Bevor die Töne verschwinden
Die Phonetische Sammlung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Die historischen Aufnahmen leiden allerdings an den miserablen Lagerbedingungen, der Verlust droht.
Das ist Wangerooger Friesisch, eine verzerrt-klirrende Aufnahme aus dem Jahr 1924. Ein verschwundener Dialekt, den die Menschen bis in die 1930er-Jahre auf der Nordseeinsel Wangerooge so gesprochen haben sollen.
Ein echtes Unikat und eine von etwa 12.000 Aufnahmen der Phonetischen Sammlung des Seminars für Sprechwissenschaft und Phonetik der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg. Darunter auch Original-Reden von Kaiser Wilhelm II:
"Darum auf! zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande." (Wilhelm II. am 06.08.1914)
1914 – zum Kriegsbeginn - hat der letzte deutsche Monarch diese Ansprache gehalten:
"Um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens. Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Ross.“
Aber auch Reden von Romanciers wie zum Beispiel Gerhart Hauptmann:
"Man kann an die Zukunft der deutschen Literatur nicht denken, ohne an Deutschlands Zukunft zu denken." (Gerhard Hauptmann am 13.11.1937)
…oder Thomas Mann sind in Halle zu finden:
"Einen Wunsch an die Menschheit, da heißt es konzentriert und in großen Wünschen, lehnen wir uns zusammen: Klugheit…"
Auch jene Wahlaufforderung von Gustav Stresemann, der 1928 für die Deutschen Volkspartei zur Reichstagswahl antritt:
"Seit das deutsche Volk sich selbst regieren muss, ist die Ausübung des Wahlrechts eine große vaterländische Pflicht geworden. Wer nicht wählt, unterstützt den politischen Gegner…"
Aufgenommen wurden die frühen und seltenen Tondokumente mit einem Edison Phonographen. Da in den 1920er-Jahren Wahlwerbung aber verboten war, wurden die Ansprachen führender Parteipolitiker den Bürgern vor Ort, auf Marktplätzen - mittels Lautsprecherwagen – zu Gehör gebracht.
"Gewiss befriedigt die Politik heute Niemanden. Man darf aber auch nicht vergessen…"(Gustav Stresemann)
Verrauschte Klänge aus der Vergangenheit
Der Edison Phonograph ist eine Art Trichter-Grammophon, mit dem man mittels einer handtellergroßen Wachswalze den Schall aufnehmen bzw. abspielen konnte, erklärt Archiv-Betreuer Peter Müller. Er ist der Herrscher über verrauschte Klänge aus der Vergangenheit, die im Hallenser Schallarchiv schlummern:
"Die Funktionsweise ist eigentlich ganz einfach. Es werden zylindrische Wachswalzen verwendet. Durch einen waagerechten Stift wurde die Information eingraviert oder bei der Wiedergabe wurde die Information herausgelesen, aus den Rillen der Wachswalzen.“
Die sehen aus, wie kleine schokoladenfarbene Röhren. Und lagern ungeschützt, zu Dutzenden, in einem Abstellraum im Hallenser Schallarchiv.
Das wurde 1910 von dem damals in Halle tätigen Phonetiker Otto Bremer ins Leben gerufen, dem Sohn eines Stralsunder Buchhändlers. 1888 habilitierte er an der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg, wie die Martin Luther Universität damals noch hieß, mit einer Einleitung zur amringisch-föhringischen Sprachlehre.
Bremer hat sich damit, erzählt Institutsdirektor Baldur Neuber, einen Namen als Mundart – bzw. Dialektforscher gemacht:
"Er hatte an sich das ehrgeizige Ziel gehabt, sowas wie die deutsche Bibliothek, als Schallarchiv aufzubauen. Die Idee war tatsächlich, aussterbende Dialekte, seltene Stimmen – es gibt hier Kastratenstimmen, die hier aufgenommen wurden - berühmte Persönlichkeiten, berühmte Sänger, unterschiedlich interessante Äußerungen, einschließlich Gesang aufzunehmen, um die dann später zu archivieren, um sie dann für die wissenschaftliche Nutzung zur Verfügung zu haben."
Otto Bremer ging es um eine Dialektkarte des deutschen Sprachgebiets, die es zum damaligen Zeitpunkt nur in Schriftform gab, also um eine Audio-Datenbank, wie man heute sagen würde. Um die verschiedenen Sprachfärbungen und Mundarten des Deutschen, mal ganz praktisch am gesprochenen Beispiel vergleichen und analysieren zu können.
