"Sprayer von Zürich" wird 80

"Meine Kunst ist die Utopie"

11:31 Minuten
Ein Mann mit Hut steht vor einem Strichmännchchen an einer grauen Wand.
Harald Naegeli zeigt, wie er einst an der Universität Zürich ein Graffiti gezeichnet hat. © picture alliance/KEYSTONE
Harald Naegeli im Gespräch mit Timo Grampes |
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Vor über 40 Jahren sprühte er die ersten Graffitis an die Hauswände von Zürich – und wurde dafür mit internationalem Haftbefehl gesucht. Das Sprayen habe aus ihm einen glücklichen Menschen gemacht, sagt Harald Naegeli zu seinem 80. Geburtstag.
Er hat die Zeichnung in den öffentlichen Raum getragen und wurde erst vor wenigen Monaten wieder einmal zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er einen Flamingo an Düsseldorfer Hauswände gesprayt hat: Harald Naegeli, "der Sprayer von Zürich", ist am 4. Dezember 80 Jahre alt geworden.
Ende der 70er-Jahre ging es los. Ein "alter Herr von 38 Jahren" sei er damals gewesen, erzählt Naegeli heute. Die Leute seien verwundert vor seinen Figuren stehen geblieben: "Es ist ja nicht nur eine neue Ästhetik, sondern es war damals, und ist auch heute noch teilweise, eine Art Politik oder ein politisches Manifest", sagt Naegeli. "Meine Kunst ist die Utopie."
Ein Mann vor einem Kunstwerk.
Harald Naegeli in Zürich, aufgenommen im August 2003.© picture alliance / Keystone / Gaetan Bally
Mit den Graffitis habe er das Erbe der alten Felsenzeichnungen und der Höhlenmalerei angetreten, sagt Naegeli. Es waren schnell ausgeführte Zeichen und Zeichnungen: "Es war eine Manifestation der Linie."
Die Medien bezeichneten ihn zu der Zeit als "Phantom". Er habe eine ungeheure Aufmerksamkeit genossen, sei aber als Person nicht fassbar gewesen, erinnert sich Naegeli.

Die Polizei ist Teil des Spiels

Zuvor sei er ein Künstler gewesen, der gut zeichnen konnte: "Aber ich war unzufrieden mit der Gesellschaft und mit mir selbst", erzählt Naegeli. "Kaum hatte ich mit den Sprayarbeiten begonnen, war ich ein sehr glücklicher, sehr mit mir selbst zufriedener Mensch, der seinen Protest oder seine Utopie mithilfe der öffentlichen politischen Kunst formulieren konnte."
Der Akt des politischen Widerstands ist ihm dabei sehr wichtig: "Wenn mich die Polizei nicht mit internationalem Haftbefehl gesucht hätte, würden Sie mich gar nicht anrufen." Der Staat arbeite als Gegenspieler im öffentlichen Raum immer an der Entstehung der Kunst mit. Im Kapitalismus könnten Graffitis nur als Sachbeschädigung gelten.
Ein Flamingo des Graffiti-Künstlers Harald Naegeli ist an einer leerstehenden Tankstelle zu sehen. 
Ein Flamingo des Graffiti-Künstlers Harald Naegeli.© dpa
Anfang der 80er-Jahre war Naegeli auf der Flucht. Er wurde wegen Sachbeschädigung mit internationalem Haftbefehl gesucht. "Joseph Beuys hat mir angeboten, bei ihm zu wohnen, mich sozusagen zu verstecken. Aber das war mir zu unheimlich, das wäre ja auch kein Leben gewesen", erzählt Naegeli.
Er stellte sich der Polizei, saß eine einmonatige Gefängnisstrafe in der Schweiz ab und zog danach nach Deutschland, weil er nicht in einem Land leben wollte, das einen Künstler per Haftbefehl verfolgte.

"Banksy könnte mein Sohn sein – oder mein Enkelkind"

In den heutigen Graffitis sieht Naegeli mehr Kommerz als Kunst. Die aktuelle Generation stehe in der Nachfolge der Pop-Art, male mit bunten Farben, Schablonen und in riesigen Dimensionen: "Das hat mit meinen Arbeiten und denen von Joseph Beuys kaum etwas zu tun."
Und was hält er von Banksy? "Der könnte mein Sohn sein – oder mein Enkelkind", sagt Naegeli. "Ich finde ihn großartig, weil er politisch so aktiv ist. Aber künstlerisch, formal ist es eigentlich eine konventionelle Äußerung. Aber das spielt keine Rolle." Wichtig sei, dass er so stark im öffentlichen Raum agiere.
Ein Mann arbeitet an einem Bild.
Harald Naegeli arbeitet in seiner Wohnung an seiner "Urwolke".© picture alliance/Federico Gambarini/dpa
Nach seiner Haftstrafe lebte Naegeli 35 Jahre in Düsseldorf. "Aber jetzt will ich wieder zurück nach Zürich, wo ich mein Leben abschließen möchte", sagt er. Weiter arbeiten wird er – auch an einer seiner wichtigsten Arbeiten: der "Urwolke". Die bestehe aus großen Zeichnungen, die mit kleinen Punkten und Strichen beginnen und einen utopischen Raum darstellen sollen. "Es entsteht ein Gefühl von Raum und Zeit und der Gegenstandslosigkeit und Leichtigkeit – all diese Dinge, die man mit der Utopie verbinden kann und die ein Glücksgefühl herstellen."
Es sei eine endlose Zeichnung, die er vor über 22 begonnen habe. Naegeli hofft, diese Urwolke einmal ausstellen zu können.
(sed)
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