Ein Land ohne Medaillen
Indien hat kaum sportliche Erfolge vorzuweisen - sehr zur Kränkung der Nation. Schuld an diesem Debakel ist die Armut im Land - und dass Sport kaum gefördert wird. Doch neue Sport-Stars und ein beliebter Volkssport geben dem Land Grund zur Hoffnung.
Milkha Singh im 400-Meter-Finale. Olympische Spiele 1960 in Rom. Der Mann mit dem Turban ist der erste Inder, der auf dieser Strecke zu den Gold-Favoriten gehört. Am Ende geht Milkha Singh die Luft aus, er hat sich das Rennen nicht richtig eingeteilt, nur um eine Zehntel-Sekunde verpasst der indische Favorit die Bronze-Medaille.
Auch fast 60 Jahre danach, hat Milkha Singh diesen Moment noch schmerzlich vor Augen: "Die ganze Welt wusste, dass dieses 400-Meter-Rennen von diesem einzigartigen Inder gewonnen werden müsste. Ich hatte so großes Pech, ich habe einen einzigen Fehler gemacht. Und das war dann auch Indiens Unglück, wir haben verloren. Das werde ich nie vergessen können, bis an mein Lebensende."
Hohe Ausdauer dank heißem Sand
"Der fliegende Sikh", so hat ihn die Presse damals genannt und mit diesem Namen wurde Milkha Singh tatsächlich weltberühmt. Denn der 400-Meter-Läufer war nicht nur schnell wie ein Pfeil, er gehört auch zu der indischen Religionsgemeinschaft der Sikhs, die sich ihre Haare nicht schneiden und sie mit einem Turban umschlingen:
"Als ich in Deutschland gelaufen bin, kamen die Menschen alle auf mich zu, sie dachten, ich sei ein Heiliger. Die hatten noch nie einen Mann mit Turban gesehen. Sie wollten alle ein Foto mit mir machen."
Milkha Singh empfängt in seinem herrschaftlichen Wohnzimmer, noch immer – heute ist er fast 90 Jahre alt – thront ein roter Turban auf seinem Kopf. In Indien ist der Athlet eine Legende, er taucht in Schulbüchern auf und vor wenigen Jahren kam ein Bollywood-Film über sein Leben in die Kinos. Die Geschichte eines Dorfjungen, der sich nach oben gekämpft hat. Milkha Singhs Eltern waren bei den blutigen Auseinandersetzungen kurz nach der Unabhängigkeit Indiens vor seinen Augen ermordet worden. Der Waisenjunge Milkha musste schon von klein auf lernen, auf eigenen Füßen zu stehen:
"Mit meinem Freund habe ich die Sandhügel überquert, barfuß, 10 Kilometer hin zur Schule und 10 Kilometer wieder zurück. In den Sommermonaten wird der Sand furchtbar heiß bei uns in Nordindien, also sind wir immer bis zum nächsten Grasbüschel gerannt, da haben wir unsere Füße kurz abgekühlt, um dann schnell weiter zu laufen. Da habe ich meine Ausdauer her."
77 von 80 Rennen hat Singh gewonnen
Bis zu seiner Leichtathletik-Karriere war es ein weiter Weg. Milkha Singhs Lauftalent ist erst bei seiner Zeit in der Armee entdeckt worden. 77 von 80 Rennen hat der "fliegende Sikh" in seinem Leben gewonnen. Und ausgerechnet bei den Olympischen Spielen hat er seine große Chance verpasst. Kein einziger Inder hat seit der Unabhängigkeit des Landes eine olympische Medaille in einer leichtathletischen Disziplin gewinnen können. Dabei sieht sich Milkha Singh nicht als Ausnahmetalent:
"Es gibt auch heute viele Leute wie mich in den indischen Dörfern, genügend Talente und wenn wir die fördern, dann ist nur der Himmel unser Limit. Die Kinder von den Dörfern können viel eher harte Arbeit leisten als die aus den Städten."
