem Schulweg nach Hause, Niederbarnimstraße, Ecke Stalinallee, und am Ende der Bauten - soweit, war ein Auflauf von 30 bis 40 Bauarbeitern, die meuterten. Ich kam näher, laute Schreie: "Wir machen nicht mehr weiter!", "Die können mich mal!", "Ich lege hier alles hin!" - Dann sah ich einen Bauarbeiter mit einem langen Vorschlaghammer, der ging und haute zwei Pkws entzwei. Autos in dieser Form waren damals noch Mangelware, und der haute nun die Scheiben ein, Bleche und so weiter, und das war für mich aufregend, nicht? Was macht der da, nicht? Und ich da hin und blieb nun dann fest stehen und hörte zu, dass sie jetzt da demonstrieren wollten, und ich ging mit ihnen mit.
Ein Stückchen weiter an der Warschauer Straße wurden wir schon von Vopos aufgehalten, die jetzt in einer langen Reihe aufgestellt waren, und die kamen auf uns dann zu, kreisten uns ein, und nahmen mich auch fest und verdrehten mir die Arme. Und ich wurde auch auf einen Lkw aufgeladen. [Die] fuhren aber noch nicht los. Und einige [der] dann dort laut sprechenden Bauarbeiter protestierten und sagten, dass wir ein Demonstrationsrecht haben, und "Das wollen wir ausüben!", und ging auf einen leitenden Offizier damit zu, und der war sich nicht sicher und erkundigte sich bei seinem Vorgesetzten, und daraufhin kam die Order, uns wieder freizulassen. Nun, inzwischen war der Zug jetzt fast auf 1.000 Leute angewachsen, da gingen wir weiter die Warschauer Straße in Richtung Oberbaumbrücke, Westsektor-Grenze. Dort, an der Oberbaumbrücke angekommen, waren Wächterhäuschen, die immer beim Passieren von Ost nach West über die Grenze, der Sektorengrenze, uns dann auch kontrollierten, und als wir jetzt im großen Zug ankamen – wie gesagt, ungefähr 1.000 Leute –, da rannten die schon weg, weil sie Furcht hatten. Und einige beherzte Männer nahmen dann zwei dieser Buden und warfen sie dann in die Spree.
Kassel: Zwei Fragen, bevor wir dann weitermachen bei dem, was Sie bisher schon erzählt haben. Das eine: Zum Beispiel in dem Moment, wo die Volkspolizei Sie dann erst mal festgenommen und auf diesen Lastwagen da gebracht hat: Hatten Sie keine Angst, gab es nicht zwischendurch für Sie den Moment – weil Sie sind ja einfach am Anfang mitgegangen, haben sich ja mitreißen lassen von dieser Stimmung – doch mal den Gedanken im Kopf: 'Oh Mann, oh Mann, oh Mann, worauf habe ich mich hier eingelassen?'
Gronau: Nein, also bis dahin kannte ich keine Angst. Die bekam ich erst einen Tag später dann, als die Panzer kamen.
Kassel: Und das Andere, so wie Sie das beschreiben, wie dieser Marsch stattfand, wie immer wieder neue Leute dazukamen und die Richtung eingeschlagen wurde – es ist ja damals das Gerücht verbreitet worden, vor allen Dingen auch von den DDR-Medien, und das hat sich zum Teil lange gehalten: Das ganze sei großartig organisiert gewesen, sei vielleicht sogar aus dem Ausland organisiert gewesen. Aber so, wie Sie es beschreiben, war das doch alles mehr oder weniger spontan und teilweise Zufall.
Gronau: Ich protestiere auch über diese Aussage, die von links dann gekommen ist: Das war überhaupt nicht der Fall, es war spontan, so was von plötzlich, so ein Aufschwung, der war phänomenal. Das muss ich sagen, das war …, durch Mundpropaganda, ging das rum, und die Leute waren sich ja fast alle einig. Leichte Widersacher, die sich entgegenstellten: "Brüder lasst es sein!", "Kommt zurück!", "Lasst es!", und so weiter, die wurden zur Seite gestoßen und auch teilweise mit dem Gesicht in die Pfützen gestukt, nicht? Ich kann wirklich in der Hinsicht sagen: Diese Sache kam spontan, von nirgends sichtbar gesteuert, sondern vom Inneren, vom Herzen der Bevölkerung.
Kassel: Nun sind wir ja die ganze Zeit noch beim 16. Juni 1953 gewesen. Dann waren Sie irgendwann wieder abends zu Hause bei Ihren Eltern, nehme ich an, als 16-Jähriger.
Gronau: Ja.
Kassel: Wie haben die denn reagiert, als Sie ihnen erzählt haben, wie Sie den Tag verbracht haben?
