Eine Sporthalle am Gymnasium Fridericianum in Schwerin. Als ich noch zur Schule ging, hieß eine Sporthalle noch Turnhalle.
Jeder hat Schulsporterfahrungen
Zwei meiner Kinder gingen an dieses Gymnasium in Schwerin. Mein unsportlicher Sohn kam sich in den Sportstunden oft gedemütigt vor, weil er sich zu ungeschickt anstellte und vieles nicht konnte. Er wurde Wissenschaftler und treibt bis heute keinen Sport.
Meine bis heute supersportliche Tochter dagegen meint, sie habe diese Demütigung in Mathe erfahren, durch so etwas müsse man halt durch.
Mein zweiter Sohn, dem weniger der Schulsport, jedoch der Sport im Verein Spaß machte, hat seine Lieblingssportart zum Beruf gemacht - er arbeitet als Kitesurflehrer. Schulsport, dreimal ganz unterschiedlich verarbeitet.
Ein Schulfach, dass noch lange im Leben nachzuwirken scheint und das oft emotionsgeladen ist. Ausnahmslos jeder hat seine Erfahrungen mit Schulsport gemacht, jeder hat eine Beziehung dazu: Auf der Skala von großer Leidenschaft über „muss ja sein“ bis zum Hass.
Anne Gerstmann: "Es ist Leistungsdruck. Wenn man nicht von Natur aus sportlich ist, hat man sowieso verloren. Es geht wirklich nur darum: Kannst du superschnell rennen, kannst du gut schmeißen, kannst du weit- oder hochhüpfen? Dann bist du super, dann kriegst du Einsen, dann bist du der Held und wirst von deinen Lehrern gefeiert, kannst irgendwo hingehen und Wettbewerbe mitmachen."
Erfahrungen im Schulsport polarisieren
Helene Teile: "Sportunterricht ist mein Lieblingsfach. Dadurch würde ich behaupten, dass ich auch in der Kindheit zu den eher leistungsstärkeren Schülerinnen gehört habe - und deswegen mehr positive Erfahrungen als vielleicht der Durchschnitt gemacht habe. Weil ich vieles ganz gut absolvieren konnte und mir der Sportunterricht durchweg Spaß gemacht hat."
Anne Gerstmann: "Wenn man dann solche Sachen hat wie Völkerball: Das ist Krieg. Also Völkerball ist wirklich, wenn du ganz unten in der Klasse bist und sowieso schon der Außenseiter bist und gemobbt wirst - du kriegst den Ball wirklich hart geballert."
Zwei junge Frauen Mitte 20: Anne Gerstmann und Helene Teile. Man braucht nicht lange zu raten, wer von den beiden sich dazu entschieden hat, Sportlehrerin zu werden. Die Erfahrungen polarisieren.
Völkerball im Sportunterricht ist umstritten - hier schauen Kinder bei dem Spiel in einer Turnhalle zu. © Imago / Frank Sorge
Schulsport mit Auswirklungen aufs Leben
Aus einer Umfrage des Online-Reportermagazins „Krautreporter“, an der sich mehr als 5000 Menschen beteiligten, ging hervor: 80 Prozent derer, die Schulsport als belastend und in vielen Situationen sogar als beschämend und demütigend empfanden, haben auch später in ihrem Leben keine Freude an Sport und Bewegung.
Das heißt auch: Sie leben nicht so gesund, wie sie sollten. Kann sich eine Gesellschaft das leisten? Wie ist es um den Schulsport heute bestellt? Ist immer noch „schneller, höher, weiter“ das Maß aller Dinge? Zurück in die Sporthalle des Schweriner Gymnasiums Fridericianum.
Die Zwölftklässler haben heute die vorletzte Schulsportstunde ihrer Lebens. Im Tischtenniskurs stehen noch Leistungskontrollen an.
Olaf Peters, ein drahtiger Mittfünfziger, ist seit mehr als 30 Jahren Sportlehrer. Er wundert sich, dass heute so wenig Schüler da sind, dabei wäre doch heute noch Gelegenheit, seine Leistungen zu verbessern! Einige haben auch noch versäumte Tests im Laufen und Springen nachzuholen. Drei Noten braucht jeder in dem Kurs.
