Phänomen "Concept Creep"

Wie "Trauma" und "Toxisch" in den Alltagssprech wanderten

Aus einem aufgeklappten Buch lösen sich Buchstaben und fliegen in die Luft.
Sprache lebt: Wörter und Begriffe können im Laufe der Zeit ihre Bedeutung verändern. © picture alliance / Sergey Nivens / Shotshop
Von Constantin Hühn |
Manchmal finden Begriffe aus der Psychologie ihren Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch und ändern dabei ihre Bedeutung - oder weiten sie aus. Das Phänomen wird als "Concept Creep" beschrieben und kann positive wie auch negative Folgen haben.
Trauma, Gewalt oder Sucht – Beispiele für Begriffe, die laut Kritikern zunehmend inflationär gebraucht werden. Belegen lässt sich das Phänomen unter anderem für das Wörtchen "toxisch": Im digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), das das Vorkommen von Begriffen statistisch erfasst, geht die Kurve für „toxisch“ ab dem Jahr 2016 steil nach oben. Seither hat sich die Häufigkeit allein in Printmedien verdoppelt.
War es ursprünglich eine Bezeichnung für giftige Substanzen, hat es sich inzwischen auch für die Beschreibung sozialer Verhältnisse und Verhaltensweisen etabliert, von „toxischer Männlichkeit“ oder „toxischen Beziehungen“ ist die Rede. Der australische Psychologe Nick Haslam hat für diese Entwicklung 2016 die Bezeichnung „Concept Creep“ geprägt. Frei übersetzt geht es um „schleichende“ oder „kriechende Begriffe“.

Was ist „Concept Creep“?

Concept Creep umschreibt das Phänomen, dass Begriffe aus der Psychologie und Therapie ihren Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch finden und dabei ihre Bedeutung verändern. Vorrangig tun das Begriffe, die negative Phänomene beschreiben, bei denen jemand zu Schaden kommt – neben den eingangs genannten etwa „Missbrauch“ oder auch „Mobbing“.
Der Psychologe Nick Haslam beobachtet eine Ausdehnung solcher Begriffe in zwei Richtungen, „horizontal“ und „vertikal“: Horizontal dringen sie in vormals fremde Anwendungsbereiche vor. Vertikal erfassen sie im selben Bereich auch leichtere Fälle. Bei manchen Begriffen passiert beides.
Ein Beispiel dafür ist der Begriff „Trauma“: Haslams Analyse von Diagnose-Handbüchern zufolge haben sich die Kriterien dafür seit den 1980er-Jahren stark vertikal ausgeweitet. Vor einigen Jahrzehnten konnte demnach als Auslöser für eine psychische Traumatisierung nur ein „Ereignis außerhalb der alltäglichen menschlichen Erfahrung“ gelten, wie etwa ein Kriegseinsatz.

Individuell und kollektiv

In jüngerer Zeit dagegen werden auch – vergleichsweise – weniger schwerwiegende Ereignisse berücksichtigt, wie etwa Untreue, Verlust eines geliebten Menschen oder sexuelle Belästigung.
Zugleich sei der Begriff – horizontal – aus dem Bereich der individuellen Psyche hinübergewandert in die Beschreibung kollektiver Erfahrungen, so Haslam - es wird von kollektiven, kulturellen oder historischen Traumata gesprochen. Andere Kritikerinnen der Ausweitung des Trauma-Begriffs verweisen auch auf die Rede vom „nationalen Trauma“, etwa nach Terroranschlägen.

Welche Folgen hat das?

Der Psychologe Nick Haslam stellt fest, dass der Trauma-Begriff heute „viel breiter und vor allem viel subjektiver gefasst“ sei als noch vor 30 Jahren. Das mache es schwieriger, klare Kriterien für seine Anwendung zu finden.
Was Haslam für den Trauma-Begriff feststellt, beobachten Kritikerinnen bei der Ausdehnung von Begriffen insgesamt: Diese Entwicklung könne zu einer Verwässerung oder Verharmlosung führen, weil die sprachliche Unterscheidung zwischen unterschiedlich schweren Erfahrungen unterlaufen werde, heißt es. Wenn jede Irritation gleich als Trauma, jeder unangebrachte Witz als Gewalt gilt, entwerte das den Begriff für die Benennung schwerwiegenderer Fälle.
Auf einen weiteren Punkt macht der Philosoph Philipp Hübl in seinem Buch „Moralspektakel“ aufmerksam: „Natürlich hat niemand ein Patentrecht auf Begriffe. Man kann sie so weit oder eng fassen, wie man will. Doch die oft unbemerkte Erweiterung suggeriert vielen, die Welt habe sich verschlechtert, obwohl nur die Begriffe erweitert wurden.“
Außerdem führe die Entgrenzung von Begriffen zu einer um sich greifenden Pathologisierung: Verhaltensweisen, die vormals bloß als unangenehm oder anstrengend oder schlicht anders wahrgenommen wurden, lassen sich plötzlich als krankhaft umdefinieren - etwa wenn jemand, der gern und viel arbeitet, als „Workaholic“ bezeichnet wird.
Andererseits kann die Ausdehnung von Begriffen aber auch als Begleiterscheinung und Triebfeder einer begrüßenswerten gesellschaftlichen Sensibilisierung verstanden werden, betont die Publizistin und Philosophin Andrea Roedig. Denn die erweiterten Begriffe machten Fälle von menschlichem Leiden sichtbar, die vor einigen Jahren vielleicht noch unsichtbar geblieben wären.
So könne etwa der Begriff „toxisch“ manipulatives Verhalten in Beziehungen ans Licht bringen; und der Begriff der „psychischen Gewalt“ schaffe ein Vokabular für Verletzungen, die schwerer zu erkennen seien als körperliche Wunden.

