Was interessiert mich als Komponistin an Sport? Es gibt natürlich verlockende Verbindungen, die man herstellen kann zwischen den zwei Bereichen. Wenn man sich auskennt mit Musik, dann kommt man schnell auf Ideen, was die zwei Bereiche miteinander zu tun haben: man hat Konkurrenz, man hat Virtuosität, man hat Mannschaften oder Ensembles, es gibt verschiedene Anzahl von Spielern, es gibt Publikum, es gibt Spieler auf der Bühne oder dem Sportfeld, es gibt Räumlichkeiten, die dafür gebaut worden sind, Veranstalter, Rituale, das Warm up, es gibt bestimmte Fähigkeiten, die mit dem Körper zu tun haben: Wie hoch kann ich singen? Wie weit kann ich greifen auf meinem Klavier?
Sport in den Künsten
„Smooche de la rooche II“ heißt Annesley Blacks Sportkomposition für drei Schlagzeuger, die im Verlauf der Aufführung mit Springseilen agieren. © Nicolei Marcinowski
Bühnenreife Bewegungen
23:42 Minuten
Wenn sich Künstler mit dem Sport auseinandersetzen, ist für Außenstehende manchmal nicht klar, ob es sich um Sport oder Kunst handelt. Es gibt viele Beispiele für Gemälde, Theaterstücke, Netzkunst, Aktionen und Kompositionen, die Sport zum Thema haben.
Wenn der Künstler Lenny Maughan mal wieder durch San Francisco joggt, muss es eine ganz bestimmte Route sein. Im Vorfeld legt er genau fest, welche Straßenzüge er nimmt, an welchen Kreuzungen er abbiegt und in welchen Parks er eine Extraschleife läuft.
Wenn er joggt, benutzt er eine Fitness-App zum Tracking der eigenen sportlichen Aktivitäten. Wer auch so eine Fitness-App nutzt, der weiß, dass am Ende des Laufes bilanziert wird. Da wird einem auf dem Smartphone angezeigt, wie lang die Strecke war und wie viel Zeit dafür benötigt wurde. Und ebenso lässt sich anhand einer blauen Linie in der Karte die zurückgelegte Route visuell nachvollziehen.
Als Lenny Maughans Lauf also zu Ende geht, ist er in 6 Stunden rund 40 Kilometer unterwegs gewesen. Und die blaue Linie auf seinem Bildschirm zeigt das, was er lange geplant hatte: das Konterfei der ikonischen Frida Kahlo. Das Bild der Frida geht viral, schon längst gibt es weltweit Communities, die ihre Tracking-Apps auf diese schöne Weise zweckentfremden und „Bilder laufen“.
San Franciscos Straßen als Leinwand
Ein amerikanischer Journalist hat das so beschrieben: Die Straßen von San Francisco sind die Leinwand, die Füße sind der Pinsel. Hier ist nicht mehr zu unterscheiden zwischen einem kreativen Sporttreiben und einem kräftezehrenden Kunstmachen. Die Produktion künstlerischer Werke ist ein sinnlicher und geistiger, aber immer auch ein körperlicher Akt.
Um beim Beispiel des Malers zu bleiben: Wer im Atelier Farbe auf seine Leinwand aufträgt oder großflächige Wandmalereien auf öffentlichen Gebäuden anbringt, macht dies mit körperlichem Einsatz. Das bleibt beim Betrachten der Kunst, wo es um die Interpretation von Farben, Formen und inhaltlichen Aussagen geht, oftmals unbeachtet.
Beim medienwirksamen Langstreckenlauf von Lenny Maughan ist das anders: Es kommt nicht so sehr auf das fertige Bild an, sondern vor allem auf seinen Entstehungsprozess. Und der ist definitiv ein Kraftakt.
Wenn es Künstlerinnen und Künstlern in der modernen Kunst darum geht, den menschlichen Körper in einem Extremzustand zu thematisieren, dann liegt die Bezugnahme auf den Sport als Mittel der Kunst sehr nahe.