Indien feiert einen neuen Laufstar
Und in ein genau solches Talent setzen die Inder zurzeit tatsächlich ihre ganze Hoffnung. Ausgerechnet in der Parade-Disziplin von Milkha Singh scheint Jahrzehnte später ein möglicher neuer Leichtathletik-Star heran zu wachsen: Hima Das.
Gold bei der U-20-Weltmeisterschaft 2018 in Finnland über 400 Meter. Zum ersten Mal in Indiens Geschichte gibt es nun eine Weltmeisterin in der Leichtathletik – allerdings als Juniorin.
Die Inder aber feiern Hima schon jetzt als Superstar, allen voran ihre Familie und die Bewohner aus Dhing. Ein kleines Dorf im Nordosten von Indien. Ortsschilder gibt es keine. Kilometerweit erstrecken sich die Reisfelder durch den Bundesstaat Assam, aber verpassen kann man das Haus von Hima Das' Familie nicht mehr. Kurz vor ihrem Heimatort tauchen am Straßenrand große Plakate auf, aufgespannt zwischen Bambusstöcken: Hima Das reißt mit beiden Händen strahlend die Indienflagge in die Höhe, um ihren Hals trägt sie einen traditionellen rot-weißen Schal aus dem Bundesstaat Assam.
"Nicht nur wir, der gesamte Bundesstaat Assam ist stolz auf unsere Tochter, Hima kommt aus diesem kleinen Dorf und macht die gesamte Nation stolz, wenn sie für ihr Land läuft. Für unsere Familie ist das ein unbeschreibliches Gefühl."
"Mädchen können das Gleiche tun, was auch Jungs machen"
Himas Mutter sitzt im Wohnzimmer, das einem Heiligen-Schrein gleicht. Überall hängen Urkunden, Medaillen, Pokale und Fotos ihrer Tochter. Jonali Das ist Hausfrau, hat ihre vier Kinder und auch die Nichten und Neffen groß gezogen. Himas Mutter lebt mit 16 Verwandten unter einem Dach. Ihr Mann ist Reisbauer, wie fast alle im Dorf. Noch nie hat es jemand aus Dingh zu so viel Ruhm gebracht, dabei ist Hima gerade einmal 18 Jahre alt. Ihre Tochter sei schon immer besonders gewesen:
"Sie hat mit ihren Brüdern und Freunden Fußball gespielt. Hima hat immer gesagt, Mädchen können genau das Gleiche tun, was auch Jungs machen."
Ihre Brüder und Cousins haben das damals ein wenig anders gesehen. Ein bisschen schmallippig erzählt ihr Cousin Joy, dass er Hima oft vom Feld geprügelt habe, weil die anderen Dorfbewohner schlecht über sie geredet hätten. Mädchen, die mit Jungs Fußball spielen, das wurde nicht gerne gesehen:
"Dabei hat sie richtig gut gespielt, vor allem, weil sie so schnell war. Sie war immer vorne und hat Tore geschossen, ist allen davon gerannt. Sie war viel schneller als wir, deshalb stand sie auch oft im Abseits."
Beim Barfuß-Fußball entdeckt
Heute können die Dorfjungen darüber lachen. Denn nur durch den Fußball ist Himas Talent überhaupt entdeckt worden. Barfuß haben die Dorfkinder auf der grünen Wiese gespielt, Flip-Flops waren die Torpfosten. In Himas Schule gibt es wie in fast allen staatlichen Schulen in Indien keinen Sportlehrer, also auch keinen Sportunterricht. Von Turnhallen oder Sportplätzen ganz zu schweigen.
Aber ab und zu finden Turniere statt. Die Regierung fördert ein Programm, bei dem Schülerinnen und Schüler von abgelegenen Dörfern zusammen kommen und gegeneinander antreten. Bei solch einem Turnier hat Hima Das im Fußballteam ihrer Schule mitgespielt, erzählt ihr Klassenlehrer Nirupam Hazarika:
"Die Leute vom Land wissen nicht, wofür Sport in ihrem Leben gut sein soll. Keiner glaubt, dass das eine Karriere sein kann. Bei Hima war das anders, sie hat als Mädchen viel mit Jungs gespielt, sie hat quasi die Regeln unserer Gesellschaft gebrochen, das mochten die Leute nicht. Erst jetzt, wo sie Erfolg hat, mögen die Leute sie."
