Das Sterben des Kommas
Satzzeichen erleichterten es dem Leser, einen Text zu verstehen. Aus diesem Grund verwenden wir sie seit Jahrhunderten. Wer Komma, Punkt und Semikolon für Firlefanz hält, ist ein Egoist, findet der Publizist Markus Reiter.
Jedem, der hin und wieder bei Twitter, WhatsApp oder Facebook Mitteilungen liest, ist es vermutlich schon aufgefallen: Dem Komma droht das Verschwinden. Noch hält es sich hier und da, vor allem bei professionellen Texten. Aber selbst in Hausarbeiten und Aufsätzen wird es eher nach dem Zufallsprinzip gesetzt als nach festen Regeln.
Nun muss man in sich wandelnden Zeiten nicht allem hinterher trauern, was man für wertvolles Kulturgut hält. Aber dem Komma sei ein Nachruf gegönnt. Zum einen hat es mehrere Jahrhunderte lang Lesern geholfen, einen schriftlichen Text besser zu verstehen. Zum anderen zeigt sein Hinscheiden, wie sich das Sprachempfinden und das Selbstverständnis von Schreibenden gewandelt haben.
Im frühen Mittelalter kannten Autoren und Leser keine Kommas. Sie hielten es noch nicht einmal für notwendig, beim Schreiben zwischen den einzelnen Worten einen Abstand zu lassen. Sie orientierten sich an der gesprochenen Sprache. Wenn wir miteinander reden, sprechen wir nicht jedes Wort einzeln aus.
Zunehmend ignorieren Schreiber im Netz die Rechtschreibung
Erst im Laufe des 12. Jahrhunderts entwickelten die schreibenden Mönche die antiken Satzzeichen weiter und verwendeten sie häufiger. Sie begannen, grammatische Einheiten wie Sätze und Nebensätze zu gliedern. Kommas, Punkte, Semikolon und die anderen Satzzeichen erleichterten den Gelehrten das Lesen. Ob ein Komma steht oder nicht, kann immerhin den Sinn einer Aussage verändern.
Man kann einen Satz lesen: "Der Mann sagt [Komma] die Frau kann nicht Auto fahren." Oder man kann als emanzipierterer Zeitgenosse zu folgender Interpretation neigen: "Der Mann [Komma] sagt die Frau [Komma] kann nicht Auto fahren."
Was heißt es nun, wenn nach über 800 Jahren seines Erfolges das Komma seinen Rückzug antritt? Offenbar kehren im Internetzeitalter Schreiben und Lesen zur schriftlichen Mündlichkeit zurück. Das bedeutet: Die Autoren empfinden die Kommunikation am Smartphone nicht mehr als Schriftsprache. Sie sehen sie als pure Verschriftlichung des Gesagten.
Das Komma ist nur das erste Opfer. Zunehmend ignorieren die Schreiber im Netz die Rechtschreibung und sie erleichtern sich die Arbeit, indem sie konsequent alles klein schreiben. Damit kündigt sich nicht nur der Niedergang einer Kulturtechnik an, sondern vor allem auch eine handfeste Störung des Austausches schriftlicher Information – mit allen zwischenmenschlichen und rechtlichen Folgen.
Sie bürden die Last des Verstehens dem Leser auf
Erstens schreiben die Menschen bei uns heute mehr und öfter als jemals zuvor. Jeder kann jederzeit öffentlich einsehbare Texte verfassen. Dadurch werden Schwächen offenkundig, die vermutlich im Verborgenen schon immer vorhanden waren.
Zweitens kann man eine Schrift nicht nur ästhetisch, sondern auch funktional betrachten. Die regelfreien Texte der Verkäufer beim Internetauktionshaus Ebay, der Mitglieder auf Facebook oder der Nutzer von WhatsApp erfüllen bis zu einem gewissen Grade ihre Funktion: Sie vermitteln ihren Empfängern eine Information.
Das Problem liegt in der Einschränkung. Auch frühmittelalterliche Texte ohne Wortabstand waren den Mönchen "bis zu einem gewissen Grad" verständlich. Sie bürdeten aber die Last des Verstehens den Lesenden auf.
Das Verschwinden des Kommas macht es mühseliger und fehleranfälliger, fremde Texte zu lesen. Autoren, die das Komma für überflüssigen Firlefanz halten, die gar auf die Regeln der Zeichensetzung und Rechtschreibung pfeifen, machen damit klar, was sie in Wirklichkeit sind: Egoisten.
Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de