Anstrengende Sportkomposition
Annesley Black, in Kanada geboren und seit vielen Jahren in Frankfurt am Main ansässig, schreibt experimentelle Musik. Wenn sie für Orchester, Ensembles und Solisten komponiert, unterläuft sie gängige Hörgewohnheiten, benutzt abstrakte und geräuschhafte Klänge. In der Regel befasst sie sich mit einem außermusikalischen Thema und bezieht ihre Stücke auf eigene Alltagserfahrungen.
Ihr erstes Sportstück ist inzwischen 15 Jahre alt, eine Komposition für 3 „athletisch begabte Schlagzeuger“. Mit dem Sport setzt sie sich bis heute gern auseinander und findet immer wieder andere künstlerische Formen.
Jeder Klang erfordert eine Körperbewegung
Was für das Auftragen von Farbe auf Leinwand gilt, ist auch für die Musik relevant: Jeder Klang, der von einer Musikerin erzeugt wird, erfordert eine bestimmte Körperbewegung – die mal klein und mal größer sein kann. Annesley Black interessiert sich für Kontextverschiebungen, das heißt auf der Konzertbühne verlangt sie den Interpreten sportliche Aktionen ab, und ebenso verlässt sie auch den Konzertsaal, um in Turn- oder Boulderhallen ihre musikalischen Ideen zu zeigen.
„Was ich faszinierend finde ist, dass die Musikerinnen, obwohl sie herausgefordert sind, eine andere Tätigkeit auszuüben mit ihrem Körper, dass man sehr gut merkt an ihrem Körper, was für ein Instrument sie spielen: zum Beispiel, dass man als Geigerin einen Fleck auf dem Kinn und der Schulter hat vom Halten der Geige. Das ist so ein Merkmal. Und genauso ist es bei der Körperhaltung von Schlagzeugerinnen, die die ganze Zeit tätig sind, zwischen zum Beispiel Marimba und einem anderen Instrument wechseln. Also die Körperfähigkeit von Schlagzeugern finde ich sehr hoch.“
Sportgeräte als Klangerzeuger und Schlagzeuger
„Smooche de la rooche II – Variations on a theme by Hazel Meyer“ heißt Annesley Blacks Sportkomposition für drei Schlagzeuger, die im Verlauf der Aufführung mit Springseilen agieren. Zunächst benutzen sie die Sportgeräte als Instrumente und Klangerzeuger, die sie durch die Luft schwingen oder auf den Boden schlagen und so die von der Komponistin gewünschten Rhythmen erzeugen. Später dann müssen sie wirklich Seilspringen in verschiedenen Variationen, die Annesley Black in der Partitur exakt vorschreibt.
Die drei professionell ausgebildeten Schlagzeuger sind bestenfalls – so wünscht es ja die Partitur – athletisch begabt. Aber in der Schlusssequenz überanstrengt die Künstlerin die Musiker und lässt sie so lange Seilspringen, bis sich die zunehmende Entkräftung durch Schweißperlen, angestrengtes Atmen und gelegentliches Stolpern bemerkbar macht.
Und es ist genau dieser Kippmoment, nach dem Annesley Black sucht: Sowohl im Konzertsaal als auch im Sportstadion verlangt das Publikum nach hochspezialisierten Protagonistinnen und Protagonisten, denen es dabei zuschauen möchte, wie sie Höchstleistungen vollbringen und übernatürliche Momente kreieren. Wenn Annesley Black den Rahmen verschiebt und die Rollen tauscht, schafft sie ein spezielles Konzerterlebnis, mit dem sie kulturelle Codes, Rituale und Erwartungshaltungen beider Bereiche auf den Kopf stellt.
Vereinigung von Körper und Geist
Was die Rolle des Körpers betrifft, verhält es sich in Sport und Kunst nahezu gegensätzlich: Nachdem man in akademischen Kreisen lange der Überzeugung war, dass Sport eine bloße körperliche Ertüchtigung sei und von daher keinen Anlass für geistige, intellektuelle Auseinandersetzung gebe, haben sich in den letzten 70 Jahren zahlreiche Teildisziplinen der Sportwissenschaften gebildet, die die sozialen, psychologischen, politischen und soziokulturellen Dimensionen des Sports untersuchen. Und in den Künsten war der menschliche Körper zwar stets notwendig, aber erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgte ein progressiver ästhetischer Diskurs.