Warum Wortbedeutungen wandern können

Wieso können Begriffe überhaupt wandern, warum lassen sie sich von einem Kontext in einen anderen transferieren? Das liege an der metaphorischen Verfasstheit von Sprache, erklärt Andrea Roedig: „Die meisten Begriffe beruhen ursprünglich auf sinnlichen Erfahrungen und bildlichen Eindrücken, die sich über Analogie, also Ähnlichkeit, auch in andere Bedeutungskontexte übertragen lassen.“
Das Wort Trauma etwa bedeutete im Altgriechischen ursprünglich „Wunde“ im Sinne einer rein körperlichen Verletzung. Im deutschen Sprachgebrauch entspricht dieser Verwendung etwa das „Schädel-Hirn-Trauma“.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff dann mehr und mehr als Metapher auch für seelische Verletzungen verwendet, vorangetrieben nicht zuletzt durch die Psychoanalyse. Dass sich der Bedeutungsgehalt und die Definition von Begriffen wandeln, ist also nichts per se Neues.

Warum trifft man so häufig auf dieses Phänomen?

Die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken ist immer schon einem Wandel unterworfen, wie Andrea Roedig unterstreicht: „Begriffe haben Konjunkturen und auch eine Halbwertszeit, nach der ihre Nützlichkeit und Erklärungskraft wieder abnimmt.“
Angetrieben werden solche sprachlichen Moden vermutlich durch einen psychologischen Effekt, den Philipp Hübl in seinem Buch folgendermaßen beschreibt: „Wenn wir stärker auf etwas achten, zum Beispiel auf Gefahren oder Aggressionen, dehnen wir dadurch unsere Begriffe aus.“ Hübl macht das anhand einer Reihe psychologischer Experimente deutlich:
„In einer Variante sehen Versuchspersonen unterschiedliche Gesichter auf einem Bildschirm, die sie auf einer Skala zwischen ‚sehr bedrohlich‘ und ‚gar nicht bedrohlich‘ einordnen sollen. Bei jedem Durchlauf geben sie dieselben Einschätzungen. Doch sobald die Probanden immer weniger bedrohliche Gesichter zu sehen bekommen, passiert etwas Merkwürdiges. Plötzlich ordnen sie auch bisher harmlose Gesichter als ‚bedrohlich‘ ein.“
Der gleiche Effekt trete auch in der Wissenschaft auf, so Hübl: „Begriffserweiterungen lassen sich in Handbüchern der Medizin, in Broschüren von Antidiskriminierungsstellen oder in Forschungsprojekten zur Menschenfeindlichkeit nachweisen.“ Und zwar, so Hübl, weil die entsprechenden Forschungsrichtungen sich auf bestimmte – relativ gesehen seltene – Phänomene fokussieren, stärker auf sie achten.

Die Eigenlogik der sozialen Medien

Dass sich die Ausweitung von Begriffen in den letzten Jahren und Jahrzehnten beschleunigt zu haben scheint, könnte aber, folgt man Hübl, auch mit der Eigenlogik sozialer Medien zu tun haben und Teil einer – bewussten oder unbewussten – Strategie sein. Denn durch ein möglichst weites Verständnis von Mobbing, Missbrauch oder „Mikro-Aggressionen“ können immer mehr Menschen und Gruppen sich als Opfer entsprechender Schädigungen ausweisen und dabei moralische Statusgewinne einfahren.
Zugleich kann der Vorwurf entsprechender Schädigungen gegen politische Gegner ins Feld geführt werden. Wohlgemerkt findet sich diese Strategie auf allen Seiten, wie Hübl betont – also im linken wie im rechten politischen Spektrum.

Wie damit umgehen?

„Begriffe beschreiben und sie erschaffen die Welt, in der wir leben“, betont Andrea Roedig. Umso mehr plädiert Roedig für ein bewussteres Sprechen: „Sensibilisierung ist durchaus als Kulturleistung zu verstehen – und Worte helfen dabei. Unerlässlich dafür ist aber ein aufgeklärter und kritischer Umgang mit Sprache. Präzise zu formulieren hilft. Und manchmal ist es nötig, nach neuen und auch weniger dramatischen Begriffen zu suchen.“
Mehr zum Thema Sprache im Wandel