Sprechstunde ohne Versicherung

Von Henning Hübert |
Eigentlich ist das Projekt "MalteserMigrantenMedizin" für illegal in Deutschland lebende Ausländer gedacht gewesen. Inzwischen sitzen im Warteraum der Malteser in Köln aber schon ein Viertel deutsche Patienten. Meist sind es in Not geratene Selbständige. Sie sind typischerweise aus ihrer Privaten Krankenversicherung geflogen - wegen Zahlungsrückständen und - weil über 55 - zu alt für die Aufnahme in der Gesetzlichen.
Weit über 200.000 dieser schutzlosen Patienten gibt es derzeit schätzungsweise. Ihnen soll einmal die Gesundheitsreform den Weg zurück in eine Krankenkasse ebnen, aber nicht vor 2008. Im Moment werden bei den Krankenkassen die Tarife für diese Problemfälle ausgerechnet, während die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung in Deutschland weiter ansteigt. Ihnen bieten ehrenamtlich arbeitende Mediziner unkompliziert Hilfe - in Köln jeden Donnerstag ab 10 Uhr.

Die "Praxis ohne Gebühr" liegt in einem Backstein-Anbau, in einem Nebengebäude des Sankt Hildegardis-Krankenhauses der Malteser in Köln-Lindenthal.

Rönsberg. "Die Krankenversicherung ist also absolut essentiell für jeden Menschen. Und die Patienten, die hierher kommen, sind sich auch dessen bewusst. Und leiten dann oft ihre Erzählungen damit ein ‚Ja, da hab ich Blödsinn gemacht’ oder ‚Das hätt’ ich mal besser nicht gemacht, so wie es gekommen is.’ Also die Krankenversicherung spielt hier in Deutschland glaube ich auch im Bewusstsein der Menschen eine ganz, ganz große Rolle."

Jutta Rönsberg zieht sich einmal in der Woche den weißen Arztkittel bei der Kölner MalteserMigrantenMedizin an. Ehrenamtlich, jeden Donnerstag, vier Stunden lang, wie zwei weitere Ärzte auch. Kurz blickt die pensionierte Allgemeinmedizinerin in den kleinen Warteraum - vier Migrantinnen, junge Frauen, so zwischen 20 und 40, aus Südamerika, Osteuropa und Afrika, ein älterer Deutscher.
Um halb zwölf ist der erste Schwung durch die nur mit dem nötigsten eingerichtete Praxis durch. Dann hat auch Herbert Breker, der leitende Arzt, Zeit für ein Interview.

In seinem Wartezimmer sitzen inzwischen schon etwa 30 Prozent Deutsche, Menschen ohne eigene Krankenversicherung. Sie haben von der anonym ablaufenden Sprechstunde erfahren, die eigentlich für hier illegal lebende Ausländer gegründet worden war. Die typischen Fälle unter den Deutschen sind laut Breker viele ältere Frauen über 55, nach einer Scheidung; Ordensleute ohne Versicherung, die nach ihrer Missionszeit nach Deutschland zurückkehren; Deutsche, die lange im Ausland lebten, dort meist gut verdienten, nach ihrer Rückkehr aber die Aufnahmeprüfungen der privaten Krankenversicherungen nicht mehr bestehen. Die meister seiner deutschen Patienten sind jedoch ehemalige Unternehmer.

Breker: "Der größte Teil sind Selbständige, die insolvent geworden sind. Ihre Beträge reichen nicht aus, um die Krankenkassen zu bezahlen. Das wird glaubwürdig versichert. Der Blumenhändler, der sagt ‚Mein Lieferwagen ist mir wichtiger als meine Krankenversicherung. Die schaff ich nicht mehr.’ Und nach zwei Monaten ohne Zahlungen wird einem der Versicherungsschutz gekündigt – ob gesetzlich oder privat."

So ging es auch Helmut Nickels. Der Mann besucht zum vierten Mal die Malteser-Sprechstunde, angereist ist er aus Overath im Bergischen Land, wo der 66-Jährige mit seiner Frau das ganze Jahr über auf einem Campingplatz lebt. Bei ihm steht eine dringende Unterleibsoperation an. Gerne sitzt er nicht in der Migranten-Sprechstunde.