Der Klassenlehrer hat nun einen Hima-Fan-Club gegründet, um auch andere Kinder zu motivieren, regelmäßig Sport zu treiben. Denn von der Regierung, sagt er, gebe es keinerlei Unterstützung:
"Erst musst du deinen eigenen Weg gehen, wenn du gut bist und entdeckt wirst, kommt Unterstützung von der Regierung. Das ist anders hier in Indien als bei euch in Deutschland. Wenn du besonders bist, musst du um alles selber kämpfen."
Die Trainer haben Hima gefördert
Bei dem Fußballturnier vor vier Jahren ist Hima wie immer vorne weg gelaufen. Ein Trainer war an diesem Tag dabei und hat entschieden, dass Hima gefördert werden sollte. Zum Trainieren musste die Jugendliche allerdings dann zu einer Sportstätte in der Hauptstadt des Bundesstaates Assam, hunderte Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernt. Das hätte sich Himas Familie niemals leisten können, die Reisernte ihres Vaters reichte gerade so, dass die Familie genug zu essen hatte. Hima habe in ihrer Kindheit nicht einmal Turnschuhe gehabt, erzählt ihr Vater, Ronjit Das:
"Die Regierung hat am Anfang überhaupt kein Geld gegeben. Es waren die Trainer, die ihr geholfen haben. Ehrlich gesagt, haben die alles am Anfang sogar aus ihrer eigenen Tasche bezahlt. Sie haben hart mit Hima gearbeitet, nun ist sie eine Athletin."
Kaum hatte sie die erste wichtige Medaille erlaufen, gab es prompt Unterstützung. Der Bundesstaat Assam hat Geld gegeben, nun ist sie Teil der nationalen Sportförderung. Seit zwei Jahren ist Hima Das kaum mehr in ihrem Dorf gewesen, sie trainiert fast nur noch im Ausland.
Die Politik will ihr Stück vom Glanz
Sobald Sportler Erfolg hätten, würden sich die Politiker auf sie stürzen, sagt der Sportjournalist Novy Kapadia. Zumal Himas Geschichte so wunderbar funktioniere – armes Bauernkind wird internationale Leichtathletik-Heldin:
"Sport und Politik, das ist bei uns so eine total oberflächliche fancy Kultur. Eine unserer besten Athletinnen musste ein halbes Jahr mit Ministern und sogar dem Premierminister verbringen, die wollten alle ihren Glamour abbekommen. Sechs Monate mit diesen nutzlosen Menschen, die den Athleten die Welt versprechen und am Ende nichts für sie tun."
Talente werden nur durch Zufall entdeckt
Seit Jahrzehnten kommentiert Novy Kapadia Fußballspiele und Sportturniere im Fernsehen und hat zahlreiche Bücher über den Sport in Indien veröffentlicht. All die Jahre haben ihn ziemlich verbittern lassen.
Dass seine Landsleute noch keine olympische Medaille in der Leichtathletik mit nach Hause gebracht haben, wundert ihn nicht. Die Entdeckung von Sporttalenten in Indien beruhe ausschließlich auf Zufall und Glück. Manchmal sei es gar eine Schicksalssekunde, wie bei der Speerwerferin Annu Rani.
"Sie hat zugeschaut, als ihr Bruder mit seinen Freunden in einem Dorf Cricket gespielt hat. Dann rollte der Ball vor ihre Füße, sie hat ihn aufgebhoben und bis in die Mitte des Spielfeldes zurück geworfen. Plötzlich hat der Bruder erkannt, da ist ein Mädchen, meine Schwester, die vom Spielfeldrand soweit werfen kann. Zufällig wohnte im Dorf nebenan noch ein ehemaliger Speerwerfer, der hat sie dann trainiert. Also, hätte sie mit ihren Freunden nicht da gestanden oder der Ball wäre nicht bei ihr gelandet, niemand hätte von ihrem Talent erfahren."