Neuber: "Das war die große Idee des Schallarchivs."
Der Vorläufer des Plattenspielers
Der 1862 geborene Otto Bremer war der erste Phonetiker überhaupt, der mit einem Edison-Phonographen gearbeitet hat, um Sprachaufnahmen zu machen. Mit einemkastenförmigen Ungetüm mit riesigem Trichter. Eine Erfindung von Thomas Alva Edison. Und basiert auf der Erkenntnis, dass eine Membran durch Schallwellen zu vibrieren beginnt. Befestigt man noch eine Nadel daran, kann man damit Tonspuren aufnehmen.
Damit ist der Edison-Phonograph sowas wie der Vorläufer des Plattenspielers, die Wachswalze der Vorläufer der Schallplatte. Eine Weltneuheit, die für Bremer genau das richtige Werkzeug für seine sprechwissenschaftlichen Forschungen war. Konnte er doch damit zu den Leuten reisen, um erstmals Dialekte oder Mundarten aufzunehmen.
"Ja. Genau so…"
… muss es gewesen sein, sagt André Hüttner. Student an der Uni Halle. Derzeit schreibt er eine Master-Arbeit zur Wirkungsgeschichte Otto Bremers:
"Der hat alles in Kisten gepackt, und ist dann, so schwer es damals auch war, bis hoch an die Küste und quer durch Deutschland gereist. Mit diesem ganzen Gepäck."
Aber nicht nur Fremde, auch engste Freunde oder Verwandte, wie zum Beispiel seine Tochter waren Opfer seiner Leidenschaft für Dialekte und Mundarten. Was aber nicht immer gut ankam, wie André Hüttner zu berichten weiß:
"Es gab wohl auch Momente, wo ihm mal eine Maulschelle angeboten wurde, weil er so auf Tuchfühlung ging mit den Leuten. In manchen Kartons der Wachswalzen liegen auch noch Zettel und Mitschriften. Und diese Zettel sind meistens von Hotels, irgendwelche A 4 Blätter von Hotels bzw. der Briefkopf von Hotels ist noch mit drauf. Das heißt wohl, er hat mit seinen Gerätschaften in irgendwelchen Hotels gesessen und hat die Leute eingeladen, und da aufgenommen.“
Obwohl Otto Bremer zur Entwicklung der Dialektologie und Phonetik Grundlagenforschung betrieb, ist er in der Wissenschaft so gut wie unbekannt. Spätfolgen des Nationalsozialismus. Denn die Nazis haben ihm wegen seiner jüdischen Herkunft 1935 die Lehr-Erlaubnis entzogen, ihn von der Uni verjagt; genau wie es andernorts beispielsweise auch der Physiker Albert Einstein oder Psychoanalytiker Erich Fromm erleben mussten. Mit dem Unterschied, dass der Name Bremer in der Wissenschaft bis heute so gut wie ausgelöscht ist.
Flüchtiges haltbar machen
Kaum etwas erinnert an Otto Bremer, nicht mal das Hallenser Schallarchiv trägt seinen Namen. Obwohl der Phonetiker ein bis heute einzigartiges – aus vielen Unikaten bestehendes - Schallarchiv ins Leben gerufen hat.
Hüttner: "Für mich ist begeisternd, das Haltbarmachen des Flüchtigen. Und auf der anderen Seite ist es ein Abbild unserer menschlichen Kultur, dass sehr viel sagt über unser Denken, unsere Emotionalität, über unser Fühlen."
Erst dieser Tage beginnt man sich in der Martin-Luther-Universität Halle seiner vertriebenen Wissenschaftler zu besinnen. Kürzlich hat der Hallenser Germanist Hans Joachim Solms bei einer in Salzgitter lebenden Enkelin, einen Nachlass Bremers entdeckt. Bestehend aus amtlichen Dokumenten, persönlichen Erinnerungsstücken, wie Briefen und einigen vergilbten schwarz-weiß Fotos. Auf denen ist ein junger Mann mit einem melancholisch-schattigen Blick zu sehen, mit dem damals üblichen weitschweifenden Kaiser Wilhelm-Schnurrbart und Nickelbrille.