Nickels: "Sie fühlen sich als Mensch zweiter Klasse ohnehin. Das ist ein sehr beklemmendes Gefühl. Und da wir ja auch nicht versichert sind und immer die Sorge haben – nachts geht ihnen das immer durch den Kopf. Da gehen sie dann nachts öfters spazieren und fragen sich: Wie soll das weitergehen? Das ist eigentlich sehr schlimm."

Den Versicherungsschutz seiner privaten Krankenversicherung verloren hat Helmut Nickels durch Pech im Job. Er war Betreiber einer großen Kantine. Täglich kamen einhundert Mann einer Spedition zu ihm zum Mittagessen. Als die Spedition Insolvenz meldet, war er schnell in Geldnot. Zwei Mal konnte er den Krankenversicherungsbeitrag für sich und seine Frau nicht bezahlen. Da waren sie draußen. Nach der eigenen Insolvenz kam ein neuer Job als Angestellter. Er sollte die Lösung bringen - eigentlich auch für den verloren gegangenen Krankenversicherungsschutz:

Nickels: "Wir haben Unterstützung bekommen. Haben dann wieder Arbeit gefunden. Wollten dann wieder in die Krankenkasse rein. Aber man hat uns nicht mehr genommen, weil wir das 57. Lebensjahr vollendet hatten. Ich war zuerst bei der AOK, dann haben wir mit der Barmer Ersatzkasse gesprochen und auch mit der Technikerkrankenkasse. Keine Möglichkeit."

Derlei hört der Mediziner Herbert Breker in jeder Sprechstunde. Leute, die sich als Gutverdiener bewusst die Versicherungsprämien gespart haben, kommen ihm viel seltener unter.

Breker: "Natürlich gibt es auch einzelne Fälle, wo das ohne Not passiert. Wo Menschen ihre Krankenversicherung nicht mehr bezahlen wollen, einfach weil ihr Konsumverhalten so ist, dass sie sagen, das Geld nehme ich für etwas anderes, ich sehe das nicht ein. Sie stellen dann eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Auch das gibt es, aber das ist nicht die Regel, das ist eher die Ausnahme."

Der Normalfall sind Menschen, die keine Kasse oder Versicherung mehr nimmt. Ein Missstand, der durch die Gesundheitsreform abgeschafft werden soll.

Breker: "Wenn sie über 55 Jahre alt sind. Sie müssen bei den gesetzlichen Kassen eine Vorversicherungszeit nachweisen, wenn sie sich freiwillig versichern wollen. Bei den privaten Kassen: Die haben ja ein risikokalkuliertes Prämiensystem, nach Gesundheitsprüfung und so weiter. Und ab, über 55 wird man kaum die Chance haben, in eine Private aufgenommen zu werden."

Eine Begründung für das Dilemma, das vor allem die 25 Prozent große Gruppe der freiwillig Versicherten trifft, liefert der Direktor des Verbands der Privaten Krankenversicherung PKV. Volker Leienbach arbeitet in einer Villa im Nobelviertel Köln-Marienburg, nahe am Rheinufer und kennt die Gesetzeslage.

Leienbach: "Wer als freiwillig Versicherter in der gesetzlichen oder er privaten Krankenversicherung ist und über einen gewissen Zeitraum keine Beiträge bezahlt, der verliert seinen Versicherungsschutz. Das sind zwei Monate."

Und unter den derzeitigen gesetzlichen Bestimmungen gebe es eben Fälle, bei denen eine Rückkehr unmöglich sei.

Leienbach: "Niemand kennt die genauen Zahlen. Die meisten gehen davon aus, dass es so um die 200.000 Menschen in Deutschland sein dürften. Das ist jeweils ein Einzelschicksal, 200.000 Mal, von daher sehr ernst zu nehmen. Aber gemessen an der Gesamtbevölkerung von 82 Millionen ist es im internationalen Vergleich außerordentlich wenig."