Die Motivation für die künstlerische Bezugnahme auf den Sport kann in der persönlichen Leidenschaft einer Künstlerin zu einer bestimmten Sportart begründet liegen und vermutlich sind die Transferprozesse vom Sport zur Kunst nachhaltiger, wenn die Künstlerinnen und Künstler selbst sportliche Erfahrungen gemacht haben.
Pierre de Coubertin, Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, schrieb 1906:
Es gibt nur wenige Schriftsteller, die sich dem Sport widmen, und die Gründe für ihre zögerliche Haltung liegen nahe. Wer würde schon gern über Dinge schreiben, von deren Reichtum er sich nicht selbst überzeugt hat?
Es sei also notwendig, dass die Künstler Sportstadien besuchen. Zurück geht diese Aussage auf Konferenzen, in denen der Beschluss erfolgte, bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm Kunstwettbewerbe stattfinden zu lassen, damit Muskel und Geist – so das Credo – vereint seien.
Alle eingereichten Kunstwerke, so Coubertins Forderung, sollten direkt von der Idee des Sports inspiriert sein: ob Architektur, Dramatische Kunst, Ausstattung, Dichtung, Musik, Malerei oder Bildhauerei. Bis zu den Spielen 1948 in London fanden die Kunstwettbewerbe in 14 Disziplinen statt.
Einzig mit der Bewertung setzte sich Coubertin offenbar nicht auseinander, obwohl ihm sicher bewusst war, dass man ein Kunstwerk nicht wie eine sportliche Leistung bewerten kann. Für ihn zählte zunächst einmal nur die Beteiligung der Kunst.
Die Kunstwettbewerbe waren qualitativ und quantitativ erfolglos - weder waren diese herausragende künstlerische Großereignisse noch sind künstlerische Wettbewerbssieger bekannt, deren Werke die Kunst-, Musik- oder Literaturgeschichte bedeutsam geprägt hätten.
Nach London 1948 war die Kunst nur mehr Rahmenprogramm, bei den Spielen 1972 in München dann aber in ganz besonderer Weise präsent. Keine anderen Spiele wiesen seitdem ein annähernd so großes, internationales und visionäres Kunst- und Kulturprogramm auf: der Olympiapark mit seinen Weltkulturerbesportstätten und öffentlichen Kunstwerken, das neuartige grafische Design, zahlreiche Ausstellungen, Opern und Konzerte oder die heitere Spielstraße entlang des Olympiasees.
Kunst rund um München 1972
Im Kontext von Olympischen Spielen lässt sich auch zeigen, dass die Kunst eine kritische Instanz sein kann und mit engagierten Aktionen und provokativen Werken die Finger in Wunden legt. Viele Arbeiten üben scharfe Kritik an den Machtverhältnissen und an den zuweilen fragwürdigen politischen und wirtschaftlichen Interessen hinter dem Sport.
Karl Stankiewitz, sozusagen der München72-Chronist, erinnert sich an einen Mann, der einen halben Liter Ochsenblut auf ein Leintuch goss und unter dem Jubel des Publikums begann, mit verbundenen Augen eine Kniebeuge nach der anderen zu machen. Er wollte das bis zur Bewusstlosigkeit treiben, um so den „blinden Masochismus“ des Leistungssports zu geißeln. Diese Aktion des Künstlers Georg Niggl wurde damals polizeilich beendet.
„Die Hymne von Olympia 72 ist eine ganz tolle Fanfare“, befindet der Komponist Raimund Ritz, der die Musik noch gut im Ohr hat. „Ich habe mir mal die Partitur besorgt: Am Anfang kommt eine halbe Note, dann eine punktierte Viertel, dann ein Achtel. Das ist eine Beschleunigung. Es ist eine unglaublich sportliche Fanfare, die jede sportliche Bewegung eigentlich aufnimmt.“
Raimund Ritz und der bildende Künstler Johannes Brunner bilden seit über 30 Jahren das Künstlerduo Brunner und Ritz. Im vergangenen Winter zeigte das Museum Ulm eine Ausstellung der beiden mit dem Titel „Kunst turnen“.