Hier werden Erinnerungen an die eigene Schulzeit wach.
Und dennoch ist vieles anders. Zum Beispiel das Kurssystem: Ab der elften Klasse kann man heutzutage Sportarten wählen, wobei man vier verschiedene Kurse belegen muss - da ist die Auswahl dann doch nicht mehr sehr groß.
Welchen Stellenwert haben die Klassiker?
„Das ist Badminton, Stepaerobic, Geräteturnen, Volleyball, Basketball, Tischtennis.“
Dazukommen noch ein Schwimm- und ein Leichtathletikkurs. Zumindest die Hälfte dieser Sportarten haben die Jugendlichen bisher noch nicht im Unterricht gehabt. Ballspiele, Geräteturnen und Leichtatlethik stehen jedoch für alle bis zur zehnten Klasse auf dem Lehrplan. Bock und Stufenbarren, Reck und Pferd, Laufen, Springen, Werfen, Stoßen, Liegestütze und Klimmzüge, Hangeln und Klettern - welchen Stellenwert haben die Klassiker aus 150 Jahren Schulsport heute noch?
"Bei uns hier, wir reden von Mecklenburg-Vorpommern, hat das einen sehr hohen Stellenwert. Das ist sozusagen das traditionelle Gerüst, das besteht. Was aber so ein bisschen aufgepeppt, aufgefrischt wird durch moderne Sportarten wie Stepaerobic oder Badminton - dann natürlich im Kurssystem."
Oft fehlt Platz in den Sporthallen
Aufgepeppt und aufgefrischt wird erst in der Abiturstufe, wenn das Kurssystem beginnt. Bis zur zehnten Klasse werden die herkömmlichen Sportarten geübt - oft eingeschränkt von schwierigen Rahmenbedingungen: zu wenig Lehrkräfte, zu wenig Platz in den Sporthallen.
Wegen Platzmangels ist zum Beispiel in der Halle des Schweriner Gymnasiums Fridericianum kein Handball möglich, denn die Halle ist dreifach belegt und nur durch Trennwände dreigeteilt. Während sich im vorderen Teil gerade die Zwölftklässler an den Tischtennisplatten einspielen, laufen nebenan Steoaerobic und Badminton.
Sportunterricht als Allgemeinbildung
Sportunterricht, der auch schon in den unteren Klassen mehr die Interessen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt und nicht von allen die gleichen Normen verlangt - das wäre für Sportlehrer Olaf Peters keine Alternative.
Ich sehe es ein bisschen anders, weil Sport bis Klasse zehn - da reden wir immer von Allgemeinbildung. Und allgemein bedeutet für mich, dass ich mich mit Dingen auseinandersetzen muss im Sinne der Allgemeinbildung. Mit dem Risiko, dass ich dabei Dinge erlebe, wo ich merke: Das liegt mir gar nicht. Das ist aber kein Sportphänomen, sondern eine schulische Realität. Wenn ich Sport als gleichwertiges Fach betrachte, kann ich auch die Gegenfrage stellen: In Mathe und Chemie gibt es auch Vieren und Fünfen, weil Schüler das nicht können.
Sportlehrer Olaf Peters
Ist es wirklich dasselbe, ob man in Mathe eine Fünf bekommt oder im Sport? Clara vom Gymnasium Fridericianum hat da ihre Zweifel.
"Es ist einfach nicht schön, die Schlechteste zu sein. Und im Sport merkt das halt jeder. Wenn du sonst eine Note bekommst, kannst du den Test zudecken und in deine Tasche stecken. Wenn ich hier Tischtennis spiele, Basketball oder Volleyball, dann sieht jeder, dass ich nichts kann. Das kann man nicht verstecken! Es macht niemand einen doofen Kommentar, trotzdem schämt man sich.“
Unterricht ist an klassichen Sportarten orientiert
Sport geht tiefer als Mathe. Da steht nicht nur das Können infrage, sondern gleich die ganze Persönlichkeit, findet die zierliche 18-jährige Clara.