Allerdings sind andere Europäische Länder wie die Niederlande oder Spanien bei der Pflichtversicherung für alle schon weiter, in Spanien sogar inklusive der dort illegal lebenden Menschen. Die jetzt gefundene Neuregelung bei der anstehenden Gesundheitsreform bietet nun auch in Deutschland ab diesem Sommer ein Versicherungsrecht für alle, ab 2009 sogar eine Versicherungspflicht. Volker Leienbach von der privaten Krankenversicherung:

Leienbach: "Sie können jetzt ab 1.7.2007 in den so genannten Standardtarif gehen. Dort bekommen sie einen vollwertigen Schutz zu – wie es in der Vereinbarung heißt – bezahlbaren Preisen. Der Standardtarif wird grundsätzlich kalkuliert nach Eintrittsalter. Das heißt, wer jünger ist, zahlt weniger, wer älter ist, zahlt mehr. Der Höchstbeitrag ist der Betrag, den man maximal in der gesetzlichen Krankenkasse zahlen würde. Das sind heute zirka 500 Euro, vielleicht einen Tick mehr."

Im Fall der Bedürftigkeit sollen Beitragsreduktionen - in der Regel um die Hälfte - dafür sorgen, dass die Leute auch hineingehen in den monatlich zu entrichtenden Standardtarif. Damit kalkuliert auch Rentner Helmut Nickels. Denn sonst ist der neue Tarif für ihn und seine Frau einfach zu teuer, rechnet er vor:

Nickels: "Wenn das mit diesem Basisvertrag aus Trapez kommt, dann werden wir uns das nicht leisten können. Denn ich hab nur eine kleine Rente von 842 Euro. Meine Frau hat noch ein kleines Nebeneinkommen über 300 Euro. Aber da können wir keine 500 Euro von bezahlen. Also ich hoffe auf Verständnis der Bundesregierung, dass das Gesetz mit der Bürgerversicherung kommt, wir vielleicht einen Beitrag von 170 Euro zahlen. Das ist machbar, das ist tragbar, ja."

Ohne Versicherung geht es nicht mehr weiter – die Kosten für Ärzte und Krankenhausbesuche ruinieren das Ehepaar finanziell. Dabei haben sie schon extra vorgesorgt, sind aus Düsseldorf in ein Mobilheim auf dem Campingplatz im Bergischen Land gezogen. So sparen sie sich die Wohnungsmiete, zahlen monatlich nur 165 Euro Pacht für eine 220 Quadratmeter große Parzelle. Doch bei der Gesundheit noch weiter sparen?

Nickels: "Wegen Schnupfen oder Heiserkeit – nein, da gehen wir nicht zum Arzt. Meine Frau war im vergangnen Jahr im Dezember, am 20. genau, hatte sie einen Kreislaufzusammenbruch. Und musste mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus nach Bensberg. Diese Kosten mussten wir auch selbst tragen. Für den einen Tag haben sich die Kosten auf 1150 Euro belaufen. Die wir nur in Raten haben abzahlen können."

Theoretisch ein Streitfall, wenn man die eigene Mittellosigkeit bei der Aufnahme im Krankenhaus zugibt und nicht lieber den letzten Notgroschen zahlt - aus einem Gefühl der Peinlichkeit heraus. Notfallmedizin muss, eben im Notfall, auch umsonst geleistet werden. Deshalb macht der Malteser-Arzt Herbert Breker eine eigene Rechnung auf: Nichtversicherte kommen das Gesundheitssystem teurer zu stehen, als wenn sie versichert wären - und als dann Versicherte nicht mehr verspätet zum Arzt gehen oder gar erst lebensbedrohlich erkrankt mit Blaulicht eingeliefert werden zu teuren Operationen.

Breker: "Wir haben also hier auch Patienten gesehen, die einen Knochenbruch hatten und sieben, acht Tage später erst zum Arzt gingen, weil sie die Schmerzen nicht mehr aushalten konnten. Einfach aus Scham ‚Ich hab ja keine Krankenversicherung’. Dann natürlich auch viel aufwändiger behandelt werden mussten. Weil nach dieser Zeit, die verstrichen ist, die Knochenbruchstücke sich verschoben haben. Und was man früher hätte konservativ sofort machen können, musste dann operativ gemacht werden. Also das Nicht-Versichert-Sein ist wieder ein Risiko, schwerer krank zu werden. Ganz eindeutig, das ist unsere Erfahrung."