Ungünstige Trainingsbedingungen
Drei Mal ist Annu Rani dann indische Meisterin im Speerwurf geworden. International hat sie nie eine Medaille gewonnen. Wenn die Athleten mit den Fototerminen und Händeschütteln durch seien, hätten sie kaum Möglichkeiten, unter guten Bedingungen zu trainieren. Vor allem in der Vergangenheit sei das ein Desaster gewesen, sagt der Sportjournalist Novy. In Indien hätten die Athleten auf Sand trainiert, international mussten sie auf Tartan-Bahnen antreten und hätten sich dann natürlich gleich verletzt.
Dann habe sich niemand um sie gekümmert, um sie wieder aufzubauen. Bei den internationalen Turnieren seien die indischen Athleten komplett auf sich allein gestellt gewesen. Die meisten Sportverbände haben keinen besonders guten Ruf in Indien. Allen voran der indische Olympia-Verband. Der wurde vom Internationalen Olympischen Komitee sogar schon einmal suspendiert. Bei den Winterspielen 2014 in Sotschi durfte Indien nur unter neutraler Flagge antreten, eine Schmach.
Vom Sport- zum Spottminister
Noch während der Spiele wurde die Suspendierung dann zwar aufgehoben. Aber auch bei den Sommerspielen 2016 in Rio gab es wieder Ärger. Der indische Sportminister reiste ist mit einer Entourage an, die nicht akkreditiert war. Als seine Mitreisenden nicht in die Stadien hinein gelassen wurden, soll es ziemlich rüde Situationen mit dem dortigen Sicherheitspersonal gegeben haben. In den Sozialen Netzwerken haben sich die Inder damals heftig über das ruppige Verhalten aufgeregt. Ein User hatte geschrieben:
"Endlich hat Indien eine Medaille gewonnen bei den Spielen in Rio, die Medaille für irrsinniges Verhalten. Vielen Dank, Herr Sportminister."
Am Ende hat Indien dann doch auch sportliche Medaillen gewonnen. Genau zwei. 123 indische Athleten waren in 15 Sportarten angetreten, mehr als je zuvor. Zwei Frauen, immerhin eine Premiere, haben eine Silber- und eine Bronze-Medaille mit nach Hause gebracht. Der Minister für Jugend und Sport musste sein Amt aufgeben.
Der Neue ist ein ehemaliger Olympiateilnehmer. Der wisse nun endlich auch mal, was die indischen Sportler bräuchten, sagt Sudhanshu Mittal. Der Vizepräsident vom Indischen Olympia Verband will die Vergangenheit lieber hinter sich lassen. Dass die wenigen Medaillen für Indien ausschließlich mit dem Versagen der Politik zu tun hätten, will er aber nicht auf sich sitzen lassen:
"Das sind so Klischees über Politiker, das wird all den Errungenschaften für den Sport durch die Politik nicht gerecht. Politiker sind keine schmutzigen Leute. Ich denke eher, bei unseren Verbänden läuft es nicht gut, weil sie einfach kein Geld haben. Die Industriellen müssen da aushelfen, die geben kaum Geld für die kleinen Verbände. Die Sportverbände sollten sich möglichst selbst tragen können in Indien."
Bessere Rahmenbedingungen geplant
Dabei gleicht Mittal fast selbst einem Politiker-Klischee vom Sport-Verband: Dicker Bauch unter weißem Gewand. Gestriegelter Schnäuzer, auf seinem Schreibtisch liegt eine halbangerauchte Zigarre. Der Politiker gibt zu bedenken, dass Inder genetisch vielleicht nicht so sportlich seien wie Europäer, aber es gäbe genügend Ausnahmen im Land, und die gelte es zu fördern. Auch die Gesellschaft müsse den Sport als Leistung mehr anerkennen, da würden ja doch keine politischen Konzepte greifen.