Aufnahmen aus allen Bereichen der Sprechwissenschaft
Nach dem Tod Bremers, der 1936 in Halle verstorben ist, wurde das Archiv – unbeachtet von der großen universitären Öffentlichkeit – weitergeführt. Eine Audio-Sammlung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Aufnahmen aus allen Bereichen der Sprechwissenschaft, also aus der Phonetik, Rhetorik, dem Bereich der Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen zu sammeln. Darunter echte Raritäten. Wie die Reportage vom Großen Preis von Deutschland auf dem Nürburgring aus dem Jahr 1935. Ein Autorennen, das nach Experten-Meinung als eines der Spannendsten in die Geschichte einging.
Reporter: "…dröhnt das Motorengeräusch zu uns herauf, da braust Caracciola heran! Er geht durch die Kurve, er nähert sich immer mehr, jetzt ist er heran …"
Der Protagonist des Rennens ist Rudolf Caracciola, ein Name bei dem Kenner heute noch mit der Zunge schnalzen. Er war der berühmteste deutsche Renn-Fahrer der Vorkriegszeit und stellte zwischen 1930 und 1939 diverse Weltrekorde auf.
Reporter: "Nun wollen wir mal sehen, wie groß der Abstand ist. Jetzt ist Caracciola in das Karussell hinein gegangen, gleich mus er wieder heraus kommen, aha, da ist er schon. Jetzt fährt er in die Große Kurve, da kommt Fagioli …“
Eine Aufnahme die mit einem Edison-Phonographen aufgenommen, auf einer Wachswalze gespeichert wurde. Viele der Wachswalzen stehen nun in einem profanen Blechspind in einem muffigen Raum einer neoklassizistischen Gründerzeitvilla, mit Türmchen, Erker und Spitzdach. Das ganze befindet sich im Giebichenstein-Viertel im Norden Halles, dass ein bisschen an Heidelberg erinnert.
Schutzmaßnahmen sind in dem Schallarchiv allerdings so gut wie nicht vorhanden, stattdessen sind die kostbaren Ton-Walzen Hitze, Feuchtigkeit oder Staub ausgesetzt. Lagern in einem muffigen Abstellraum, zugestellt mit altem DDR-Mobiliar.
"Viele sind auch schon, oder besser einige, sag ich mal, sind schon kaputt gegangen. Oder einfach abhandengekommen.“
Gesteht Archivmitarbeiter Peter Müller, während er die Walzen mit bloßen Händen aus dem Schrank nimmt.
Dabei kann es auch schon mal passieren, dass er mit den Fingern – wenn auch unbeabsichtigt - über die Rillen fährt. Martin Körber von der Kinemathek Berlin, Professor an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft, ein international ausgewiesener Experte in Sachen Archivierung bzw. Restaurierung von audiovisuellem und fotografischem Kulturgut, glaubt nicht recht zu hören. Er schüttelt mit dem Kopf. "Bad archiving" nennt er es, was in Halle mit der Phonetischen Sammlung passiert:
"Wenn es so ist, dass einfach Walzen geklaut werden oder man einfach ohne Handschuhe darauf rumtapsen darf, dann ist das schon sehr problematisch. Weil, das schadet der Sammlung."
Fehlende fachmännische Betreuung
Normale Lagerbedingungen haben wir fast nie gehabt, unterstreicht Institutsdirektor Baldur Neuber. Der darüber absolut unglücklich ist. Auch dass man nicht mal einen ausgewiesenen und ausgebildeten Archivar habe, der die Phonetische Sammlung fachgemäß betreuen würde:
Neuber: "Normale Bedingungen wären sicherlich normale Raumtemperaturen. Nicht zu feucht, nicht zu trocken, normale Luftfeuchtigkeit. Diese Bedingungen haben wir nie gehabt. Dieses Schallarchiv ist zwangsläufig mit Umzügen der Universität an verschiedenste Orte gezogen. Ne zeitlang lagen mal Dinge im Keller, ne Zeit lang waren sie in einem ganz anderen Gebäude. Immer mehr oder weniger notdürftig untergebracht. Das heißt über ideale Bedingungen können wir nur träumen. Und das hat diesen Dingen mit Sicherheit nicht gutgetan. Man versucht, die nach Möglichkeit erst gar nicht auszupacken und jetzt einfach mal so aufzulegen. Sondern wenn, dann einmalig. Um das Signal zu übertragen und zu digitalisieren."