„Die Entscheidung lag in der Hinsicht nahe“, erklärt Johannes Brunner, „weil wir eine dauerhafte Arbeit für dieses Museum gemacht haben, die diesen Titel trägt und in ihrer Mehrdeutigkeit natürlich wunderbar einen ganz wesentlichen Aspekt unserer Arbeit abbildet: dass wir in den meisten Arbeiten – vor allem denen im öffentlichen Raum – das Publikum, die Besucher einbeziehen, also einen Anteil an interaktivem Mitmachen anbieten. Und ‚Kunst turnen‘ ist eine Ringe-Installation. Das sind 40 Ringpaare in unterschiedlichen Größen, die den ganzen Raum füllen. Und die, die man erreicht, die kann man auch benutzen. Da kann man sich dranhängen und in diesem Ausstellungsraum Teil dieser Installation werden, indem man sie bespielt, schaukelt, Übungen macht, sich also körperlich in so ein Kunstwerk einbringt.“
Bewegung erzeugt Klang
Sportbezogene Kunst lässt also nicht nur Schauspieler oder Musikerinnen – oder eben die Künstler selbst – an ihre physischen Grenzen stoßen, sondern aktiviert auch das Publikum. Während man beim Besuch konventioneller Konzerte, Theateraufführungen oder Museen stumm und möglichst regungslos, also passiv am Geschehen teilnimmt, darf man in den Arbeiten des Künstlerduos Brunner und Ritz auch mal Treppen besteigen oder auf gigantischen Rutschen rutschen.
Der Leipziger Klangkünstler Erwin Stache setzt ebenfalls auf Bewegung des Publikums und benutzt dafür immer wieder auch Geräte, Bewegungsabläufe und Bilder aus dem Sport. Bei seinem „Musiktrainer“ zum Beispiel handelt es sich um einen präparierten Heimtrainer, an den ein elektronisches Wiedergabegerät und ein Lautsprecher angeschlossen sind: zu hören ist Musik, deren Geschwindigkeit und Abspielrichtung man durch die Betätigung der Pedale manipulieren kann.
Singende Boxsäcke und klingende Trampoline
Stache hat auch singende Boxsäcke und klingende Trampoline entworfen und lässt in seinem interaktiven Stück mit dem Titel „Ball schön flach oben rein“ ein Fußballspiel austragen, bei dem alle Spieler einen vom Künstler eigens entwickelten Klangrucksack auf den Rücken schnallen. Dieses Gerät kann Sounds produzieren, die von den Körperbewegungen der Spieler abhängig sind und auf diese Weise einen Soundtrack für das jeweilige Fußballspiel erzeugen.
Es gibt sie, die „athletisch Begabten“ und Sportbegeisterten unter den Künstlern und die kreativen Hobbykünstler unter den Sportlern.
Im Jahr 1983 trafen sich in einem elektronischen Studio in Den Haag zwei Komponisten, um eine Partie Tischtennis zu spielen. Der niederländische Performance- und Installationskünstler Dick Raaijmakers war ebenfalls anwesend und zeichnete den Spielverlauf mit zwei Tonbandgeräten auf.
Das flüchtige Tischtennisspiel wurde auf diese Weise medientechnisch für die Ewigkeit festgehalten und Raaijmakers entwarf aus dem Material ein stereophones Radiostück mit dem naheliegenden Titel "Ping-Pong". Beim Hören von "Ping-Pong", für das sich der Gebrauch von Kopfhörern empfiehlt, nimmt man eine Position ein, die in etwa der des Netzes entspricht.
Was man anfangs - auch ohne Kenntnis der Geschichte – sofort als Klang einer Tischtennispartie identifiziert, wird nach und nach künstlerisch verfremdet: Die „Pings“ und „Pongs“, so beschreibt es Dick Raaijmakers, bewegen sich aufeinander zu und überlappen sich bald. Wer beim Hören versucht, sich die räumliche Situation des Tischtennisspiels vor dem inneren Auge vorzustellen, wird in surrealen Sphären landen.