„Ja, es hat etwas mit Fitness zu tun. Ist ja klar, das ist in unserer Gesellschaft so, dass das einfach so eine Ästhetik ist, die damit verbunden wird: Dass man dann eine gute Person ist. Das wird daran gemessen und man fühlt sich irgendwie schlecht, weil man denkt: Ich kann das jetzt nicht. Vor allem durch die Medien merkt man ja, viele Leute sind supersportlich und man denkt sich: Wieso können die das einfach so und man selber steht da und kriegt das einfach nicht hin? Das ist deprimierend.“
Antje Klinge von der Ruhr-Universität Bochum ist Professorin für Sportdidaktik und bildet Lehrerinnen und Lehrer aus. Ihre Kritik ist fundamental: Der Unterricht sei nach wie vor zu sehr an klassischen Sportarten orientiert, weniger daran, Kindern und Jugendlichen Freude an Bewegung zu vermitteln.
Wenn ich mir die Geschichte des Schulsports angucke - ich bin jetzt seit über 40 Jahren in diesem Feld tätig - hat sich eigentlich die Welt sehr entwickelt in dieser Zeit und auch die gesellschaftlichen Verhältnisse hier bei uns. Aber der Sportunterricht ist vom Prinzip her genau das, was er auch seit der Nachkriegszeit ist. Da hat sich nicht viel verändert. Von daher kann man sagen: Das ist nicht zeitgemäß. Es gibt so viele neue Bewegungsszenen, die von Jugendlichen entwickelt werden, die finden in die Schule kaum Eingang. Das könnte und sollte man öffnen: Was sind eigentlich die Bewegungsfelder der Jugendlichen heute, dass man da auch den Blick aufmacht.
Antje Klinge, Professorin für Sportdidaktik
Clara: „Ich hätte mich voll gefreut, wenn es Tanzen gäbe. Ich habe auch früher getanzt, und wenn man das länger macht und besser lernt - mir macht das total Spaß. Man gewinnt so ein Körpergefühl. Das kann auch Selbstbewusstsein schaffen, wenn man nicht so darüber nachdenkt wie man jetzt gerade aussieht. Und da vielleicht eher sowas wie Kreativität bewertet wird und dass man sich Choreographien ausdenken muss. Das ist dann nicht etas, wovor man Bauchschmerzen hat, sondern etwas, worauf man sich freut.“
Wie könnte der Unterricht modernisiert werden?
Sicher, vielen Wünschen stehen die technische und personelle Ausstattung der Schulen entgegen. Aber man kann auch zur Erwärmung nach Musik tanzen, statt Runden zu laufen. Alte Spiele wiederbeleben wie Gummitwist und Stelzenlauf, um die Motorik zu schulen. Ein neues Spiel mit Frisbees ausprobieren - darin ist dann noch keiner ein Meister und alle lernen gemeinsam.
Antje Klinge von der Ruhr-Universität Bochum plädiert für einen zeitgemäßen Sportunterricht.© Ruhr-Universität Bochum
Antje Klinge: "Mein Verständnis ist auch, dass wir nicht nur vom Sport und dem, was es gibt, denken, sondern vom Körper aus. Das ist ja unsere Basis. Also die Möglichkeiten, die ich mit dem Körper habe, mich zu bewegen, mich auch zu zeigen, mich auch trauen zu zeigen. Vor allem mich in meiner Körperlichkeit annehmen - was heute ein Riesenthema ist angesichts der starken Körperkulturen die es gibt, der Instagramisierung aktueller Körperbilder. Also sich in seinem Körper wohlfühlen, ist für mich auch ein wichtiges Ziel. "
Lehrpläne können kreativ ausgelegt werden
Es geht auch cool - meint Anette Teile, Sportlehrerin aus Schwerin. Sie hat Erfahrungen an verschiedenen Schulen gesammelt, auch an einer Schule für Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die Mittfünfzigerin hat sich zur Yoga-Lehrerin weitergebildet und baut auch Yoga und Entspannungsübungen mit in den Unterricht ein. Sie plädiert dafür, Lehrpläne kreativ auszulegen - denn es gibt verschiedene Wege, ein Ziel zu erreichen.