Die Sprechstunden bei der MalteserMigrantenMedizin gibt es nicht nur in Köln, sondern auch in Berlin und seit kurzem in München, Darmstadt und Frankfurt am Main. Weitere Städte sollen folgen, erzählt Angelika Haentjes-Börgers. Sie leitet bei dem christlichen Hilfswerk die Migrations-Abteilung. Die aktuellen Behandlungszahlen: 6000 Patienten haben die Mediziner schon umsonst geholfen und zu 400 Geburten verholfen. Die Auslöser zur Gründung:

Haentjes-Börgers: "Also ursprünglich war es eigentlich gedacht für die Menschen, die bei uns in der Illegalität leben. 2001 kam Kardinal Sterzinsky, der Erzbischof von Berlin, auf die Malteser zu und sagte, ich habe hier viele Menschen, die hier illegal sich aufhalten und die haben einfach ein großes Problem, wenn sie wirklich schwer erkrankt sind, oder eben wenn die Frauen schwanger sind. Und das war eigentlich der ursprüngliche Grund, warum die MalteserMigrantenMedizin gegründet wurde. Die deutschen Patienten sind in den letzten zwei, drei Jahren dann vermehrt zu uns gekommen."

Die Probleme mit den deutschen Nicht-Versicherten werden sich legen, glaubt die Malteserin. Aber sie blickt auch auf die illegal in Deutschland Lebenden ohne Krankenversicherungsschutz – ihre Zahl schätzt sie allein in der Stadt Köln inzwischen auf 20.000 bis 30.000.

Haentjes-Börgers: "Wir haben als Malteser jetzt jahrelang auf das Problem der unversicherten Deutschen aufmerksam gemacht. Weiter kommen werden natürlich die Menschen, die in der Illegalität leben. Denn die sind gar nicht erwähnt in der Gesundheitsreform. Und die dritte große Gruppe, nämlich EU-Bürger, die zum Teil legal sich in Deutschland aufhalten, aber in ihrem Heimatland nicht versichert sind, die sind auch nicht erwähnt. Zumindest habe ich darüber noch nichts gelesen. Das wird dann auch weiterhin eine Gruppe bleiben, die zur Malteser Migranten Medizin kommen muss."

Für Volker Leienbach vom Verband der Privaten Krankenversicherung waren die Verhandlungen über die Aufnahme der ungeliebten nicht versicherten Deutschen schon bitter genug. Ihn ärgert zum einen, dass die heute schon Privatversicherten draufzahlen sollen bei deren Eingliederung – indem sie als Versichertengemeinschaft die Differenz zwischen den im Preis festgelegten neuen Standard- und Basistarifen zu den tatsächlichen Kosten zahlen. Und er blickt voller Zweifel über das Jahr 2009 hinaus. Zwar kommt dann erstmals die Versicherungspflicht für alle, auch für die geschätzt über 200.00 heute Nichtversicherten, doch entdeckt er in der Vereinbarung noch keine Lösung, damit das Problem danach nicht wieder von vorne losgeht:

Leienbach: "Was dann passiert, wenn die dann wieder aufgenommen ehemals Nichtversicherten ihre Beiträge wiederum nicht zahlen oder nicht zahlen können – das gilt es durch den Gesetzgeber noch auszuformulieren."

Rentner Helmut Nickels aus Overath wartet auf die Abstimmungen über die Gesundheitsreform in Bundestag und Bundesrat. Bis sie in Kraft tritt, wird er schon operiert sein. Umsonst, dank der Vermittlung der MalteserMigrantenMedizin. Nach seinen Erfahrungen in den letzten Jahren ist ihm klar: Er tritt schnellstmöglich ein in eine Krankenversicherung, sobald es ihm erlaubt ist. Am besten schon zum 1. Juli, und dann für immer.

Nickels: "Ja also wir hoffen jetzt mit der neuen Gesundheitsreform, dass auch wir und so auch alle andern, die nicht versichert sind, die sich auch die Krankenkasse nicht erlauben können, dass dort eine Lösung gefunden wird, zum Beispiel über die Bürgerversicherung, dass man tatsächlich mal wieder ruhig schlafen kann, falls mal was passiert, dass man krankenversichert, dass man versorgt ist."