Allerdings hat der neue Sportminister nun ein Programm ins Leben gerufen, mit dem ganz Indien kartographiert werden soll, um zu schauen, wo es lokal an welchen Sportstätten mangelt. Außerdem gibt es verschiedene Turniere, bei denen junge Talente entdeckt werden können, die dann mit Stipendien gefördert werden. Ein altes Konzept scheint aber immer noch Mittel der Wahl:
"Wenn es mehr Stars gibt, die den Sport groß machen, dann wird jedes Kind auch einen neuen Traum haben. Nach dem Motto: Wenn der das kann, warum nicht auch ich?"
Selbst der kritische Sportjournalist Novy Kapadia setzt große Hoffnungen in den neuen Sportminister und die aktuellen Programme. Alles besser, als das, was vorher da war, sagt er, aber er hat nach wie vor seine Zweifel:
"Das Problem in Indien ist: 95% der Menschen wissen nicht, was Sport ist, die kennen nur Glamour."
Massenphänomen Crickett...
Aber genau diese Kombination funktioniert bei einer Sportart geradezu perfekt in Indien: Beim Cricket! Das hat in Indien den gleichen Stellenwert wie der Profifußball in Deutschland. Hockey und Fußball waren hier jahrzehntelang genauso beliebt wie Cricket. Das änderte sich schlagartig vor genau 35 Jahren. Da hat Indien, völlig überraschend, die Cricket-Weltmeisterschaft gewonnen – ausgerechnet gegen die ehemaligen Kolonialherren aus England. Diesen riesigen Erfolg haben Millionen Inder damals live und in Farbe miterlebt:
"Das urbane Indien hat das Spiel im Farbfernsehen gesehen, das gerade erst nach Indien gekommen war. Cricket bekam Glamour, die Spieler wurden zu Superstars."
"Manchmal spielt auch das Schicksal eine große Rolle. Alles kam zusammen: Aus der geschlossenen Volkswirtschaft wurde eine soziale Marktwirtschaft und die brauchte ein Vorbild, um ihre Produkte zu vermarkten. Sachin Tendhulkar war der perfekte Junge aus der Mittelklasse, ein Saubermann und Superstar, eine hervorragende Ikone für alle Werbungen."
Sachin Tendhulkar. Alle Menschen auf dem gesamten Subkontinent kennen diesen Namen. In den 80er-Jahren hatten die Fans Plakate in den Händen, darauf stand: "Cricket ist unsere Religion, Sachin ist unser Gott". Geschäftsleute haben ein großes Potential gewittert und Cricket gefördert, noch bevor sich die Politik zu sehr einmischen konnte. Die Privatsender verlangten damals Geld, damit sie die Spiele live im Fernsehen zeigten. Heute ist das natürlich genau umgekehrt. Aber die Cricket-Föderation ist darauf eingegangen, Hockey und Fußball hatten sich diese Chance entgehen lassen.
... doch leider ist Crickett keine olympische Disziplin
Bis heute ist Cricket der beliebteste Sport in Indien: in jedem Dorf, in Slums, in sämtlichen Parks in den Megametropolen werfen und schlagen die Jungs die Bälle. Die Cricket-Stars verdienen mehr Geld als die Profi-Fußballer in der Bundesliga. Bislang aber war Cricket nur einmal olympisch, das war im Jahr 1900. Bei den olympischen Spielen können die Inder mit ihrem Favoritensport also auch keine Medaillen gewinnen.
Dabei sind die Inder auch noch in einer anderen Mannschaftssportart an der Weltspitze. Allerdings findet die eher im Schatten der internationalen Sport-Öffentlichkeit statt: Kabaddi heißt dieser uralte Volkssport, der im Süden Indiens entstanden sein soll. Schon 400 vor Christus wird dieses Spiel in Schriften erwähnt.
Glamour spielt hier keine Rolle, Kabaddi ist ein Arme-Leute-Sport, weil man ihn praktisch überall ausüben kann: Auf Sandboden und die meisten spielen sogar mit nackten Füßen. Kabaddi ist eine schräge Mischung aus Einfangen, Weglaufen und Ausweichen. Aus Ringen und Catchen. Im Team sieben gegen sieben.
