Sport in Pandemiezeiten

Jugend ohne Bewegung

23:11 Minuten
Schulkinder der Vorstadt-Grundschule Strausberg nehmen an dem Projekt "Sport ohne Akkord" vom Kreissportbund Märkisch-Oderland e.V. teil.
Oft blieben junge Menschen in der Coronazeit ohne Sport und isoliert (hier eine Aufnahme aus der Zeit vor der Pandemie 2018). © dpa / picture alliance / Patrick Pleul
Von Knut Benzner |
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Sport hilft, abwehrstark und fit zu bleiben. Vor allem junge Menschen brauchen auch den sozialen Ausgleich. Damit Kinder und Jugendliche wieder zurück zur Normalität finden, hat die Bundesregierung ein milliardenschweres Aktionsprogramm aufgelegt.
"Mein Name ist Erin Gerlach, ich bin seit kurzem Professor für Sport und Bewegungspädagogik an der Uni Hamburg. Ich war lange Zeit Professor für Sportdidaktik an der Universität Potsdam, Schwerpunkt Empirische- und Bildungsforschung."
Erin Gerlach ist 52 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder – 17 und 19 Jahre alt: „Da bin ich sehr froh, dass die sehr selbständig  durch die Coronakrise gekommen sind."
Bleiben wir für einige Momente an den Schulen: Der damalige Klassenlehrer meines Sohnes begriff während des ersten Lockdowns den Online-Unterricht als die Chance. In Ermangelung der offiziellen Angebote der Schulbehörde Hamburg bastelte er sich eine eigene Webseite und deckte seine Schülerinnen und Schüler mit Aufgaben und Angaben ein.

Ein Drittel der Sport-Schüler im Lockdown nicht erreichbar

Doch zugleich beklagte er , dass mindestens 30 Prozent der 11- bis 13-Jährigen mangels Computer nicht erreichbar waren. Und wenn, dann hatten sie keine Computer-Kamera und so weiter. Stadtteilschule, könnte man spöttisch anmerken, ein fast einmaliges Gebilde deutscher Schulpolitik.
Auch bei meiner Tochter am Gymnasium: Dort war es zwar ein wenig besser organisiert. Aber selbst da war die Aussage: ein Drittel unerreichbar, ein Drittel nur halb da.
Beide Schulen befinden sich in einem Viertel, deren Bewohnerinnen und Bewohner bei Bürger- wie Bundestagswahlen die Farbe Grün bevorzugen - was, am Rande bemerkt, vor einigen Jahren die gescheiterte Bewerbung Hamburgs für die Olympischen Spiele 2024 zur Folge hatte.

Sport lebt vom Handeln

Aber der Sport lebt vom Handeln, wie der Sportwissenschaftler Erin Gerlach betont.
"Wir tun dort etwas. Wir bewegen uns. Wir denken auch darüber nach und handeln es aus. Aber es findet immer im sozialen Kontext statt. Wenn wir den sozialen Kontext wegbrechen sehen, dann gibt es viele Dinge, die wegfallen. Das gilt aber nicht nur für Sport, sondern auch für Kunst und Musik oder für das Treffen mit Freunden. Das bricht alles weg. Zumindest zu diesem Zeitpunkt waren die Sportlehrerinnen und Sportlehrer noch nicht vorbereitet, daraus etwas zu machen."
Niemand war vorbereitet. Weder die Sportlehrerinnen und Sportlehrer noch die Übungsleiterinnen und Übungsleiter im organisierten Sport, deren Teil ihres Lebens zudem der Sport ist.
Sportwissenschaftler Erin Gerlach
Sportwissenschaftler Erin Gerlach.© privat
Was passiert, wenn Kinder und Jugendliche ohne körperliche, ohne sportliche Betätigung aufwachsen beziehungsweise aufwachsen müssen? Wobei einschränkend gesagt werden sollte, dass nicht jedes Kind, nicht jeder Jugendliche sportlich aktiv war oder ist.
"Man muss unterscheiden in kurz-, mittel- und langfristige Effekte", sagt Gerlach. "Kurzfristig ist es so, dass Kinder auf einmal ein bisschen Freizeit haben und dann möglicherweise auch nicht mehr wissen, was sie mit ihrer Freizeit anfangen sollen, weil auf einmal Leerstellen da sind."

Psychische und soziale Benachteiligung

Der mittelfristige Aspekt: Weniger draußen, weniger Treffen mit Freundinnen und Freunden, womit eine psychische sowie soziale Benachteiligung auftauchen kann.
Welche langfristigen Folgen das hat, ist unklar, erklärt Gerlach.
"Das können wir erst in ein paar Jahren sehen. Es steht aber zu vermuten, dass wir viele Kinder und Jugendliche in einer bestimmten Phase, in der sie vielleicht einen Zugang zum Sport hätten gewinnen können, verloren haben. Da hat sich ein Fenster geschlossen. Aber so richtig wissen wir das nicht. Das kann man erst in ein paar Jahren sagen."
Was passierte in dieser Zeit? Vereinsamung? Hospitalisierung?