"Diesen Spielraum hat man. Ich bin eher ein Verfechter davon, dass in den Sportunterricht nicht nur wie früher die klassischen Geräte gehören wie Bock, Reck, Stufenbarren oder Pferd. Sondern dass man einen Kreis von Möglichkeiten hat, von vielen, vielen Geräten, die dann überwunden werden müssen. So wie Hindernislandschaften. Und jeder Schüler die Möglichkeit hat, weil mehrere Angebote nebeneinander bestehen, zu wählen: Nehme ich den schwereren Weg mit den höchsten Abständen, der mich gerade so herausfordert - oder nehme ich einen leichteren Weg?“
Sport für die Persönlichkeitsentwicklung
Nicht nur die Erziehung zum Sport steht in bundesdeutschen Lehrplänen - also: Wie erlerne ich verschiedene Bewegungsarten, sondern auch die Erziehung durch den Sport, also die Persönlichkeitsentwicklung.
Die Sportpädagogik-Professorin Antje Klinge.
"Dieser sogenannte Doppelauftrag ist überall verankert, aber in der Schule findet in der Regel nur der eine Auftrag statt, nämlich Erschließung der Bewegungskultur. Und die Persönlichkeitsentwicklung läuft so mit. Aber nicht unbedingt für alle. Das ist ein großes Problem - gerade, weil sich die Schülerschaft heute sehr divers darstellt. Es ist eine große Vielfalt - und die aufzugreifen wäre ein wichtiges Ziel und eine Notwendigkeit auch, die zeitgemäß ist und zukunftsfähig."
Wie kann Sportunterricht für alle motivierend gestaltet werden, egal, welche Voraussetzungen man mitbringt?
Für Xaver, den groß gewachsenen Abiturienten vom Fridericianum in Schwerin, der sehr gut ist in diesem Fach, hat das vor allem etwas mit der Benotung zu tun.
"Ich hatte sehr viel Spaß. Aber mir ist das mit den Noten negativ nachgeblieben. Ich habe immer ganz große Probleme gehabt mit den Noten, mit der Bewertung - dass die immer nur auf die Jahre war, also aufs Alter und nicht auf körperliche Eigenschaften wie Größe. Ist ja beim Sprung extrem wichtig. Mein bester Freund, der ist ein bisschen klein und bisschen dicklicher, hat immer viel Probleme mit Springen. Was natürlich schade ist, weil er sich trotzdem sehr anstrengt und übt. Aber er kann physisch nicht so springen. Das ist schade, wenn solche Sachen die Noten ruinieren."
Lehrpläne gehen kaum auf Notengebung ein
Noten für Engagement, Mitarbeit und Bemühen wären eine gute Alternative zum Bewerten nach dem Schneller-Höher-Weiter-Maßstab, meint auch Antje Klinge.
"Da steht wenig in den Lehrplänen, wie die Notengebung erfolgen soll. Aber es steht deutlich darin, dass die sportmotorische Bewegungsfähigkeit und -fertigkeit maximal 50 Prozent der Note ausmachen darf. Weil auch so etwas wie Sozialkompetenz und eigene Entwicklung Teil der Note ist und Teil der Note sein sollte."
Die Realität sieht an den meisten Schulen anders aus. Denn eine Einschätzung der Entwicklung von Schülerinnen und Schülern jenseits von Metern und Zeiten ist komplex und zeitintensiv, gibt Sportlehrer Olaf Peters zu bedenken.
"Dafür ist, um die Frage ehrlich zu beantworten, nicht immer Zeit. Weil das natürlich auch steht und fällt mit Klassengrößen, mit der Zusammensetzung einer Klasse. Es ist schon ein Unterschied, ob ich zehn Schüler habe, die in gleicher Art und Weise betroffen sind, dann wird es umso schwerer, das umzusetzen. Wenn es mal einer oder zwei sind, kann man das machen. Aber ehrlicherweise muss man sagen, die Realität bietet zwar Möglichkeiten, setzt aber auch Grenzen."