"Ein stigmatisierender Klang"
Der Linguist Martin Wengeler hat in Deutschland in den vergangenen 40 Jahren eine größere Sensibilität für Sprache ausgemacht. Ob dazu die Wahl des "Unworts des Jahres" beigetragen hat, kann er aber nicht sagen.
Matthias Hanselmann: Heute tagt in Darmstadt die Jury für das Unwort des Jahres. Das Ergebnis wird, wie gesagt, am Dienstag bekanntgegeben. Ich habe mit dem Sprachwissenschaftler Martin Wengeler gesprochen, er ist Germanistikprofessor an der Universität von Trier und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Zusammenhang von Mentalität und gesellschaftlichen Entwicklungen sowie Sprachgebrauch. Auch das Thema Migration hat er sprachwissenschaftlich untersucht. Hier kursiert seit einiger Zeit eine Wortschöpfung des CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, er sprach von Armutseinwanderung in Deutschland. Frage an Martin Wengeler, der Mitglied der Jury Unwort des Jahres ist: Herr Wengeler, circa 1.000 Vorschläge für das Unwort des Jahres 2013 sind bei Ihnen eingegangen. War Armutseinwanderung auch dabei?
Martin Wengeler: Ja, wir haben ungefähr 15 Vorschläge, die in dem Wortfeld eingegangen sind - "Armutseinwanderung", "Armutszuwanderung", "Armutsflüchtling", "Armutszuwanderer" -, das haben wir alles in einem Block zusammengefasst. Und das ist mit am häufigsten vorgeschlagen worden.
Hanselmann: Waren Sie darüber überrascht?
Wengeler: Nein, war ich nicht. Denn erstens ist das seit Mitte letzten Jahres zum Thema gemacht worden in der Politik, auch anderen Vorschlägen, die auch auf unserer Liste sind wie "Sozialtourismus" und "Freizügigkeitsmissbrauch". Und zum anderen ist man natürlich nicht überrascht, weil das ja nicht das erste Mal ist, dass in diesem Themenbereich in der Weise gesprochen wird und entsprechend dann auch Vorschläge für das Unwort vorliegen beziehungsweise aus dem Bereich dann auch schon mal Unwörter gekürt worden sind.
Wörter bedeuten nicht an sich irgendetwas
Hanselmann: Da kommen wir gleich noch drauf: Unwörter aus der Geschichte. Zunächst einmal zum Begriff "Armutseinwanderung": Herr Seehofer meint, ein solches Wort habe nichts mit rechten Rändern oder Ecken zu tun, es geht seiner Meinung nach nur um eine Tatbestandsbeschreibung. Was würden Sie Herrn Seehofer dazu sagen?
Wengeler: Vom Wortkörper her könnte er natürlich recht haben, man kann dieses Wort so verwenden, dass man sagt: Da kommen Menschen, die aufgrund ihrer Armut in ein anderes Land zuwandern, also nenne ich das "Armutseinwanderung". Man kann es aber auch in einem Kontext verwenden, dass man dem immer direkt mit unterstellt, dass sie eben kommen, um Sozialleistungen abzugreifen, um unser Sozialsystem auszunutzen. Und das wird ja tatsächlich gerade von der Seite, die Sie benannt haben, gemacht, spätestens seit Sommer letzten Jahres wieder. Und wenn dann so Wörter wie "Sozialtourismus" oder "Freizügigkeitsmissbrauch", die stammen ja auch aus der gleichen Richtung, im gleichen Kontext verwendet werden, dann ist - wie ein Einsender das hier gesagt hat bei unseren Vorschlägen - dann ist die Assoziation Schmarotzereinwanderung eben auch nicht weit.
Ich will damit aber auch sagen: Wörter bedeuten nicht an sich irgendetwas, sondern bedeuten in ihrem Kontext etwas und dabei sehr Unterschiedliches. Und in diesem Zusammenhang – und deshalb halte ich das für einen überlegenswerten Unwortvorschlag – ist es eben seit einem halben Jahr so geprägt worden, dass damit assoziiert wird: Da kommen Menschen, die uns ausnutzen wollen und die uns belügen und betrügen wollen. Und von daher hat "Armutszuwanderung", "Armutseinwanderung" oder "Armutseinwanderer" im Moment einen abwertenden, diskriminierenden, stigmatisierenden Klang.
Das war in der Geschichte auch schon anders, wir haben Anfang der 80er Jahre einige Belege, wo eher "Scheinasylanten" und "Wirtschaftsflüchtlinge" die abwertenden Bezeichnungen waren, mit denen man legitime Gründe für eine Flucht absprechen wollte, und da haben sowohl aus SPD-Kreisen, die Bischofskonferenz als auch der liberale Gerhart Baum dementgegen gesagt: Wir sollten die doch – oder haben es benutzt oder auch rechtfertigt – "Armutsflüchtlinge" nennen und wollten damit darauf hinweisen: Die haben ja, auch wenn sie nicht politisch verfolgt sind, vielleicht gute Gründe zu kommen.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wie spiegelt sich die Geschichte und die aktuelle Lage zum Thema Migration in der deutschen Sprache wider, darüber spreche ich mit Martin Wengele, er ist Professor für germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Trier und Jurymitglied bei der Wahl des Unworts des Jahres.
