Auch der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat sich zu den geplanten sprachlichen Änderungen im Strafgesetz geäußert. In der Sendung "Der Tag mit..." zeigte er sich aber grundsätzlich "eher skeptisch gegenüber Säuberungsakten in der Sprache und in der Öffentlichkeit":
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Warum bestimmte Ausdrücke nicht mehr haltbar sind
07:13 Minuten
"Störung" statt "Abartigkeit": Der Bundestag debattiert über Begriffsänderungen im Strafgesetzbuch. Der Linguist Ekkehard Felder begrüßt das. Und gibt zugleich zu bedenken, dass hinter alten Begriffen nicht immer schlimme Absichten steckten.
Dieter Kassel: Es ist noch lange nicht sicher, ob die Debatte über den Begriff "Rasse" zu einer Änderung des Grundgesetzes führen wird. Ziemlich sicher aber ist, dass die Begriffe "Schwachsinn" und "Abartigkeit" aus dem Strafgesetzbuch verschwinden werden. Der Bundestag beschäftigt sich heute in erster Lesung damit, und mit der Sprache unserer Gesetze beschäftigt sich Ekkehard Felder nicht nur heute, sondern schon seit Langem sehr intensiv.
Er ist Professor für germanistische Linguistik an der Universität Heidelberg, Mitherausgeber des Handbuchs "Sprache im Recht", und er gehört der Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik an.
Mich hat das überrascht mit diesen beiden Begriffen im Strafgesetzbuch. Deshalb frage ich mich jetzt, stecken unsere deutschen Gesetzbücher vielleicht grundsätzlich voller Begriffe, die wir im Alltag zu Recht nicht mehr benutzen?
Ekkehard Felder: Voller Begriffe würde ich nicht sagen, aber der eine oder andere Begriff wird sich da bestimmt finden. Wir dürfen jetzt allerdings nicht den Fehler machen, dass diejenigen zur damaligen Zeit – und das Strafgesetzbuch ist ja Ende des 19. Jahrhunderts entstanden – alle aufgrund dieser verwendeten Begriffe nur negativ über bestimmte Gruppen gedacht haben.
Die Sprache wandelt sich, wir haben neue Vorstellungen, Gerechtigkeitsvorstellungen, wir sind sensibler geworden. Das projizieren wir zu Recht in die Sprache hinein und stellen fest, dass früher bestimmte Ausdrücke anders verwendet wurden, die heute so nicht mehr haltbar sind.
Wirkung von Wörtern verändert sich
Kassel: Nennen wir es mal konkret, wir können uns auch gleich davon entfernen, aber wenn wir konkret bei Paragraf 20 des Strafgesetzbuches bleiben, da stehen diese beiden Begriffe, die jetzt verändert werden sollen, drin: "Schwachsinn" und "Abartigkeit". Da geht es ja eigentlich um einen positiven Gedanken. Es geht um die Möglichkeit der Schuldunfähigkeit, und eigentlich sollen ja mit diesem Paragrafen psychisch Kranke vor Gericht geschützt werden.
Felder: Genau, da muss man sich noch mal in Erinnerung rufen, dass zur Entstehungszeit die Psychiatrie und die psychologische Forschung noch im Entstehen war, sozusagen auch erst noch als Fachsprache sich etablieren musste. Das ist heute keine Frage mehr. Deswegen haben wir natürlich heute auch ein fachsprachliches Inventar und können dann solche alltagssprachlichen Ausdrücke durch in dem Fall jetzt Intelligenzminderung für Schwachsinn und Störung für Abartigkeit ersetzen und bekommen eine Neutralität, eine Sachlichkeit in den ganzen Gesetzestext hinein.
Kassel: Aber im Grunde genommen ist das doch ein sehr, sehr ähnlicher Fall – gut gemeint, Begriffe haben was anderes bedeutet, heute ist die Intention die gleiche, aber der Begriff geht nicht mehr –, ein sehr ähnlicher Fall wie bei der Diskussion über das Wort "Rasse" in Artikel drei des Grundgesetzes.
Felder: Ja und nein. Sie dürfen jetzt – und das haben Sie ein bisschen unterstellt in Ihrer Frage – nicht denken, dass das Wort zu jederzeit die gleiche Wirkung hatte. Also wir können jetzt den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nicht absprechen, dass sie mit diesem Artikel drei gegen Rassismus vorgehen wollten. Also die Wörter haben in dem Sinne nicht eine dauerhaft stabile Wirkung. Damals war dieser Begriff noch im Sinne der Sprachsensibilität unauffällig.