Bis jetzt ist das allerdings gerade mal bei 10-15 Prozent des Bestandes passiert. Auch weil die entsprechenden Abspielgeräte fehlen, lediglich einige museale Schätze sind in einer Glasvitrine in den Räumen des Archivs für Besucher ausgestellt. Darunter ein Phonograph Baujahr 1905 und ein verstaubtes Magnettonbandgerät aus DDR-Zeiten.
Martin Körber schreckt hoch, appelliert dringend, von solchen Gerätschaften nur ja die Hände zu lassen, wenn es um die Archivierung und Digitalisierung solcher kostbaren Unikate geht, wie sie im Hallenser Schallarchiv lagern:
"Natürlich wird sich nicht jeder den ganzen Gerätepark hinlegen, nicht jeder möchte einen spielfähigen Edison-Phonographen haben . Und man sollte den auch nicht von 1888 nehmen, sondern möglichst einen Neugebauten. Es gibt ja moderne Phonographen die die Walzen gut abspielen und viel schonender als die alten. Und dann muss man auch die richtigen Nadeln haben, die eben die richtige Tiefe haben, die nicht zu breit und nicht abgewetzt sind usw. Aber alles das sind keine unlösbaren Aufgaben, weil, es handelt sich um mechanische Tonträger – im Fall der Walzen und Schallplatten. Und um magnetische Tonträger im Fall der Tonbänder, die ja zu dem was heute gebräuchlich ist, vergleichsweise einfach zu handhaben sind. Also meistens kann ich den Dingern noch ansehen, was sie denn sind. Und sie sind nicht nur rätselhafte Festplatten auf dem irgendetwas drauf ist, da kann man sich schon Hilfe holen."
Eine Adresse, die Martin Körber nennt: das Phonogramm-Archiv in Wien. Hier könne man für kleines Geld einen hervorragenden Phonographen erwerben, wie Körber unterstreicht. Ein Gerät, das auch für das Schallarchiv Halle bestens geeignet sei:
"Den haben eigentlich alle Schallarchive, die Phongraphen zum Überspielen brauchen. Da gab es eine kleine Serie. Und es ist ja ein elektromechanisches Gerät, da brauch ich nur jemanden der ein bisschen Ahnung von Metallbearbeitung hat und einen Elektromechaniker, dann kann ich sowas bauen. Das ist kein Hexenwerk, und die Baupläne sind wahrscheinlich auch zugänglich.“
Miserable Lagerbedingungen
Vieles was im Hallenser Schall-Archiv lagert, wurde, seitdem es Anfang des 20. Jahrhunderts – also zu Zeiten des Kaisers und der Weimarer Republik – noch aufgenommen wurde, nie wieder gehört. Damit weiß auch niemand, bedingt durch die milde gesagt, miserablen Lagerbedingungen, ob heute auf allen Wachswalzen überhaupt noch was zu hören ist. Im Klartext bedeutet das: In Halle steht ein weltweit einzigartiges Archiv vor dem Verfall.
Institutsdirektor Baldur Neuber, ein kleiner Mann, nickt nachdenklich mit dem Kopf.
"Bisher ist es uns offenbar nicht gelungen, die Sammlung mal angemessen aufzubereiten. Auch für die Öffentlichkeit gut sichtbar zu machen. Das ist dann vielleicht schon das Desaster. Das wäre eigentlich dringend erforderlich. Da hat man offenbar keinerlei Geld und keinerlei Möglichkeiten, es so aufzubereiten wie man es müsste."
Gemeint ist die Universität Halle-Wittenberg. Nach Schätzung Neubers, geht es um etwa 600-800.000 Euro die für die Digitalisierung und den Erhalt des Audioarchivs nötig seien. Geld, dass man nicht hat oder einfach nicht bereit ist, auszugeben.