Volkssport Kabaddi
Hier geht es heftig zur Sache, sagt Sachin Kumar. Er ist der einzige, der studiert hat, denn er ist der Sohn eines berühmten Kabaddi-Spielers, der die erst vor knapp einem Jahr eine Akademie gegründet hat: "Ein Kabaddi-Spieler zu sein ist viel härter als ein Arzt zu sein."
Neben Kraft und Ausdauer brauchen die Spieler vor allem einen langen Atem, denn ein Angriff dauert so lange, bis der Angreifer nicht mehr das Wort Kabaddi sagen kann.
Hier am Stadtrand von Neu-Delhi trainieren rund 30 junge Männer und Jugendliche, die aus ganz Nord-Indien kommen. Mittlerweile ist Kabaddi sogar ein Profisport in Indien. Die meisten Spieler allerdings hätten vor allem ein Ziel, sagt der junge Arzt:
"Es gibt eine Sport-Quote in Indien. Die Eltern schicken ihre Kinder hier zu uns, wenn die in der Schule nicht so gut sind. Die denken sich, wenn ihr Sohn nicht gut im Lernen ist, bekommt er wenigstens mit Kabaddi einen Job."
In der Tat, wenn die jungen Spieler in die überregionale Liga oder die Nationalliga aufsteigen, hat die Regierung Arbeitsplätze für sie reserviert. Je besser sie spielen, umso besser die Jobs:
"Wenn sie ein staatliches Level erreichen bekommen sie den Job und mit der Leidenschaft ist es dann vorbei."
Die Regierung setzt auf Kabaddi
Solch ein System würde nur für den Anfang Anreize schaffen, sagt Sachin. Kaum seien die Spieler auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn, würden sie sich erst einmal zurücklehnen, denn das größte Ziel sei ja erreicht. Die indische Regierung setzt unter anderem auch deshalb auf ihren Volkssport, weil die weltweite Konkurrenz noch keinen so großen Vorsprung hat wie in anderen Sportarten.
In Südasien wird das Spiel immer beliebter, auch in England oder Südamerika gibt es schon Vereine. Für Olympia reicht es aber noch nicht, dafür müsste Kabdadi in 70 verschiedenen Ländern gespielt werden. Im Dorf von Hima Das ist allerdings schon Olympiafieber ausgebrochen. "Alles Gute für Tokio 2020" steht auf einem großen Tor, das die Jugendlichen aus Dingh für Hima errichtet haben.
Hima Das will "ihr Bestes geben"
Hima Das selbst hat es noch gar nicht gesehen, sie kommt gerade von den Asian Games, mit zwei Medaillen um den Hals: Silber auf 400 Metern, Gold in der 4x400-Meter-Staffel. Himas Vater steht ein wenig ungläubig da, nie im Leben hatte er damit gerechnet, dass seine Tochter es jemals so weit bringen würde. Seine Tochter sieht er fast nur noch im Fernsehen, auf einer Pressekonferenz nach den Asian Games 2018 ist Hima Das von unzähligen Reportern umzingelt, vor zwei Jahren hat sie noch mit ihren Brüdern und Cousins neben den Reisfeldern gekickt, jetzt reist sie um die ganze Welt und hat ein großes Ziel vor Augen:
"Alle meine Landsleute hoffen auf eine olympische Medaille, sie haben das Gefühl, ich könnte es schaffen. Ich werde mein Bestes geben, wir träumen alle von einer Medaille bei den Olympischen Spielen."
Vor allem einer wird ganz fest die Daumen drücken, Milkha Singh, der "fliegende Sikh":
"Ich habe noch einen großen Wunsch, bevor ich sterbe, dass eine Inderin oder ein Inder die Gold-Medaille holt, die ich 1960 in Rom verpasst habe. Um dann die indische Flagge voller Stolz in die Höhe zu heben."