Gronau: Mein Vater schimpfte auf mich sehr, denn ich hatte als Schuljunge sofort nach Hause zu kommen: Wo ich dann nun mich bis abends rumgetrieben habe, denn ich bin ja mit dem Zug bis zum Haus der Ministerien mitmarschiert, habe dort ja denn auch die Aufrufe dann gehört. Unterwegs wurde gerufen: "Wir brauchen keine Volksarmee, wir brauchen Butter!", "Es hat keinen Zweck, der Spitzbart, der muss weg!" Und wie gesagt, dort am Haus der Ministerien, Leipziger Ecke Wilhelmstraße, dort wurde denn auch ausgerufen: "Morgen früh, sieben Uhr, Straußberger Platz zum Generalstreik!". So ging ich schlafen, und [es] hielt mich davon aber nicht ab, nächsten Morgen zeitig genug aufzustehen, um dann auch um sieben Uhr am Straußberger Platz zu sein; das war ich auch. Als ich da hinkam, war der Platz schon wieder schwarz vor Menschen.
Die Leute waren pünktlich, die haben den Ruf erhört, nicht, und dann hatten wir uns geschlossen wieder in einen erneuten Zug begeben, und Teile von den Bauarbeitern und von den Demonstrierenden, die zweigten dann ab, sie gingen dann in Richtung Frauengefängnis. Ich lief weiter mit in Richtung Lustgarten. Neben mir ging ein großer Bauarbeiter im dunklen Gummimantel, nicht? Der hatte in der linken Hand eine Blechbüchse, eine Stullenbüchse, und aß beim Laufen sein Brot und war auch natürlich zornig, weil sich auch teilweise immer wieder welche dagegen stellten, Brüder, Brüder, haltet ein, wie gesagt, die wurden verdrängt, und der Marsch ging weiter. Wir kamen dann am Lustgarten an, die Kundgebung war noch nicht so richtig eröffnet, da klang dann wieder durch Lautsprecherwagen, dass an der Oberbaumbrücke geschossen wird. Und wie ich das hörte, löste ich mich mit einem, der mit war, wir sind im Dauerlauf hin zur Oberbaumbrücke, hin, was da nun los ist.
Dort angekommen war inzwischen geschossen worden. Ich sah zwei Personen, eine Frau und einen Mann, die Frau blutete sehr aus dem Oberschenkel, der Mann hatte wohl einen Schulterschuss, die wurden dann so im Schneidersitz und von mehreren anderen dann 'rüber getragen in Richtung Schlesische Straße im Westteil der Stadt. Ich stellte mich dazu, weil da Verschiedene mit Steinen warfen und sammelte auch Steine mit auf und fing an Steine zu werfen, und [wir] versteckten uns immer hinter den Pfeilern. Und dann rannten wir immer mit einem Aufschrei auch dort hin. Nun wurde die Kette dort der Volkspolizei verstärkt, es kamen immer mehr, dann kamen da auch die Russen, also beziehungsweise die Sowjets damals. Und die Vopos schoss'n schon immer in Abständen, aber immer über unsere Köpfe. Und als die Sowjets kamen, schossen sie auch, aber schon niedriger, nicht? Und dann wurde mit Megafon aufgerufen, die Grenzen werden zugemacht. Und da hatte ich dann auch zwei Mädels neben mir, die weinten, und ich hatte jetzt dann Angst bekommen, die Eltern: "Geh mal lieber zurück, bleib nicht hier auf dieser Seite!"
Und [ich] bin eben dort die Richtung denn auch entflohen. Oben auf der Warschauer Brücke angekommen, kam mir ein Junge aus der Straße entgegen mit einem Moped, ein umgebautes Mofa. Und der hatte nun noch nichts erlebt, und da sagt er: Na los, hin, setz dich hinten rauf! Und das hatte ich dann gemacht, und da sind wir in Richtung Innenstadt mit dem Mofa, kamen aber nur noch bis zur Nähe Alexanderplatz, Karl-Liebknecht-Straße, beziehungsweise da an der Marienkirche. Da fuhren die Russenpanzer denn schon massiv, mit großer Stärke, und sie hatten, manche, querbeet vorne denn auch Balken oder Bretter drüber gelegt, um so viele wie möglich Leute zu erfassen. Und dann drehten sie sich immer dann auch im Kreis und schossen mit dem Maschinengewehr aus dem Panzer dann auch immer in die Luft, also nicht gezielt. Und es war aber trotzdem durch die Lautstärke und das Schießen dermaßen aufregend, also beängstigend. Und nun sah ich dann dabei auch noch den Bauarbeiter, mit dem ich am frühen Morgen vom Straußberger Platz losgelaufen bin, der lag totgefahren, also überfahren vom Panzer, und seine Stullenbüchse, die war platt wie eine Briefmarke. Und da habe ich große Angst bekommen und bin dann nach Hause gelaufen.
Kassel: Der inzwischen 76-Jährige Klaus Gronau über den 17. Juni 1953 und wie er selber ihn in Berlin erlebt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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"Ein politisches Schockerlebnis" - Friedrich Schorlemmer über die Bedeutung des 17. Juni 1953
"Die Sowjets hatten Angst, dass die Situation eskalieren könnte" - Der Aufstand vom 17. Juni 1953 fiel in eine Umbruchphase in der UdSSR
Ausnahmezustand im sozialistischen Paradies