Heute sind wir schon wesentlich weiter. Die Forschung ist in der Ethnologie und in der Sozialwissenschaft weiter und weiß, dass die Menschen im Prinzip alle aus einem Ursprung entstanden sind und es dann Ausprägungen gegeben hat, dass Rasse und Genetik in der Form nicht zu koppeln sind. Von daher sind wir heute sprachsensibler. Und deswegen gibt es eine Diskussion, "Rasse", den Ausdruck, zu ersetzen. Da gibt es Argumente dafür und Argumente dagegen.
"Jeder Streit über Sprache ist ein guter Streit"
Kassel: Nun werden sicherlich Juristen, die im Alltag mit Gesetzen arbeiten – im Alltag arbeitet man oft eher nicht mit dem Grundgesetz, aber zum Beispiel das Strafgesetzbuch, das Bürgerliche Gesetzbuch und, und, und –, werden Juristen vermutlich sagen, mir ist es im Alltag egal. Mir und meinen Kollegen ist ja völlig klar, wie es gemeint ist und was es bedeutet. Aber kann man es sich da so leicht machen, hat nicht doch die Sprache und damit auch die Formulierung auch irgendwie Auswirkungen auf die Rechtsprechung?
Felder: Ja, die juristischen Kollegen, mit denen ich zusammenarbeite, sagen manchmal den flapsigen Spruch: Ein Blick ins Gesetzbuch erleichtert die Rechtsfindung. Damit ist angedeutet, dass sie den Wortlaut von der Konzeption sehr wohl im Kopf haben, weil sie ihn ja ständig weiterverarbeiten und von daher nur selten in den genauen Wortlaut noch mal hineinschauen. Auch der Normalbürger liest eigentlich nicht das Gesetzbuch.
Dennoch haben natürlich Wörter, in dem Fall im Gesetzbuch, schon eine staatstragende und auch identitätsstiftende Funktion. Wir müssen aufpassen, dass wir solche Wörter dann verändern, weil sich da der veränderte Zeitgeist zeigt. Aber ich würde jetzt deswegen nicht Juristen verurteilen, wenn ihnen dieser Ausdruck im Alltag nicht auffällt. Dafür gibt es eine öffentliche Debatte. Als Linguist sage ich, jeder Streit über Sprache ist ein guter Streit, weil wir uns dann über gesetzliche Gerechtigkeitsvorstellungen austauschen.
Verständlichkeit vs. Präzision
Kassel: Aber wenn über die Sprache von juristischen Texten, unter anderem Gesetze – es gibt ja auch andere –, gestritten wird, dann ist es ja in der Vergangenheit oft um etwas ganz anderes gegangen: Nämlich dass diese Texte oft sehr kompliziert sind und so formuliert, dass Laien sie einfach nicht verstehen können.
Wenn ich jetzt gerade darüber nachdenke, dass man Begriffe, die man heutzutage in Texten nicht mehr haben möchte, ja in fast allen Texten ersetzen muss - es wird nur sehr selten möglich sein, sie ersatzlos zu streichen. Dann muss man sich wieder neue Formulierungen, die möglichst eindeutig sind, ausdenken. Könnte das nicht dazu führen, dass das fast ein Widerspruch ist gegenüber diesem Versuch, das alles auch verständlicher zu machen?
Felder: Das ist in der Tat ein Interessenskonflikt: Verstehbarkeit und Präzision. Wir müssen kurz überlegen, für wen sind die Gesetze gemacht. Das ist natürlich im Prinzip sehr schwierig für den Staatsbürger. Dennoch schaut er selten hinein in die Gesetzbücher. Es ist, glaube ich, ja auch jedem Staatsbürger eher anzuraten, sich irgendwo juristischen Beistand zu suchen, als selbst über eine Auslegung von Gesetzesartikeln für sein Recht zu streiten.
Nehmen Sie aber so ein Wort wie "grober Unfug", das war früher im Ordnungswidrigkeitsgesetz. Dagegen haben wir wahrscheinlich alle schon mal verstoßen. Das heißt heute "Handlung, die die Allgemeinheit belästigt oder gefährdet". Sie sehen, da gibt es einen Unterschied. Oder das Bundesseuchengesetz heißt heute Infektionsschutzgesetz, passt gut zur aktuellen Corona-Debatte. Früher sprach man von Abfallgesetzen, jetzt von Bodenschutzgesetzen. All dies sind leichte, moderate Versuche, die gesellschaftlichen Wertewandel in der Sprache abzubilden und dort Spuren zu hinterlassen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.