Gewichtszunahme bei den Kindern

Professorin Christine Joisten ist Ärztin an der Deutschen Sporthochschule Köln, 55 Jahre alt und hat vier Kinder ab 20. Sie ist dankbar dafür, dass ihre Töchter bereits studieren. Im Lockdown empfand sie sich daher als durchaus privilegiert.
Joistens Forschungsschwerpunkt: Übergewicht, Adipositas und Bewegungsmangel im Kindes- und Jugendalter. Sie berichtet von Umfrangen von Robert Koch-Institut im Rahmen des Motorik-Moduls.
"Ungefähr ein Drittel der Kinder hat gesagt, dass sie tatsächlich zugenommen haben, und immerhin 15, 16 Prozent, dass sie abgenommen haben. International sieht man tatsächlich an gemessenen Daten, dass die Kinder je nach Altersgruppe ungefähr ein bis zwei Kilo zugenommen haben – die Jüngeren mehr, die Älteren nur ein gutes Kilo."
Bei Kindern in sozialen Brennpunkten sei der Body-Mass-Index, der das Verhältnis zwischen Körpergröße und Gewicht bezeichnet, um einen Punkt je Pandemiejahr gestiegen.
Kindern gehe es so wie ihren Eltern: Alltagsstruktur, Sicherheit, Lebensqualität – nichts anderes sagte die "COPSY"-Studie des Universitätsklinikums Eppendorf Anfang 2021. "COPSY", das steht für "Corona und Psyche".
Nicht ohne Grund legte die neue Bundesregierung 2021/22 ein Zwei-Milliarden-Programm auf, um Lernrückstände abzubauen und frühkindliche Bildung zu fördern – für Freizeit-, Ferien- und Sportaktivitäten.

Mitgliederschwund beim Deutschen Olympischen Sportbund

Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) möchte möglichst viele Angebote aufrechterhalten und den Wiedereinstieg befördern, zumal es bei den Null- bis Sechs-Jährigen und den Sieben- bis 14-Jährigen einen erheblichen Mitgliedermangel gibt. Es geht grundsätzlich um Mitgliedergewinnung und deren Bindung.
Vor Corona erwartete der DOSB einen Mitgliederrückgang von zehn Prozent. Tatsächlich betrug dieser für das Jahr 2020 nur drei Prozent. Die Zahlen für 2021 liegen dem DOSB noch nicht vor.
Diese drei Prozent beziehen sich auf 27 Millionen Mitglieder. Acht bis neun Millionen davon sind Jugendliche, inklusive der sogenannten Doppelmitgliedschaften. Extreme Unterschiede ergaben sich zwischen kleinen und großen Vereinen: Bei den Großen mit über 2500 Mitgliedern lag der Schwund bei sechs bis acht Prozent – teilweise noch höher, sagt der Freiburger Kreis, der Zusammenschluss großer Sportvereine.
War die Vereinstreue bei Kleinvereinen beträchtlich, war sie bei Großvereinen durchlässig, durchlöchert und instabil. Dabei geht es ausdrücklich nicht um Vereine wie Borussia Dortmund oder Bayern München mit ihren schlafenden Mitgliedern und Karteileichen, sondern um Vereine wie den TSC Eintracht Dortmund oder den MTV München.
Der Mitgliederschwund sei, so auch Christine Joisten, eben nicht nur deshalb entstanden, weil es überproportional viele Austritte gegeben habe, sondern auch deshalb, weil es keine Angebote geben konnte.

Kontakte wurden auseinandergerissen

Professor Jens Kleinert, 57, hat zwei Kinder (23 und 24 Jahre) und ist ebenfalls an der Deutschen Sporthochschule Köln tätig. Er ist Sportwissenschaftler und Mediziner, Schwerpunkt Gesundheit und Sozialpsychologie.

Letztlich ist es so, dass in dieser Zeit viele Kontakte auseinandergerissen wurden, die gerade in den Vereinen und im Vereinsleben geknüpft werden. Letztendlich ist das ein soziales Defizit, das Kinder und Jugendliche in dieser Phase erlebt haben, darunter auch meine Töchter.

Jens Kleinert, Sportwissenschaftler

Das Vereinsleben, so Kleinert, fange recht früh an. Ein Beispiel: das Babyschwimmen – oder Mutter- oder Vater-und-Kind-Turnen. Somit hat jede Altersgruppe Nachteile hinnehmen müssen, ohne Gewichtung, da jedes Sich-Bewegen in jeder Entwicklungsstufe ein wesentliches Merkmal ist.

Entwicklungsnachteile von Kindern

Zudem, so Kleinert, sei Sport in jeder Hinsicht Kompensation. Die bekamen einige angeboten, andere nicht. Sein Verweis auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, den sozial Benachteiligten oder den Bildungsfernen, ist definitiv.
"Es ist zu erwarten, dass Entwicklungsnachteile entstehen und dass die Schere zwischen den benachteiligten Gruppen und den eher bildungsstärkeren Gruppen noch größer wird. Wir reden ja nicht nur über Entwicklung, Selbstwert und die psychosoziale Entwicklung der Kinder, sondern wir reden auch darüber, dass Sport eine wichtige Stressausgleichsfunktion hat. Manche sagen, dass die Defizite der letzten ein bis zwei Jahre, was die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen angeht, kaum wieder aufzuholen sind."
Das gelte, fügt er an, für den kognitiven Bereich, den Bereich der schulischen Entwicklung, aber auch im Bereich der körperlichen Entwicklung. Gleichzeitig hat Kleinert die Hoffnung, dass all das in bestimmten Teilen aufgefangen wird.

An die frische Luft, raus!

Zurück zu Sportwissenschafter Erin Gerlach – mit einem letzten Statement:
"Man kann aus unserer Perspektive in allen Lockdown-Szenarien Kindern immer wieder eines sagen: Geht raus! Erstens weiß man, dass man mit Rausgehen Ressourcen aufbaut. Und wir haben gesehen, dass Fitte weniger an Covid erkranken. Bei Kindern ist das ohnehin gering, aber auch bei Erwachsenen ist das ein Thema. Zweitens, wissen wir inzwischen, dass die Ansteckungsgefahr draußen extrem gering ist. Deshalb kann man in allen Kontexten von Schule und Verein sagen: Geht raus, macht Sport draußen, seid körperlich aktiv! Erobert Euch die Stadt wieder mit euren Bewegungsräumen! Das ist die Aufgabe für Corona und für alles, was da noch kommen mag."

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