Was bleibt im Gedächtnis hängen?
Der Geschmack auf Spotify zeigt eine klare Tendenz: Musik der 80er- und 90er-Jahre ist besonders beliebt. Ganz vorne ein Song von Oasis - keinen Song hörten sich deutsche Nutzer öfter an. Haben Kritiker-Listen und Charts an Bedeutung verloren?
"Wonderwall" von der Britpop-Band Oasis. Erschienen 1995. Jeder kann diesen Song mitsingen. Ein Klassiker, der so schnell nicht in Vergessenheit geraten wird. Keinen Song hörten sich deutsche Nutzer des Streamingportals Spotify öfter an. Andere Hits von früher hat unser Popgedächtnis schon längst wieder gelöscht. Doch warum bleiben manche Songs mehr in Erinnerung als andere? Und welche Hits werden zu Legenden?
Spiegel Online und Spotify haben sich dieser Frage angenommen und eine Übersicht zu den "wirklich zeitlosen Hits" in Deutschland veröffentlicht, geordnet nach Dekaden, von den 50er-Jahren bis zu den 2000ern.
"Sweet Home Alabama" ist heute beliebter als in den 70ern
Das Ergebnis: Die Hits vergangener Jahrzehnte sind nicht immer auch die Hits von heute. "Sweet Home Alabama" ist heute der meistgehörte 70er-Jahre-Song auf Spotify – schaffte es in den 70ern aber nicht einmal in die Top 50 der deutschen Charts.
"'Sweet Home Alabama', das wäre vielleicht ein Beispiel für so Revitalisierungsprozesse, zum Beispiel gab es ja diesen 'Kid Rock-Song All Summer Long', der das Riff von Sweet Home Alabama wieder aufgreift, sodass also Songs auch in Vergessenheit vielleicht geraten können und durch besondere Ereignisse wie den Einsatz in einem Film oder ein Revival einer Band oder sowas wieder an Bedeutung gewinnen."
Ralf von Appen ist Musikwissenschaftler an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Einige Ergebnisse der Analyse von Spiegel und Spotify haben ihn durchaus überrascht:
"Generell gilt natürlich, dass Songs, je stärker sie in den Alltag eingebunden sind und je stärker sie da eine Funktion erfüllen für Leute, dementsprechend länger werden sie eine kulturelle Bedeutung haben. Das ist jedoch sicherlich nichts, das für besonders viele Songs konkret zu erklären wäre. Ein Song, an den ich da gedacht hatte, wäre 'We Are the Champions' von Queen, das halt bei jeder Gelegenheit gespielt wird, als Siegerhymne beim Fußball, beim Sport, was auch immer. Und das ist interessanterweise ein Song, den ich nicht gefunden habe bei den meistgespielten Songs auf Spotify der 70er-Jahre."
Beliebtheit Indiz für Altersgruppe der Spotify-Nutzer?
Hörerzahlen und Charts bilden nur einen Ausschnitt der Erinnerungskultur im Pop ab. Einen großen Einfluss auf das kollektive Musikgedächtnis haben auch Instanzen mit einer gewissen kulturellen Autorität: Musikmagazine wie der "Rolling Stone" etwa. Die Meinung von Kritikern unterscheidet sich dabei häufig vom Massengeschmack.
"Was besonders populär in den Charts war, das kann kein Kritikerliebling sein. Weil der Kritiker sich dadurch auszeichnen muss, dass er eben einen besonderen Geschmack hat, einen, der vielleicht auch seiner Zeit voraus ist, der auf die Chartmusik des Alltags von oben herabblickt und der seine Aufgabe eher darin sieht, den Leuten zu zeigen, was wirklich gut ist."
Der Massengeschmack auf Spotify zeigt eine klare Tendenz: Musik der 80er- und 90er-Jahre ist besonders beliebt. Das weist aber nicht unbedingt darauf hin, dass diese Musik besonders erinnerungswürdig und zeitlos ist, sondern könnte ein Indiz für die Altersgruppe der Spotify-Nutzer sein. Bei Pop-Kritikern hingegen ist vor allem die Musik der 60er-Jahre beliebt.
Häufig auf Platz 1 der "Besten Alben aller Zeiten": "Revolver" von den Beatles. In der Liste der meistgespielten Spotify-Songs sind die Beatles hingegen ziemlich weit hinten platziert. Allerdings ist der Beatles-Katalog erst seit Ende 2015 bei Spotify verfügbar und konnte dementsprechend noch nicht so oft angehört werden.
Eine neue Form der Erinnerungskultur?
2004 wählte der Rolling Stone Bob Dylans "Like a Rolling Stone" auf Platz eins der "500 besten Songs aller Zeiten". Um die Jahrtausendwende war das Bedürfnis nach einem sogenannten Kanon der populären Musik besonders groß – ein Anlass für die Musikmagazine, Radiosender und Fernsehshows zurückzublicken, und zu fragen: Was waren die großen Hits, die besten Songs der letzten Jahrzehnte? Das Bedürfnis nach einem solchen Popmusik-Kanon hat seither jedoch nachgelassen, meint Ralf von Appen.
"Obwohl wir über beispielsweise Spotify auf nahezu alle Musik der Welt jederzeit Zugriff haben, scheint es nicht so ein großes Bedürfnis zu geben nach einer ordnenden Macht, nach jemandem, der einem sagt, was man tatsächlich hören soll, sondern das scheint relativ unorganisiert einfach durch Playlists, denen man folgt, zu funktionieren, und man sucht nicht nach dieser Autorität."
Vielleicht entsteht also gerade eine neue Form der Erinnerungskultur. Welche Songs in 50 Jahren noch wichtig sind, lässt sich schwer vorhersagen – und vor allem nicht verallgemeinern. Das Musikhören wird mit dem Stream immer individueller. Nicht nur Kritiker-Listen, auch die Charts verlieren an Bedeutung. Mehr denn je muss der Hörer also selbst entscheiden, welche Songs wirklich wichtig sind – und im Popgedächtnis hängenbleiben.