Herr Wengeler, schauen wir mal etwas zurück in die Geschichte der Unwörter, noch mal: 1993 -da war "Überfremdung" Unwort des Jahres; 1991, das erste Unwort, das es gab, war "Durchrasste Gesellschaft", als Wortwahl für eine Mischung der Deutschen mit Ausländern. Gesagt hat das damals Edmund Stoiber von der CSU, jetzt reden wir über Armutseinwanderung und Freizügigkeitsmissbrauch. Sagen wir mal so, bei der "Durchrassten Gesellschaft" lässt sich schnell eine sprachliche Diskriminierung feststellen und die wollen Sie ja mit der Jury auch brandmarken sozusagen. Heute ist das etwas schwerer. Stehen da, sagen wir, etwas mildere Wörter für die gleiche Haltung oder hat sich auch die Haltung des Sprechenden verändert?
"Ich habe nicht den Eindruck, dass man heute da vorsichtiger ist."
Wengeler: Ja gut, "Durchrasste Gesellschaft", würde ich mal wohlwollend sagen, war ein Ausrutscher, der natürlich dann sozusagen einfach zu brandmarken war. "Asylbetrüger" und ähnliches, das gibt es auch heute wieder, "Überfremdung" - das gibt's im rechtsextremen Spektrum natürlich auch heute genauso. Es ist eben so, dass in dem Fall die CSU in eine ähnliche Richtung gerne argumentiert, wenn Wahlkampf ist, dass da die Ängste eben vor zu viel Zuwanderern aufgebaut werden und vor "Ausnutzung der Sozialsysteme" oder "Ausnutzung Deutschlands durch Einwanderer". Das kommt halt von der Seite immer mal wieder und da muss man eben auch aufpassen, also, nicht zu sehr an den rechten Rand zu driften.
Mit "Scheinasylant" und "Wirtschaftsflüchtling" damals oder auch heute mit "Sozialtourismus" und "Freizügigkeitsmissbrauch" ist das schon heikel. Ich habe nicht den Eindruck, dass man heute da vorsichtiger ist als vor 20 Jahren, also, auch da ist das öffentlich schon nicht durch Unwortwahl, sondern auch durch Politiker im Bundestag gebrandmarkt und diskutiert worden. Also, in der Asyldebatte von 1993 mit dem Ergebnis, dass das Asylrecht eingeschränkt worden ist, da hat Gregor Gysi das auch schon deutlich zum Ausdruck gebracht: Wer von Scheinasylanten, Asylmissbrauch und Wirtschaftsflüchtlingen redet, der sei mit verantwortlich für fremdenfeindliche Gewalttaten. Also, nicht wörtlich, sondern sinngemäß. Die Ausdrücke "Asylmissbrauch" kommen heute wieder mit "Freizügigkeitsmissbrauch", "Wirtschaftsflüchtling" ist heute auch wieder da, aber eben wird mit der ähnlichen Konnotation jetzt von "Armutsflüchtlingen" gesprochen. Von daher, würde ich sagen, hat sich da nicht so viel geändert, obwohl wir ja mit unserer Unwortwahl das Ziel haben, zu einem bisschen sensibleren Sprachgebrauch beitragen zu wollen.
Hanselmann: Das wollte ich nämlich gerade fragen, ob Ihrer Meinung nach die Sprachkritik, das öffentliche Kennzeichnen eines Wortes, wie es ja mit dem Unwort des Jahres geschieht, ob das etwas im Bewusstsein der Menschen in unserem Land wirklich verändern kann. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Wengeler: Ich würde ganz grob über die letzten 40 Jahre sagen, dass es in der Öffentlichkeit mehr Sprachsensibilität gibt, was ja auch öfters unter dem Label "Political Correctness" gerne lächerlich gemacht wird. Ob die Unwortwahl da so eine große Rolle für gespielt hat, das kann man nicht wirklich beurteilen. Da machen die weiter, weil sie sagen: "Ja - vielleicht!", und "Wir halten das für notwendig!" Wie will man das messen?
Hanselmann: Der Sprachwissenschaftler Martin Wengeler über Wörter und Unwörter im Zusammenhang mit dem Thema Migration in Deutschland. Morgen heißt es hier in Deutschlandradio Kultur nach den Neun-Uhr-Nachrichten wieder: "Im Gespräch", unser Thema dann: EU-Freizügigkeit, gute Zuwanderung, schlechte Zuwanderung. Unsere Gäste: Die rumänische Schriftstellerin Carmen Francesca Banciu und der Migrationsexperte Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.