Für Martin Körber von der Berliner Kinemathek völlig unverständlich. Erstmal sei es für ein Kulturgut diesen Ausmaßes Peanuts, wie er sagt. Zweitens gäbe es die Möglichkeit, Kooperationen mit Partnerorganisationen einzugehen. Und nennt die IASA, die Internationale Assoziation der ton- und audiovisuellen Archive, die seiner Meinung nach eine ausgesprochene Expertise in diesen Dingen habe, sei der perfekte Ansprechpartner, und könne dem Hallenser Schallarchiv sicherlich unter die Arme greifen. Ein Anruf genüge, ergänzt er noch leicht augenzwinkernd:
"Die große Schwierigkeit aller Archivare ist immer die, Geld zu finden. Denn Geld haben wir alle zu wenig. Man hat nie genug Geld, um alles zu machen, was man machen will. Sondern man muss immer Priorisierungen vornehmen und man muss in der Außenwelt Partner finden, die an dem Material was man hat, Interesse finden können, dass soweit geht, dass sie in die Taschen greifen. Das ist eine Managementaufgabe, die wird keinem Archivar auf der Archivarschule unbedingt beigebracht, auch nicht in die Wiege gelegt. Meiner Ansicht nach gehört zu einem Archivar auch das Gegenteil: Nämlich nach draußen gehen, Bestände vermitteln, der Außenwelt vermitteln, was an dem Archiv wichtig ist."
Am wenigsten Probleme machen die Schellackplatten. Anders sehe es allerdings bei den - heute längst vergessenen Decilith-Schall-Folien, den elastischen Schallplatten aus, betont Archiv-Verwalter Peter Müller:
"Das Material hieß Decilith. Die sind wiederum auch nicht so haltbar, wie die Schelllackplatten. Das Material wird dann auch spröde, reißt. Nach den Walzen, Mitte Ende der 20er Jahre, begann die Zeit der Folien. Wurde dann auch noch die ganzen 30er und 40er Jahre genutzt, bis es dann die Studiobänder gab."
Deren Zustand ebenso kritisch ist, da das Bandmaterial durch die schlechten Lagerbedingungen über die Jahrzehnte rissig und spröde wurde. Beim Überspielen kann es passieren, dass die Bänder reißen und geklebt werden müssen. In mehreren Holzregalen lagern sie zu Hunderten, in den für sie typischen orangenen quadratischen Papp-Hüllen. Digitalisiert ist nur ein Bruchteil.
In das Gesicht des Institutsdirektor Baldur Neuber graben sich tiefe Furchen. Dabei habe man hier so etwas wunderbares vorliegen, murmelt er noch:
"Gesprochene Sprache hat ja viel mehr Information, als nur den Inhalt. Die Stimme sagt sehr viel über den Zustand des Menschen aus, sie sagt sehr viel über die Herkunft des Menschen aus. Der Dialekt ist wie eine Visitenkarte, ich gehöre dazu, ich gehöre nicht dazu. Das ist doch alles sehr spannend, nicht wahr?!"
Lieblingsaufnahme von 1920
Die Lieblingsaufnahmen des Institutsdirektors stammen vom Schauspieler Alexander Moissi. Er galt in den 1920er Jahren als der beste Theater-Schauspieler seiner Generation und spielte an fast allen grossen Bühnen, unter anderem 1922 bei den Salzburger Festspielen die Titelrolle in der Uraufführung von Hofmannsthals "Jedermann".
Hier die Aufnahme einer Lesung des Märchens "Die Prinzessin auf der Erbse" von Hans Christian Andersen.
Moissi: "Es war einmal Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten. Aber es sollte eine richtige Prinzessin sein. Er reiste…"
Neuber: "Insgesamt sind die Aufnahmen für das heutige Ohr höchst interessant. Klingt für uns sehr überzogen, sehr dramatisierend. Er hat teilweise, wenn da Wind vorkam, Windgeräusche mit dem Mund gemacht. Hat Stimmen verstellt, ist in die Kopfstimme gegangen, in die höchsten Töne. Das ist das Besondere an Moissi."
Moissi: "So kam er dann wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er hätte doch …"
Aufnahmen die zeigen, mit welchem, wir würden heute sagen, pathetischem Sprechstil, Schauspieler damals aufgetreten sind. Eine sprechstilistische Übertreibung, die für die 20er-Jahre völlig üblich war, der Zeit entsprach. Auch wenn unsereins darüber heute schmunzelt.
Moissi: "Es war geradezu entsetzt. (klopft) Da klopfte es an das Stadttor und der alte …"
Seltene Aufnahmen von Alexander Moissi, die so nur im Hallenser Schallarchiv zu finden sind. Doch sie zerfallen nach Ansicht von Experten, wenn man nicht schnellstens etwas unternimmt. Die Zeit drängt, gesteht Institutschef Baldur Neuber. Da sonst die Phonetische Sammlung des Seminars für Sprechwissenschaft und Phonetik der Uni Halle, dass auch ein Museum für die Ohren ist, für immer verloren geht.